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Versprechen lohnt sich nicht

 

 

Hauptkommissar Torsten Seegers hatte gute Laune. Seit mehreren Wochen hatte es im gesamten Bezirk Südharz keinen Mordfall gegeben, nicht einmal einen ungewöhnlicher Unfall oder einen Verdacht auf Totschlag. Es war sozusagen tote Hose. Gerade, als er mit seinem Kollegen, Kommissar Manfred Berthold, darüber scherzen wollte, klingelte das Telefon.

 

Er meldete sich pflichtbewusst. Eine Leiche wurde gefunden, in Bad Lauterberg, einem hübschen kleinen Kurort. So hübsch es da auch war: Das konnte dem Toten egal sein. Er wohnte zur Zeit in einem kleinen Hotel in einer Nebenstraße der Ortsmitte.

 

Seegers und Berthold machten sich mit Jörg Hohmann, dem Rechtsmediziner auf den Weg von Osterode nach Bad Lauterberg. Weit war es nicht, beide Orte liegen nur wenige Kilometer von einander entfernt. „Es handelt sich um einen 60-jährigen Mann. Er heißt Norbert Lüdecke. Mehr wissen wir noch nicht“, berichtete Seegers seinen Kollegen.

 

Das Hotel „Harzblick“ hatte die besten Jahren hinter sich, von der Fassade fiel der Putz herab. „Nicht gerade ein Luxusquartier“, stellte Berthold fest, als die Männer davor standen. Die anderen lachten. Seegers ergänzte: „Und einen Blick auf dem Harz kann ich auch nicht gerade feststellen.“

 

Sie betraten das Hotel. Sogleich wurde sie von einer älteren Frau im Rentenalter begrüßt. Sie hatte die Polizisten wohl schon erwartet. „Das ist hier in all den Jahren noch nie passiert. Wir sind ein seriöses Haus, seit vierzig Jahren gibt es das Hotel. Mein Name ist Wolters. Kommen Sie bitte mit!“

 

Gemeinsam gingen sie in den ersten Stock. Das Zimmer 103 lag gleich rechts neben dem Treppenaufgang. Frau Wolters schloss den Raum auf. In dem klapprigen Bett lag der Tote: Bekleidet mit Strapsen, an Händen und Füßen gefesselt und mit einem Knebel im Mund. Auf dem Fußboden des Zimmers lagen zwei leere Pizzaschachteln.

 

„Ich habe den Herrn heute morgen gefunden, als ich sauber machen wollte“, erklärte die Frau. Das Entsetzen und der Ekel standen ihr noch im Gesicht geschrieben. Sie ergänzte: „Wenn ich das vorher gewusst hätte. Dabei hatte der Mann bei der Anmeldung doch einen so seriösen Eindruck gemacht. Ich hatte mich nur gewundert, dass jemand, der aus Osterode kommt, in Bad Lauterberg ein Zimmer nimmt. Nun, zur Erholung war das wohl nicht.“

 

Die Herren mussten sich ziemlich zusammenreißen, um nicht zu lachen. Das Ganze war ziemlich skurril. „Was die Todesursache war, kann ich erst bei der Obduktion feststellen. Die Kollegen nehmen die Leiche nachher mit“, bemerkte der Rechtsmediziner. „Und wer zahlt mir das Zimmer?“, wollte Frau Wolters wissen. „Da wird sich schon jemand darum kümmern, gute Frau. Machen Sie sich darum keine Sorgen“, antwortete Seegers.

 

Auf der Heimfahrt sagte der Hauptkommissar: „Jörg, wir setzen dich gleich im Präsidium ab. Manfred und ich fahren zu dem Haus, wo der Tote gemeldet war. Es ist in der Tiersiedlung, Igelweg 12. Die Adresse hat mir Frau Wolters eben gegeben. Das ist immer etwas, was ich äußerst ungern mache: Todesnachrichten überbringen.“ „Wissen wir denn schon, ob er verheiratet war?“, wollte Berthold wissen, der am Steuer des Wagens saß. Seegers nahm sein Smartphone zur Hand und tippte etwas ein. Denn antwortete er: „Also im Meldeverzeichnis steht, dass da noch eine Emma Lüdecke wohnt, 86 Jahre alt. Das wird wohl eher seine Mutter, als seine Ehefrau sein!“

 

Der Igelweg war eine steile Bergstraße mit einer Bebauung von kleinen Ein- oder Zweifamilienhäusern aus den 50er und 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Vor dem Haus mit der Nummer 12 stellte Berthold den Wagen ab, wobei er mit dem rechten Hinterreifen leicht auf dem Bürgersteig stand.

