Ich, Hubert Hundertmark, wollte Silvester diesmal ganz groß feiern, mit der ganzen Familie, meinen Freunden und Kollegen. Die Feier sollte bei uns in Buxtehude stattfinden. Allerdings war unsere Wohnung dafür nicht groß genug und in einem Lokal war es uns zu teuer. Daher sollte die Feier auf dem Dachboden unseres Wohnhauses stattfinden.
Jeder sollte etwas zum Essen oder Trinken mitbringen: meine Brüder Kunibert, Norbert und Herbert, meine Mutter, meine Schwester Berta, Wilmas Schwester Wanda, meine Cousins Manfred und Harald, meine Cousine Hermine, mein Freund Oskar, mein Kollege Hilmar mit seiner Frau Rosa und die Gebrüder Gruber aus Wien, also Karl, Josef und Leopold.
Wir waren also siebzehn Leute. So etwas bedarf einer gründlichen Planung, damit nichts schief geht. In diesem Zusammenhang wurde Wanda ausdrücklich darum gebeten, dass sie zwar wieder ihren leckeren Nudelsalat machen könnte, aber diesmal ohne die kleingehackten Haselnüsse. Wie Sie sich vielleicht erinnern, hatte dieser für meinem Bruder Kunibert mit seiner Nussallergie fatale Folgen.
Hermine war beauftragt, Krapfen mitzubringen. Das gehört zu Silvester eindeutig hinzu. Der Scherz, dass einer oder zwei davon mit Senf gefüllt sind, musste hingegen nicht sein. Das ist doch albern. Ich hoffte inständig, dass meine Cousine dabei nicht wieder irgendetwas verwechseln würde.
Während meine Frau Wilma oben auf dem Boden alles dekorierte, wartete ich unten in der Wohnung auf die Gäste, denn die Klingel hörte man auf dem Dachboden nicht. Um mir die Zeit zu vertreiben, setzte ich mich an mein Klavier und spielte Beethoven. Gerade als ich die ersten Töne der neunten Sinfonie anstimmte, klingelte es. Ich war überrascht. Es war erst 19 Uhr. Erst in einer Stunde sollte es losgehen.
Es war Hermine, sie hatte einen großen Beutel in der Hand. Sie deutete drauf und sagte: „Ich denke, zwei werden reichen. Soll ich sie schon einmal in die Badewanne legen?“ Ich war baff. Zwei Krapfen für siebzehn Leute? Und was sollte diese in der Badewanne? Das klärte sich kurz danach, denn meine Cousine öffnete den Beutel. Zwei zappelnde Fische schnappten nach Luft. Hermine hatte Karpfen statt Krapfen mitgebracht. Es ist zwar üblich, diese an Silvester zu servieren, aber darauf waren wir nun nicht vorbereitet. Ich unterdrückte meinen Ärger und wies Hermine an, die Fische in die Badewanne zu lassen.
Meine Cousine begab sich auf den Dachboden und ich setzte mich erneut an mein Klavier. Ich konnte nur wenige Takte spielen. Es klingelte erneut. Diesmal waren es Gäste, die eine weite Anreise hatten, nämlich die Gebrüder Gruber, die Vertreter, der PDÖS, unserer Bruderpartei in Österreich. Wir begrüßten uns freundlich. Sie hatten Wein aus der Wachau sowie diverse Mehlspeisen mitgebracht und zusätzlich eine Sachertorte.
Karl musste noch einmal auf Toilette und entdeckte dabei die Karpfen in der Badewanne. Er war davon ganz begeistert. Ich musste ihm aber mitteilen, dass diese heute nicht mehr serviert werden, und wie es kam, dass die Fische in der Wanne fröhlich herum plätscherten. „Das geht sich schon an“, kommentierte Karl.
Die Grubers gingen nach oben und ich widmete mich wieder Ludwigs Sinfonie. Ich brachte sie fast zu Ende. Es läutete abermals. Diesmal war es mein Kollege Hilmar mit seiner Frau Rosa. Dabei hatten sie eine große Schüssel mit Kartoffelsalat.
Als alle Gäste angekommen waren, begab ich mich auch auf dem Dachboden. Wilma hatte alles liebevoll dekoriert. Ich war begeistert. Cousine Hermine war schon reichlich angetrunken, offenbar hatte sie den roten Sekt, den Manfred mitbrachte, in größerer Menge konsumiert, denn sie lallte: „Dieser Schneewittchen-Sekt ist Spitze!“ Alles lachte. Hermine hatte das falsche Märchen erwischt.
