Hartmut kramte mit seiner Freundin Beate in einer großen Kiste, in der sich noch einige Sachen seiner verstorbenen Tante Agathe befanden. Beate hatte ihm dazu gedrängt, das Zeug endlich auszumisten. Das sollte eigentlich schon vor dem Umzug in das gemeinsame Haus geschehen. Jetzt war es überfällig. Hartmut hatte aber darauf bestanden, die Kiste vorher durch zu sehen. „Vielleicht sind da auch noch Schätze drin“, hatte er gesagt und daran erinnert, dass er mit seinem Freund Berti im Nachlass der Tante die Originalausgabe von „Der kleine Prinz“, das kostbare Fabergé-Ei und den Nachdruck der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten gefunden hatte.
„So viel Glück hat man nicht so oft“, entgegnete Beate. Dennoch half sie Hartmut beim Ausräumen. Zu Tage kamen zunächst ein paar Fotoalben, dann Brokat-Deckchen und schließlich einige Video-Kassetten. „Ich wusste gar nicht, dass die Tante einen Videorecorder hatte. Beim Ausräumen der Wohnung hatte ich keinen Recorder gefunden“, bemerkte Hartmut. Beate ergänzte: „Das sind noch welche mit System Video 2000! Da gibt es doch gar keine Geräte mehr dafür.“ Hartmut antwortete: „Berti hat noch so einen Kasten in seiner Kneipe. Er sagt, den behält er so lange, bis er auseinanderfällt.“
Neugierig begaben sich Hartmut und Beate mit den Video-Kassetten in Bertis Kneipe, die seit einiger Zeit „Bei Hartmut“ hieß und dank des Geldes, das Berti von Hartmut für seine Hilfe und seine guten Ratschläge erhalten hatte, richtig schick geworden war. Hartmut hatte dort Anspruch auf kostenlose Getränke, das galt natürlich auch für Beate. Es war früher Nachmittag und der Monat näherte sich seinem Ende, deswegen war der Laden ziemlich leer. Nur ein einsamer Gast, ein älterer Herr mit grauen Haaren, saß am Tresen, ein Weizenbier vor sich.
„Schön dich zu sehen, Hartmut. Und toll, dass du Beate mitgebracht hast“, begrüßte sie Berti freundlich. Hartmut orderte ein Bier und Beate ein Prosecco. Neugierig sah Berti auf den großen Beutel, den Hartmut trug. Dieser stellte die Tasche auf dem Tisch und fragte Berti: „Deinen alten Videorecorder hast du doch noch, oder?“ „Na, klar, der steht dahinten. Ist es Euch zu langweilig? Habt Ihr Filme mitgebracht?“, wollte Berti wissen.
Hartmut nahm ein paar der Kassetten heraus und erklärte: „Die haben wir noch in einer Kiste aus dem Nachlass meiner Tante gefunden. Wir würden gerne wissen, was darauf ist.“ Berti legte eine der Kassetten in den Recorder und schaltete den Fernseher ein. Es dauerte ein paar Sekunden, dann sahen sie Karl Dall im Bild. „Das hätte ich nun wirklich nicht erwartet. Ich hätte nie gedacht, dass Tantchen den mochte“, stellte Hartmut fest.
Zu sehen war eine alberne Spielshow, bei der es darum ging, verlorenen gegangene Koffer zu ersteigern. „Das lief Anfang der neunziger Jahre im Privatfernsehen. Die Show hieß Kofferhoffer“, erklärte der Mann am Tresen und fuhr fort: „Immerhin gab es einhundert Folgen davon.“ Hartmut hakte nach: „Woher wissen Sie das? Das ist ja gut dreißig Jahre her!“ Der Mann stand auf und setzte sich neben Hartmut. Er erzählte: „Ich war damals Kameramann bei dem Sender. Übrigens heiße ich Edmund.“
Edmund plauderte noch eine ganze Weile von seinen Fernseherfahrungen, er war sichtlich stolz darauf. Hartmut, Beate und Berti hörten aus Höflichkeit zu und spendierten Edmund noch ein Bier und einen Korn. Auf den Video-Kassetten waren tatsächlich ausschließlich Folgen dieser Show zu finden, nichts anderes. Hartmut war ziemlich enttäuscht und schenkte schließlich Edmund die Kassetten.
Auf dem Nachhauseweg sagte Hartmut: „Das war ja wohl ein Schuss in den Ofen. Aber die Sache mit der Kofferversteigerung ist ganz spannend. Da würde ich auch gerne mal mitmachen.“ Beate stimmte zu und so geschah es, dass die beiden zu Hause im Internet nachforschten, wann am hiesigen Flughafen die nächste Versteigerung war. Sie hatten Glück: Schon für nächste Woche war eine solche anberaumt.