 

Eine ältere Dame riss sofort ihr Fenster auf und keifte los: „So können Sie aber nicht stehen bleiben. Da kommt doch keiner durch! Fahren Sie weg, sonst hole ich die Polizei!“ Seegers kurbelte das Seitenfenster herunter und konnte sich nicht verkneifen, zu antworten: „Die ist schon hier. Sind Sie Frau Lüdecke?“ „Die bin ich. Wenn Sie zu meinem Sohn wollen, der ist nicht hier. Keine Ahnung, wo sich der Junge herumtreibt.“

 

Die beiden Kommissare stiegen aus. Das war natürlich kein guter Beginn für die Übermittlung einer Todesnachricht. Nachdem Seegers und Berthold ihre Dienstmarken vorgezeigt hatten und Seegers in knappen Worten erklärt hatte, was passiert war, äußerte sich Frau Lüdecke: „Das musste ja irgendwann passieren. Ich finde diese Sado-Maso-Spielchen von dem Jungen einfach nur furchtbar. Das hätte es zu meiner Zeit nicht gegeben.“ Sie saßen im Wohnzimmer der Dame, das mit kitschigem Interieur überhäuft war. Vor lauter Seidenkissen auf dem Sofa war kaum noch Platz zum Sitzen.

 

„Hatte Ihr Sohn eine feste Partnerin?“, fragte der Hauptkommissar. Die Frage nach einem möglichen Partner ersparte sich Seegers. Das hätte die alte Dame noch mehr aufgeregt. „Natürlich nicht. Den wollte ja keine. In diese Clubs, in der immer wieder ging, findet man ja auch keine Frau zum Leben. Er hat mir hoch und heilig versprochen, dass er das sein lässt. Hier im Hause habe ich ihm das ausdrücklich verboten. Aber der Junge ist seltsam. Das war er schon immer. Ich könnte Ihnen da Sachen erzählen!“

 

Seegers und Berthold hatten keine Lust, sich das anzuhören. Stattdessen fragte der Hauptkommissar: „Dürfen wir mal das Zimmer Ihres Sohnes sehen?“ „Selbstverständlich. Das liegt im ersten Stock. Aber seien Sie nicht geschockt. Es sieht furchtbar aus. Ich räume da nie auf“, antwortete Frau Lüdecke und erhob sich.

 

Das Zimmer sah aus wie erwartet. An den Wänden hingen Fotos von Dominas, es lag diverses Sexspielzeug herum: Peitschen, Handschellen und Bondagebänder. Letztere hätten auch als Klebebänder für Pakete durchgehen können. Auf dem Schreibtisch lag neben dem Laptop ein aufgeschlagenes Exemplar von Shades Of Grey. Außerdem waren da mehrere miteinander verbundene Ringe. „An diesen Ringen erkennen die sich“, erklärte Berthold. Weil Seegers verwundert guckte, ergänzte sein Kollege schnell: „Das habe ich mal gelesen.“

 

„Dürfen wir den Computer mitnehmen, Frau Lüdecke? Wir benötigen den für unsere Ermittlungen“, sagte Seegers. Sie nickte und erwiderte: „Am besten, Sie nehmen diesen ganzen Müll auch noch mit. Ich will dieses verdammte Zeug sowieso wegwerfen.“ „Der Laptop reicht völlig. Aber eine Frage, Sie haben vorhin gesagt, dass Ihr Sohn in Clubs ging. Wo waren diese?“ „Die waren zumeist in Hannover und in Hamburg, zumindest hat Norbert das erzählt.“

 

Die Kommissare verabschiedeten sich und fuhren zurück ins Präsidium. „Und wer von uns fährt jetzt nach Hannover? Immerhin ist es ja deine alte Heimat!“, wollte Berthold wissen. „Deswegen solltest du das machen, lieber Manfred. Mich kennen zu viele in Hannover. Nicht, dass du das falsch verstehst. Aber wir sollten doch lieber inkognito ermitteln.“

 

Am nächsten Tag legte Hohmann das Ergebnis der Obduktion vor. Er erklärte: „Der Tod ist durch Erwürgen eingetreten. Es war eindeutig Fremdverschulden, kein Unfall oder Selbstmord. Das ist ein gängiges Spielchen in der BDSM-Szene. Man nennt es Atemkontrolle. Das unterbricht die Atmung, der Adrenalinspiegel steigt und damit die Lust.“ Im Computer des Opfers waren säuberlichst mehrere Clubs und Kneipen, in der niedersächsischen Landeshauptstadt aufgeführt, jeweils mit dem Datum des letzten Besuchs. Außerdem fanden sich Adresslisten von Kontakten.