Norbert meinte: „Hermine, du bist grandios. Du solltest bei mir in TELE 12 auftreten mit einer großen Show zur besten Sendezeit!“ Das war natürlich nicht ernst gemeint, aber Hermine nahm es für bare Münze. Karl, der das und auch Hermines Kommentar zum Sekt mitbekommen hatte, sagte leise zu seinem Bruder Josef: „Die hat bestimmt kein Matura!“ Das hörte wiederum Hermine und erwiderte: „Matura? Diesen Detektiv aus dem Fernsehen? Nein, den hatte ich wirklich nicht!“ Das verstanden alle und meine Cousine hatte erneut einen großen Lacherfolg.
Kurz darauf machte der CD-Player, der schon zu unserer Hochzeit versagt hatte, komische Geräusche. Herbert bot sich gleich an, seine Reparaturkünste anzuwenden. Ich lehnte ab, weil ich mich erinnerte, dass diese damals wenig Erfolg hatten. So mussten wir damit leben, dass die CD sprang.
Hilmar sprach mich an: „Hubert, es wird allmählich langweilig. Hast du nichts vorbereitet? Spiele oder so etwas? Oder Bleigießen?“ Das war die Gelegenheit für mich, eine Erklärung abzugeben. Ich schlug mit einem Löffel an ein Weinglas und ergriff das Wort. Augenblicklich waren alle still. Ich sagte: „Liebe Freunde, liebe Verwandte. Seit langer Zeit ist es Tradition, dass man an Silvester Bleigießen zelebriert. Das hatte ich auch vor. Hier in Buxtehude war das nicht zu bekommen. Ich hatte mich deswegen im Internet informiert. Dort erfuhr ich, dass Bleigießen seit 2018 verboten ist und es keine Restbestände mehr im Handel geben dürfte. Stattdessen wurde Wachsgießen empfohlen. Aber mit Wachskerzen habe ich auch schlechte Erfahrungen gemacht. Was diese betrügerischen Händler und Hersteller nämlich verschweigen: Wachskerzen werden nach dem Anzünden immer kleiner statt größer, obwohl man das vom Namen doch anders erwarten könnte!“
Alle lachten daraufhin. Dabei war das mein voller Ernst. Ich ließ mich nicht beirren und wollte meine Rede fortsetzen, als Hermine dazwischen rief: „Ist noch etwas von dieser leckeren Mascara-Creme da?“. Natürlich wollte sie keine Wimperntusche, sondern Mascarpone haben. Dieses leckere Dessert hatte Rosa, die Frau meines Kollegen Hilmar, mitgebracht.
Ich fuhr mit meiner Erklärung fort: „Ich ließ mich nicht beirren und suchte weiter im Internet. Schließlich fand ich...“ Weiter kam ich nicht, da ein Poltern ertönte. Alle drehten sich um in Richtung des Geräusches. Einer der Tapeziertische, auf denen Wilma unsere Speisen aufgebaut hatte, war zusammengebrochen. Offensichtlich hatte sie die Tragfähigkeit des Tisches überschätzt. Dieser war noch relativ neu. Ich werde mich bei dem Baumarkt, wo ich ihn erwarb, beschweren. Da können Sie sicher sein. Zum Glück war der Schaden an den Speisen relativ gering. Lediglich die Hackbällchen von Harald und die Käseplatte von Berta waren nicht mehr zu retten.
Ich setzte ein drittes Mal an, um über den Ersatz für das Bleigießen zu berichten, als es erneut eine Unterbrechung gab. Mein Kollege Hilmar stolperte über eines der heruntergefallenen Hackbällchen, riss den zweiten Tapeziertisch um und stürzte dann unglücklicherweise über die zerbrochene Glasschüssel, in der sich Wandas Nudelsalat befand. Das wirkte wie eine Szene in einem der albernen Filme von Dieter Hallervorden.
Alle fanden das auch komisch, Hilmar jedoch nicht. Er hatte sich ernsthaft verletzt. Der Notarzt, den wir riefen, kam sehr schnell. Hilmar kam ins Krankenhaus und fällt wohl für ein paar Wochen aus. Ich werde daher dann die Arbeit in der Buxtehuder Hundesteuerstelle vorerst ganz alleine stemmen müssen.
Die Stimmung auf unserer Party war nach dem Vorfall verständlicherweise gedrückt und außerdem unser Speisenangebot nunmehr deutlich eingeschränkt. Niemand hatte mehr Interesse an meiner Geschichte über den Ersatz für das Bleigießen.
So wurde das neue Jahr 2020 recht verhalten begrüßt und schon bald nach Mitternacht brachen die ersten Gäste auf. Um ein Uhr gingen die Letzten. Gleich danach begaben sich Wilma und ich in unsere Wohnung. Aufräumen wollten wir am Morgen danach.
Bildmaterialien: www.exquisit-catering.com
Tag der Veröffentlichung: 22.01.2020
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