Ich hatte mich in meiner neuen Heimat, Gliese 581 c, gut eingerichtet. Das galt auch für Sarah, meine Freundin. Wir hatten schnell zueinandergefunden und wurden ein Paar und fühlten uns wohl auf dieser neuen Welt, auf der wir jetzt schon über sechs Jahre lebten. Sechs Jahre nach der irdischen Zeitrechnung. Die eigentlichen Bewohner von Gliese 581 rechneten ganz anders, aber aus reiner Gewohnheit behielten die ehemaligen Erdbewohner, die wie wir seinerzeit hierher verbracht wurden, die gewohnte Zeit bei. Das galt auch für die Einteilung in Stunden, Minuten und Sekunden. Demnach war heute der 12. November 2019.
„Hast du Sehnsucht nach der Erde, Bernhard?“, fragte mich Sarah. Ich musste erst einmal nachdenken, bevor ich antworten konnte. Denn sagte ich: „Nun, das ist doch wohl selbstverständlich. Seine Heimat sollte man niemals vergessen. Außerdem denke ich oft an die Orte unseres Planeten, die ich mir immer ansehen wollte, aber nie geschafft habe, sie zu besuchen. So zum Beispiel New York, deine Heimatstadt. Oder auch Moskau, Peking oder Rio de Janeiro. Das alles existiert jetzt nicht mehr!“ Sarah nickte und sagte dann: „So geht es mir auch. Ich hätte mir gerne Berlin angesehen oder Rom, oder Venedig. Hier ist es zwar auch sehr schön, aber das ersetzt es nicht.“
Wir nahmen uns in die Arme und gingen zu dem großen Park, in dem sich die ehemaligen Erdlinge oft und gerne trafen. Hier war es wunderschön, es gab prachtvolle Blumen und wunderschöne Bäume, wie es sie auf der Erde nie gab. Die Blumen verströmten einen betörenden Duft. „Da ist noch etwas, was ich hier auf Gliese vermisse: die Vögel. Bei uns im Centralpark haben sie mich immer fasziniert, schon als Kind“, bemerkte Sarah. „Das stimmt. Immerhin gibt es Insekten auf diesem Planeten. Vor allem die Schmetterlinge sind sehr hübsch“, antwortete ich. „Und sie sind viel größer als bei uns, was an dem höheren Sauerstoffgehalt der Atmosphäre liegt!“, ergänzte Sarah.
Auf einer Bank an dem riesigen Brunnen nahmen wir Platz. Nach fünf Minuten näherte sich Giovanni, einer der wenigen Menschen zu dem wir Kontakt hatten. Er war anders als die anderen, nicht so einfach gestrickt wie der Rest. Wir vermuteten, dass er seinerzeit genauso mit dem Fragebogen der Außerirdischen getrickst hatte, wie Sarah und ich.
„Guten Morgen, Ihr zwei Hübschen“, sagte Giovanni. Er schien allerbeste Laune zu haben. Das stimmte zwar, aber auch er vermisste unseren Heimatplaneten, wie er betonte. „Und es gibt keine Eierspeisen auf Gliese: kein Rührei, kein Spiegelei, kein Omelette“, stellte Giovanni fest. „Richtig. Daher auch kein Kuchen und keine vernünftigen Kekse“, fiel mir ein. „Das werden wir nie wieder essen können“, sagte Sarah und seufzte. „Vielleicht ja doch, wenn wir zur Erde zurückreisen würden“, antwortete Giovanni. Ich schüttelte mit dem Kopf und entgegnete: „Aber Giovanni! Die Erde ist doch zerstört.“
Giovanni flüsterte: „Das haben uns die Gliesianer erzählt. Möglicherweise stimmt das ja nicht!“ Wir waren baff. Ich entgegnete: „Nun, ja. Gesehen haben wir das nicht. Die Gliesianer haben nur gesagt, dass unsere Welt vernichtet worden ist und dass es kein Asteroid war, der einschlug, sondern dass es die Menschheit es selbst getan hat. Vielleicht haben unsere Gastgeber ja gelogen. Wir könnten zu einer Sternwarte gehen, um uns davon zu überzeugen.“ Sarah widersprach: „Das würde nichts bringen. Gliese 581 c ist zwanzig Lichtjahre von der Erde entfernt. Wir würden unseren Planeten sehen, wie er im Jahre 1999 aussah.“ Giovanni ergänzte: „Die Gliesianer haben gesagt, dass wir auserwählt wurden, der Zerstörung unseres Planeten zu entkommen und gerettet worden sind! Das muss sich nicht zwangsläufig auf unseren gesamten Planeten beziehen. Es kann sein, dass es nur keine Menschen mehr gibt, Tiere und Pflanzen aber schon.“
Wir diskutierten noch über eine halbe Stunde. Dann beschlossen wir, das Thema auf dem nächsten Treffen der ehemaligen Erdbewohner anzusprechen. Dieses fand alle vier Wochen statt, nach unserer Zeitrechnung.
