Ende der neunziger Jahre häuften sich bei meiner Mutter die gesundheitlichen Probleme: Gicht und Rheuma nahmen sie sehr mit. Im Sommer 2000, als ich gerade im Urlaub war, erhielt ich dann von meinem Schwager per Handy die Nachricht, dass sie einen Schlaganfall hatte. Ich sollte sofort nach Hause kommen. Das ging aber nicht, zwei Tage später war jedoch ohnehin mein Rückflug.
Von diesem Schlaganfall erholte sie sich relativ schnell. Allerdings gab es schon einige Auswirkungen, sie konnte ihren Haushalt nicht mehr führen und bekam eine Pflegestufe, zunächst nur die unterste. Der Pflegedienst, der von uns beauftragt wurde, erwies sich aber alsbald als unzuverlässig, sodass schon nach wenigen Monaten ein anderer beauftragt werden musste.
Auf das Sprachvermögen hatte der Schlaganfall keine Folgen, wohl aber auf die Motorik. So konnte meine Mutter nicht mehr putzen und auch kein warmes Essen mehr zubereiten. Nun gab es „Essen auf Rädern“. Das war nicht immer schmackhaft.
Dann folgte kurz vor Weihnachten in diesem Jahr der zweite Schlaganfall, der sich stärker auswirkte. Meine Mutter musste in eine Kurzzeitpflege in einem Heim. Das war eine Art Vorgeschmack auf ein Pflegeheim. Die Einrichtung war sehr gut, aber nicht für Dauer-Pflegefälle gedacht, weswegen ich mit Hilfe einer Kollegin intensiv nach einem guten Heim suchte. Die Kollegin, die beruflich mit der Verwaltung von Heimen zu tun hatte, riet dringend von karitativen, kirchlichen und städtischen Heimen ab und empfahl stattdessen eine private Kette. „Die sind wirklich sehr gut. Dort gab es noch nie Ärger und die Abrechnungen stimmen immer“, erklärte die Kollegin.
Diese Kette, die in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen knapp zwanzig Heime betrieb, hatte in Hannover drei Häuser. In einem von den Häusern, das sich im Stadtteil List in der Nähe des Stadtwaldes Eilenriede befand, war gerade ein Platz frei geworden. Nachdem meine Mutter, die sich nunmehr nur noch mit einem Rollator bewegen konnte, aus der Kurzzeitpflege entlassen wurde, fuhr ich mit ihr „nur zum Schnuppern“ in dieses Heim. Es machte wirklich einen sehr guten Eindruck. Doch meine Mutter weigerte sich standhaft, schon in ein Pflegeheim zu müssen. „Es geht doch noch, es geht doch noch“, sagte sie. Nun, so einigermaßen ging es tatsächlich noch und so kehrte meine Mutter in ihre Wohnung zurück.
Vier Monate später, im Frühjahr 2001, kam dann der dritte Schlaganfall. Jetzt ging so gut wie gar nichts mehr bei meiner Mutter, selbst die Körperpflege und der Toilettengang bereiteten ihr Probleme. Mutti wurde in die höchste Pflegestufe hochgestuft und sah jetzt ein, dass sie ins Heim musste. Allerdings war der Platz in dem Heim, dass wir uns angesehen hatten, unterdessen vergeben. In einem anderen Heim der Kette war jedoch noch ein Platz frei. Ohne Probleme bekamen wir die Zusage.
Jetzt kam viel Arbeit auf mich zu: Kündigung des Mietvertrages und der Hausratversicherung, außerdem Abwicklung der Finanzen. Meine Mutter hatte ausreichend Eigenkapital, das nun zum Teil angebrochen werden musste. Das Geld war bei zwei Instituten angelegt: bei der Sparkasse und bei der Volksbank. Während es mit der Sparkasse keinen Ärger gab, erwies sich die Volksbank ziemlich widerspenstig. So konnte ich die Kontoführung nicht zu einer Filiale in der Nähe des Heimes verlegen. „Da muss Ihre Mutter schon persönlich vorbeikommen“, hieß es. Ich konnte den Damen und Herren nicht klarmachen, dass das nicht möglich war.
Die Möbel und der Hausrat mussten auch weg, bzw. in andere Hände gegeben werden. Von der Einrichtung wollte ich selbst nur die schöne Vitrine behalten, die ich gut gebrauchen konnte. Ich inserierte im virtuellen Flohmarkt meines Arbeitgebers. Rasch fanden sich Interessenten für die Wohnzimmereinrichtung und das Schlafzimmer. Auch die Wandbilder und die vielen Platzdeckchen, die meine Mutter angesammelt hatten, fanden Abnehmer. Aber es musste auch einiges entsorgt werden: die Leibwäsche meiner Mutter, Unmengen an Strumpfhosen, die zum Teil ungetragen waren und einige abgelaufene Lebensmittel.