 

„Hervorragend. So sollte sich jedes Mordopfer verhalten. Das erleichtert die Arbeit ungemein“, rief Berthold begeistert. „Merkwürdig ist nur, dass der letzte Besuch in einem Club vor vier Monaten war“, stellte Seegers fest. „Denn hat er das Versprechen gegenüber seiner Mutter doch eingehalten. Das ist ihm offenbar zum Verhängnis geworden“, antwortete Berthold.

 

Damit war die Arbeitsteilung klar: Berthold fuhr nach Hannover und klapperte die diversen Bars, Clubs und Kneipen ab, während sich Seegers auf den Weg zu den Damen in der Liste machte. Diese war ziemlich übersichtlich, nur fünf waren aufgeführt.

 

Berthold ermittelte also in Hannover. Dort war er im Gegensatz zu seinem Kollegen schon lange nicht mehr gewesen. Ohne Stadtplan hätte er sich nicht zurecht gefunden. In allen Clubs und Bars kannte man Norbert Lüdecke sehr gut, immer unter seinem richtigen Namen. Von seinem Tod wusste keiner etwas. Die hiesigen Zeitungen hatten auch nicht darüber berichtet. Alle Gäste bestätigten, dass er schon längere Zeit nicht mehr da war. Ganz besonders in einer Kneipe in der Nordstadt, die als Treffpunkt der Szene diente, wurde er sehr vermisst. Ein jüngerer Mann berichtete, dass er gehört hätte, dass Norbert sich jetzt immer mit „einer Tussi aus seiner Gegend treffen würde“. Den richtigen Namen der Dame kannte er nicht, sie nannte sich Marion.

 

Seegers ermittelte, so diskret es ging bei den fünf Frauen auf der Liste. Drei von ihnen schieden als Verdächtige aus, sie hatten ein wasserfestes Alibi. Sie kannten sich gegenseitig und waren zu dritt auf einer großen BDSM-Party in Bremen gewesen. Dort gab es eine Gästeliste, wo alle drei eingetragen waren.

 

Das galt nicht für die anderen beiden Damen: Julia Meyer aus Celle und Sybille Peters aus Northeim. Sie wurden ins Präsidium vorgeladen und fotografiert. Beide bestätigten den „gelegentlich Kontakt zu Norbert“, bestritten aber vehement, für seinen Tod verantwortlich zu sein. „Dann müssen wir wohl noch einmal in das Hotel fahren. Vielleicht hat Frau Wolters ja doch etwas von dem Besuch bei ihrem Gast mitbekommen“, entschied Seegers.

 

Diese konnte zwar nichts dazu sagen, erinnerte sich aber an die Pizzaschachteln in dem Zimmer. Die dazugehörige Pizzeria „Napoli“ lag nur wenige Meter von dem Hotel entfernt. Einen Lieferservice gab es dort nicht, man musste sein Essen selbst abholen.

 

Der Besitzer der Pizzeria war sehr redselig. Er konnte sich sehr gut an die hübsche junge Señorita erinnern, die am Abend des mutmaßlichen Verbrechens kurz vor 22 Uhr zwei große Pizza Calabrese geholt hatte. Auf dem Foto erkannte er eindeutig Frau Peters.

 

Bei dem Verhör stritt diese zunächst alles ab, gestand dann aber doch, zur fraglichen Zeit in Bad Lauterberg in dem Hotel gewesen zu sein. „Ich wollte das doch nicht. Es war keine Absicht, aber Norbert konnte ja nicht genug bekommen. Irgendwann röchelte er nur noch und dann bewegte er sich nicht mehr. Ich bin dann in Panik abgehauen und habe mich nicht getraut, dass der Polizei zu melden“, sagte sie aus.

 

Der Fall war somit gelöst, auch wenn es kein Mord war, bestenfalls Totschlag. „Die Frau wird mit einer milden Strafe davon kommen. Aber wir haben zwei Sachen gelernt: Erstens, man sollte nicht immer auf seine Mutter hören und Zweitens: Versprechen lohnt sich nicht“, resümierte Seegers.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Bildmaterialien: www.focus.de
Tag der Veröffentlichung: 02.03.2020

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