Zehn Tage später war es soweit. Bei dem Treffen standen vorwiegend banale Dinge auf der Tagesordnung. Als es um „Sonstiges“ ging, meldete ich mich zu Wort. Ich schilderte das, was wir drei besprochen hatten. Es gab Unruhe im Saal, und auch Gekicher. Überwiegend war jedoch unglaubliches Staunen zu registrieren. „Diese Dumpfbacken kapieren doch gar nicht, worum es geht“, flüsterte ich Sarah zu. Sie nickte. Dann meinte jemand, dass darüber abgestimmt werden sollten, ob wir zurückreisen sollten.
Wie nicht anders zu erwarten war, entschieden sich die meisten dafür, auf Gliese 581 c zu bleiben. Sie hatten sich hier eingerichtet und fühlten sich hier wohl. Es stimmte, für unser Essen und unsere Unterkunft war gesorgt und niemand musste arbeiten. Eigentlich ein herrliches Leben. Eigentlich. Es fehlte jedoch eines: die Heimat. Immerhin fanden sich außer Sarah, Giovanni und mir noch ein Dutzend Leute, die den Schritt wagen wollten. Ich wurde dazu auserwählt, die Gliesianer zu kontaktieren, gemeinsam mit Sarah.
Die Gliesianer hatten ein bürokratisches System. Die einzelnen Provinzen hatten jeweils einen obersten Vorsitzenden, der für einfache Probleme zuständig war. Globalere Angelegenheiten wurden von einer Art Kanzler in den großen Städten entschieden und sehr wichtige Entscheidungen, die den gesamten Planeten betrafen, mussten von der Regierung dieser Welt beschlossen werden.
„Fast so ein komplizierter Weg wie auf der Erde“, bemerkte ich, als wir zur Provinzhauptstadt fuhren. Es war ein sehr kleiner Ort mit vielleicht 8.000 Einwohnern. Die meisten Ortschaften auf Gliese 581 c hatten diese Größe. Ganz kleine Dörfer so wie auf der Erde gab es hier nicht. Nach zehn Minuten Fahrzeit mit dem räderlosen Bus, der uns von unserem Camp in die Provinzhauptstadt brachten, hatten wir unser Ziel erreicht. Deren Namen konnten wir nicht aussprechen, die Sprache der Gliesianer enthielt so gut wie keine Vokale und ähnelte eher einem Krächzen. Daran hatten wir uns gewöhnt.
Der oberste Vorsitzende empfing uns mit einem Lächeln. Dieses war so, wie wir es kannten. Negative Emotionen kannten die Gliesianer so gut wie nicht, erst recht keine Wut, Abscheu oder Verachtung. Alles in allem waren sie stets nett und zuvorkommend.
Die silberfarbene Haut des Vorsitzenden hatte einen ziemlich dunklen Ton, er war offenbar schon älter. Wir hatten gelernt, dass die Bewohner dieses Planeten, in etwa 300 Jahre nach unserer Zeitrechnung lebten, und dass sie im Laufe ihres Lebens immer dunkler wurden. Ansonsten sahen sie für uns alle gleich aus.