Dann war es soweit. In der Eingangshalle des Terminals waren mehrere orangefarbene Absperrbarken aneinandergereiht. Auf der einen Seite standen und lagen Dutzende von herrenlosen Koffern und Reisetaschen, auf der anderen hatten sich schon circa einhundertfünfzig Leute eingefunden, die alle darauf hofften, einen der Koffer oder Taschen zu ersteigern und darin etwas Wertvolles zu finden. Hartmut und Beate gesellten sich dazu. Ein Mann mit Halbglatze und Hornbrille stellte sich an ein Podium, räusperte sich und erklärte das Procedere. Niemand durfte vorher in die Gepäckstücke schauen, man durfte sie nur von außen betrachten. Derjenige, der der Meistbietende war, musste bar bezahlen. Kreditkarten wurden nicht akzeptiert. Auch eine Rückgabe war nicht möglich, wenn man Pech hatte und nur schmutzige Unterwäsche erwischte. „Wir gehen auf keinen Fall zu hoch heran. Mehr als zweihundert Euro biete ich nicht!“, hatte Hartmut zuvor zu Beate gesagt.
Die Versteigerung begann. Das erste Objekt war ein schwarzer, eleganter Lederkoffer. Immer höher stiegen die Gebote. Schließlich bekam eine junge, rothaarige Dame den Zuschlag für 325 Euro. Es folgten mehrere Reisetaschen, darunter eine, die stark zerschlissen war. Hier war das Interesse gering. Das war die Chance für Hartmut. Er ersteigerte sie für vierzig Euro. Mitleidige Blicke wurden ihm zugeworfen, als er sie abholte. „Lass uns reinschauen“, drängelte Beate, doch Hartmut widersprach: „Nur Geduld, Schatz. Ich hoffe noch auf einen Koffer. Wenn wir den haben, werden wir nachsehen, was drin ist.“
Jetzt waren nur noch vier Gepäckstücke übrig, darunter ein alter hellbrauner Koffer. Der war sehr begehrt. Hartmut hielt mit und hatte schließlich Erfolg: Für 440 Euro bekam er den Zuschlag, das war bei Weitem mehr, als er geplant hatte. „Was soll‘s. Hop oder Topp. Vielleicht haben wir ja Glück. Ich konnte einfach nicht widerstehen!“, sagte Hartmut und ergänzte: „Jetzt lass uns aber auspacken, Beate.“
Gemeinsam gingen sie in eine ruhige Ecke in der Ankunftsebene des Flughafens. Zuerst öffneten sie die Reisetasche. Zu Tage kam zunächst Damenwäsche. Diese war zwar benutzt, aber nicht so schmutzig, dass es unangenehm war. Des weiteren waren mehrere T-Shirts in der Tasche, die nicht gerade der neuesten Mode entsprachen. Sie hatten jedoch immerhin die richtige Größe für Beate. Außerdem fanden sie ein Nachthemd und einen Kulturbeutel mit den üblichen Utensilien. Schließlich entdeckten sie einen kleinen Plastikbeutel mit einem grünlichen Pulver, das aussah wie frisch gemähtes Gras. Sie öffneten ihn, um festzustellen, dass die Substanz nicht nur so aussah, sondern auch so roch. „Ob das Rauschgift ist?“, fragte Beate. „Berti kennt sich damit aus. Lass uns nachher zu ihm gehen“, antwortete Hartmut und ergänzte: „Hoffentlich haben wir mit dem Koffer mehr Glück.“ Doch auch dieser brachte weder einen Laptop noch ein teures Handy ans Licht, sondern nur Herrenwäsche und ein paar Erotik-Magazine.
Frustriert fuhren Hartmut und Beate nach Berti. Dieser hatte die Kneipe gerade geöffnet. Sie waren daher ungestört. Hartmut berichtete von seinem mäßigen Erfolg und holte schließlich den Beutel mit dem grünen Inhalt. Berti roch daran und lachte. „Soll ich Euch einen aufbrühen?“, fragte er. Hartmut und Beate sahen ihn verwundert an. „Das ist handelsüblicher Grüner Tee, die Sorte nennt sich Gunpowder. Nicht sehr hochwertig. Das ist so ziemlich das billigte, was es gibt.“
„So etwas hatte ich schon befürchtet“, äußerte sich Hartmut und fuhr fort: „Wenn ich so darüber nachdenke: Wenn das Rauschgift wäre, hätten das die Hunde aufgespürt. Na, ja man kann nicht immer Glück haben. Und in dem Koffer ist auch nur Mist.“ Er hob ihn hoch und stellte ihn auf den Tresen.
„Hübsch ist er ja, der Koffer“, stellte Berti fest. Der Inhalt wurde ausgeräumt. „Die Magazine kannst du behalten, Berti“, entschied Hartmut. Er kam mit seinem Ellenbogen gegen den leeren Koffer. Dieser fiel auf den Fußboden. Es klapperte. Verwundert untersuchten sie den Koffer näher und entdeckten einen doppelten Boden. Dort versteckten sich mehrere uralte Schallplatten aus den 60er Jahren sowie ein paar Notenblätter. „Das sind Aufnahmen von den Beatles. Von den Nummern habe ich aber noch nie gehört. Und ich kenne mich aus mit dieser Band“, sagte Berti.
Es stellte sich heraus, dass die Platten und die Notenblätter tatsächlich unveröffentlicht waren und ein Vermögen wert waren. Ein Sammler bot 250.000 Euro dafür, was Hartmut dankend annahm. So hatte er ein weiteres Mal unglaublich viel Glück gehabt.
Bildmaterialien: www.quoka.de
Tag der Veröffentlichung: 20.01.2020
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