Es war vor einigen Jahren, als ich meinen ersten Urlaub in Irland verbrachte. In diesem gemütlichen, aber auch schmuddeligen Pub in Glasson im Südwesten des Landes war zu dieser späten Stunde noch reger Betrieb. Einige alte Männer saßen an der Theke und tranken ihr GUINNESS. Ich setzte mich an einen freien Platz und bestellte mir auch ein Stout.
Besonders gesprächig waren die Männer zwar nicht, aber trotzdem freundlich. Ein paar von ihnen unterhielten sich in irischem Gälisch. Zu diesem Zeitpunkt beherrschte ich diese alte, aber wunderschöne Sprache noch nicht. Sie unterscheidet sich erheblich von der schottischen Version, auch wenn es für einen ungeübten Zuhörer ähnlich klingen mag. Das ist in etwa so ein Unterschied wie Spanisch zu Portugiesisch.
Nachdem ich mein zweites Bier vor mir hatte, betrat eine hübsche junge Frau mit langen roten Haare und grünen Augen die Kneipe. Die Frau setzte sich an einen kleinen Tisch in der hintersten Ecke und schaute gedankenvoll durch den Raum. Spontan entschied ich mich, mich zu ihr zu setzen. Das ist normalerweise nicht meine Art, jedoch trieb mich irgendetwas dazu. Offenbar hatte sie nichts dagegen. Allerdings murmelte sie immer wieder einen Satz vor sich her: „Is éard is rún ann ná arm agus cara.“
Tom, der Wirt kam auf uns zu und flüsterte mir ins Ohr: „Das ist Sarah. Die ist etwas verrückt. Nimm dich in Acht vor ihr.“ Ich nickte und flüsterte zurück: „Danke, mein Freund. Aber was bedeutet dieser Satz? Ich kann kein irisches Gälisch.“ Tom antwortete: „Das bedeutet: Ein Geheimnis ist eine Waffe und ein Freund. Eine alte irische Weisheit!“
Sarah reagierte nicht und murmelte immer wieder diesen Satz: „Is éard is rún ann ná arm agus cara.” Da ich das schottische Gälisch recht gut beherrschte, antworte ich mit dem gleichen Satz in dieser Sprache: „Tha dìomhaireachd na armachd agus caraid.“ Sarah sah mich erstaunt an. Das hatte sie offenbar nicht erwartet. „Bist du Schotte?“, fragte sie mich auf Englisch. „Nein, ich komme aus Deutschland. Ich heiße Andreas.“
„Ich habe hier noch nie jemand getroffen, der schottisches Gälisch spricht.“
„Ich war schon einige Mal in Schottland. In Irland bin ich das erste Mal. Darf ich dir ein Bier spendieren, Sarah?“ Sie nickte und war nicht verwundert, dass ich ihren Namen kannte.
Als ihr Bier kam, sagte Sarah: „Die Leute halten mich hier alle für verrückt. Ich schätze mal, dass Tom dir das schon gesagt hat. Verstehen kann ich das schon, dass man so über mich spricht. Dafür gibt es einen Grund.“
„Verrätst du ihn mir, Sarah?“
„Das liegt gewissermaßen in meiner Familie. Meine Mutter war anders als die anderen, ebenso meine Großmutter und meine Urgroßmutter.“
Ich nahm einen Schluck von meinem GUINNESS und erklärte dann: „Es freut mich, dass du so offen darüber sprichst, Sarah. Wie ist es dazu gekommen?“ Sarah seufzte und erwiderte dann: „Das möchte ich hier nicht erzählen. Aber du kannst mit mir mitkommen. Ich wohne hier ganz in der Nähe auf einem Hausboot auf dem Shannon. Du musst keine Angst haben, dir geschieht nichts. Jedenfalls nichts Schlimmes.“
Kurz zögerte ich. Ich dachte an die Warnung von Tom. Doch dann sagte ich: „Sehr gerne, Sarah. Einer schönen Frau kann ich nicht widersprechen!“ Die anderen Gäste und auch der Wirt sahen uns mit einer Mischung aus Erstaunen und Entsetzen an. Keiner traute sich, etwas zu sagen. Ich zahlte und wir verließen den Pub, nachdem wir ausgetrunken hatten. Ich vernahm ein deutliches Murmeln der Männer.
Es war nur ein kurzer Weg zu dem Fluss. Sarahs Boot lag fest vertäut am Ufer. Es machte einen heruntergekommenen Eindruck. Dieser verstärkte sich für mich, als wir das Boot betraten. Drinnen sah es gar nicht aus wie in der Wohnung eines jungen Mädchens, sondern vielmehr wie bei einer alten Frau, einer sehr alten Frau. Es roch auch so.
Wir setzten uns auf ein grünes Plüschsofa mit vielen Kissen. Der Tisch, der davor stand, war aus schwerem, dunklem Holz und etwas wacklig. „Möchtest du etwas trinken?“, fragte Sarah. Ich nickte. Sie holte eine gläserne Karaffe mit einer grünlichen Flüssigkeit hervor und zwei winzige Schnapsgläser. Sarah goss uns ein und sagte: „Slàinte“. Das war das schottische Wort für “Prost” und wurde offenbar auch hier benutzt.
Der Schnaps schmeckte eigenartig, er bestand wohl aus Kräutern, hatte aber einen seltsamen Nebengeschmack. „Ein altes Rezept meiner Familie“, erklärte Sarah und ergänzte: “Jetzt werde ich dir mein Geheimnis verraten. Sie schloss kurz die Augen und machte eine kreisförmige Bewegung um ihren Kopf. Sekunden später hatte sie sich verwandelt. Sie war jetzt viel kleiner, etwa einen Meter groß. Außerdem war ihre Haut grün und ihre Ohren waren spitz.
„Du bist ein Kobold, ein Leprechaun!“, entfuhr es mir. „Bist du überrascht?“, fragte Sarah mit einer piepsigen Stimme. Ich antwortete: „Das kann man wohl sagen. Ich wusste auch nicht, dass es weibliche Leprechaun gibt.“ Sie kicherte und sagte: „Natürlich gibt es auch weibliche Exemplare von uns. Wir müssen uns ja vermehren. Du denkst an diese komischen Puppen, die uns darstellen sollen und die an die Touristen verkauft werden. Das ist nur die halbe Wahrheit.“
„Stimmt es denn, dass Ihr den Menschen Streiche spielt und betrügt? Und was mit dem Gold hinterm Regenbogen?“, wollte ich wissen. Sarah erwiderte: „Streiche spielen wir nur bösen, habgierigen Menschen. Aber gute Menschen belohnen wir, auch wenn es keinen Topf mit Gold am Endes des Regenbogens gibt. Das ist ein Mythos. Du bist gutherzig und daher sollst du jetzt deinen Belohnung erhalten!“ Sie schnipste mit den Fingern und eine Goldmünze erschien aus dem Nichts. „Die ist magisch. Immer wenn du sie ausgibst, kehrt sie wieder zu dir zurück.“
Ich war völlig verblüfft, das hatte ich nicht erwartet. Aber jetzt verstand ich die Bedeutung des Satzes, den Sarah immer wieder gemurmelt hatte: „Is éard is rún ann ná arm agus cara.“ Für mich war ihr Geheimnis ein Freund und keine Waffe. Ich war heilfroh, dass ich nett zu ihr war.
Bildmaterialien: www.allmystery.de
Tag der Veröffentlichung: 01.03.2020
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