„Nun, was führt Euch zu mir? Ist irgendetwas nicht in Ordnung mit Eurer Unterkunft?“, wollte der Gliesianer wissen. Ich schüttelte mit dem Kopf. Diese Geste verstanden unsere Gastgeber mittlerweile. Dann antwortete ich: „Kurz gesagt. Wir haben Heimweh. Auf Eurem Planeten ist es zwar wunderschön, aber wir vermissen die Erde. Deswegen wollten wir wissen, ob sie wirklich zerstört oder nur unbewohnbar ist. Und sind nur die Menschen ausgestorben? Was ist mit den Tieren und Pflanzen? Könnten wir zur Erde zurückkehren?“
Der Gliesianer machte ein glucksendes Geräusch. Das bedeutet bei dieser Spezies so viel wie Seufzen bei uns. Dann antwortete er: „Das sind viele Fragen. Nun, es ist so, dass Euer Planet nicht völlig zerstört wurde, er ist noch bewohnbar, es gibt noch Tiere und Pflanzen. Allerdings wurden die Menschen durch ein Virus ausgerottet. Ihr könnt zur Erde zurückkehren, wenn Ihr wollt. Allerdings sind dort, bedingt dadurch, dass Ihr mit Über-Lichtgeschwindigkeit hierher gereist seid, etwa 200 Jahre vergangen, nach Eurer Zeitrechnung. Bis Ihr dort wieder angekommen seid, werden weitere 200 Jahre vergehen. Die Genehmigung für diese Reise müsst Ihr Euch beim Kanzler in der Hauptstadt holen. Und die endgültige Entscheidung trifft unsere Weltregierung.“ Wir waren baff und schockiert zugleich und bedankten uns.
Zur Hauptstadt gelangten wir über eine Art Rohrpost. Die durchsichtige Kabine, die wir bestiegen, brachte Sarah und mich in einer atemberaubenden Geschwindigkeit an unser Ziel. Die Stadt beeindruckte uns sehr. Es waren prächtige Bauten aus einem uns unbekannten Material. Sie waren äußerst filigran und mit nichts zu vergleichen, was es auf der Erde gab.
Die Kabine stoppte, die Tür öffnete sich. Wir waren direkt am Sitz des Kanzlers angekommen und wurden dort schon erwartet. Durch eine große Tür gelangten wir in sein Empfangszimmer. Es war geschmackvoll eingerichtet, aber nicht pompös. Der Kanzler saß an einem Schreibtisch und hatte einen Stapel Papiere vor sich. Er bat uns, Platz zu nehmen. Seine Haut war noch dunkler, woraus wir schlossen, dass er noch älter war.
Er sagte: „Ich wurde schon von Eurem Ersuchen unterrichtet. Irgendwann war damit zu rechnen. Inzwischen wissen wir, dass nicht alle von Euch eine einfache Denkstruktur haben.“ Der Kanzler machte eine Kunstpause und fuhr dann fort: „Es ist nachvollziehbar, dass Ihr Euch nach Eurer Heimat seht. Die Erde ist aber nicht mehr so, wie Ihr sie gekannt habt. Alle Menschen, die Ihr gekannt habt, sind gestorben. Es gab einen Krieg, in dem biologische Waffen eingesetzt worden sind. Das haben zunächst nur sehr wenige Menschen überlebt, dann starben auch diese. Die meisten Tiere überstanden diese Katastrophe und führten seitdem ein sorgenfreies Leben. Sie konnten sich frei entfalten und entwickeln.“
Sarah hakte nach: „Woher wissen Sie das alles? Haben Sie perfekte Teleskope?“ Der Kanzler: „Wir haben Eure Satelliten angezapft und die Bilder zu uns übertragen. Das ging solange gut, wie sie in der Umlaufbahn waren. Nachdem diese nach und nach abstürzten, haben wir die Erde mittels unserer Scanner abgetastet. Dabei spielt die Zeitverzögerung keine Rolle. Wir sehen die Erde und andere Planeten in Echtzeit.“ Wir waren beeindruckt, verabschiedeten uns und fuhren wieder zurück. Die Entscheidung der Weltregierung würden wir später erfahren.
Im Camp berichteten wir, was geschehen war. Auch diejenigen, welche Gliese nicht verlassen wollten, zeigten sich nunmehr an eine Rückkehr zu Erde interessiert. Nunmehr war es so, dass nur noch etwa die Hälfte der ehemaligen Erdbewohner hierbleiben wollten. Das freute mich. Ich hatte mir schon ausgemalt, wie wir mit einem Dutzend Leuten eine neue Menschheit auf der Erde aufbauen würden.
Eine Woche später erreichte uns die Antwort auf unsere Anfrage. Sie war tatsächlich positiv! Wer wollte, konnte zurückreisen. Dafür würde uns ein Raumschiff zu Verfügung gestellt werden. Es sollte anschließend im Orbit der Erde verbleiben, falls jemand in seiner neuen, alten Heimat nicht zurechtkam. Immerhin hatte sich unser ehemaliger Heimatplanet gehörig verändert, ohne die Menschen.
Wir hatten vier Wochen Zeit, um unsere Sachen zu packen. Von den neuntausend Menschen, die damals nach Gliese verbracht wurden, hatten sich viertausendundzwölf für den Verbleib auf diesem Planeten entschieden, die Mehrheit, nämlich fast fünftausend Menschen wollte zur Erde zurückkehren. Tränenreich nahmen wir Abschied von denjenigen, die auf Gliese bleiben wollten. Wir würden sie niemals wiedersehen.
In den sechs Jahren unseres Hierseins war keiner von uns gestorben, allerdings wurde auch keiner geboren. Dafür musste es einen Grund geben. Gut, wir waren sicher in unserem Camp, dort geschahen keine tödlichen Unfälle. Aber es war schon seltsam, dass keiner an Krebs erkrankte oder einen Herzinfarkt erlitt. Und warum wurde keiner der Frauen schwanger? Es gab hier mittlerweile viele Ehepaare und Pärchen und die Frauen waren zumeist im gebärfähigen Alter.
Wie auch immer, nunmehr ging es zurück zur Erde. Wir wurden mit den räderlosen Bussen zum Terminal gebracht, wo das große Raumschiff schon auf uns wartete. Ich konnte nicht sagen, ob es dasselbe war, welches uns hergebracht hatte. Zumindest sah es genauso aus. Nach und nach betraten alle von uns das Raumschiff, das uns ferngesteuert zu unserem Heimatplaneten bringen sollte.
Alle nahmen ihre Plätze ein. Wir blickten aus den Fenstern und warfen einen letzten Blick auf Gliese. Die Landschaft war majestätisch schön, die Luft war sauber, alles war friedlich. Was würde uns auf der Erde erwarten? Nach unserer Ankunft waren dort vierhundert Jahre vergangen, es wäre das Jahr 2420. Von den menschlichen Bauten wäre wohl nicht viel übrig, das war schon traurig. Aber andererseits ließ sich das nicht ändern und es war auch eine große Chance für uns, alles besser zu machen.
Der Start erfolgte. Bedächtig erhob sich das Raumschiff in den Orbit und beschleunigte erst, als es sich im Weltraum befand. Im Casino gab es ein großes Aussichtsfenster, aus dem wir auf das Weltall blicken konnten. Es war ein erhabener Anblick.
Um uns das neue Leben auf der Erde zu erleichtern, hatten uns die Gliesianer diverse Ausrüstungsgegenstände überlassen, so z.B. Baumaterial für neue Siedlungen, da davon auszugehen war, dass wir auf der Erde keine heilen Gebäude vorfinden würden. Unsere Rückreise zu unserem Heimatplaneten würde etwa sechs Wochen dauern, bis dahin war genug Zeit, um sich seelisch auf die neue Situation vorzubereiten.
Und dann war es soweit: Das Raumschiff der Gliesianer hatte den Orbit der Erde erreicht. Sie sah so aus, wie wir sie kannten. Aber einen Unterschied gab es: Nur noch eine verschwindend geringe Anzahl von Satelliten umkreiste die Erde. Die anderen waren seit langer Zeit abgestürzt. Ein neues Leben auf unserem alten Planeten erwartete uns. Wir waren bereit.
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Tag der Veröffentlichung: 31.12.2019
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