Teilweise riefen mich auch Kollegen an, die etwas für sich selbst oder für soziale Einrichtungen gebrauchen konnten. So meldete sich ein Herr, der nach Bettwäsche für Bethel fragte. Bethel ist eine Stiftung der evangelischen Kirche, die ihren Hauptsitz in Bielefeld hat. Ich gab die weiße Bettwäsche dort gerne hin. In den Mengen, in denen meine Mutter diese hortete, brauchte ich diese wirklich nicht. „Benötigen Sie auch Handtücher?“, fragte ich beim Abholen. Das verneinte er zum Glück, wie sich herausstellen sollte.
Beim Ausräumen der Handtücher, die ich zum Teil behalten wollte, fielen mir nämlich mehrere Hundertmark-Scheine entgegen. Ich war überrascht. Zwar wusste ich, dass meine Mutter, wie viele ältere Leute, Bargeld in der Wohnung hatte, aber ich ahnte nicht, dass sie es in der Wäsche versteckt hatte. In der Geldkassette war hingegen kein Geld, sondern nur Sparbücher und dergleichen. Nun kontrollierte ich die Kleidung, die zu Angehörigen einer Nachbarin nach Polen gehen sollte, aber genau, bevor ich sie abgab. Dort fand sich aber kein Bargeld. Somit konnte ich vier große Plastikbeutel mit Oberkleidung ohne Bedenken weggeben.
Als Nächstes waren die zahlreichen Schuhe meiner Mutter dran. Aus hygienischen Gründen gab ich diese nicht weiter, sondern entsorgte sie in den Sammel-Containern. Es waren derart viele, dass ich drei davon anfahren musste. Kaum hatte ich das erledigt, als mich einen Tag später eine Freundin meiner Mutter anrief und mitteilte, dass sie vor ein paar Monaten ihre neu gekauften Schuhe bei meiner Mutter gelassen hätte. Sie hatte diese anprobiert und sie hatten ihr so gut gefallen, dass sie sie gleich behalten hatte. Das war Pech für die Freundin meiner Mutter.
Meine Verwandten aus Magdeburg meldeten sich. Es war die Tochter meiner Großtante Olga, von der ich schon berichtet hatte, also meine Tante zweiten Grades. Zum Einen erkundigte sie sich nach dem Befinden von Mutti und zum Zweiten wollte sie wissen, ob noch etwas in der Wohnung vorhanden wäre, was sie gebrauchen könnte. Küchengeräte gab es noch reichlich. Und so wanderten die Kaffeemaschine, der Toaster, der elektrische Dosenöffner, Gläser, zwei Kaffee-Service und noch einiges anderes gen Osten.
Allmählich leerte sich die Wohnung. Die Waschmaschine, der Fernseher und das Radio konnte der Freund eines guten Freundes gebrauchen, die Teppiche gingen an den Bruder des Freundes. Irgendwie war das wie ein Ausverkauf eines Einzelhandelsgeschäftes, nach dem Motto: „Alles muss raus“.
Ein paar Sachen wollte aber niemand haben, so z.B. die Matratzen. Ich hatte diese gerade mit Hilfe eines Freundes nach unten gebracht, um sie zum Wertstoffhof zu bringen, als uns Herr Huber, ein Bewohner des Wohnhauses ansprach. „Die sind aber noch ganz gut! Kann ich die haben?“, fragte er uns. Das konnte er und so fuhren wir sie mit dem Fahrstuhl wieder hoch zur Wohnung von Herrn Huber, der ganz oben im elften Stock wohnte. Drei Tage später rief mich eine Nachbarin von Herrn Huber an: „Hier liegen im Treppenhaus zwei Matratzen herum. Gehörten die Ihrer Mutter?“ Es stellte sich heraus, dass Herr Huber diese einfach vor seine Wohnungstür gestellt hatte, weil sie ihm doch nicht gefielen. Wohl oder übel mussten wir die Matratzen abholen und doch noch zur Entsorgung fahren.
Auch der Keller musste ausgeräumt werden. Dort fand ich zu meiner Überraschung ein altes Damen-Fahrrad. Ich wusste gar nicht, dass Mutti noch Fahrrad fuhr. Es landete mit den Matratzen und ein paar Kleinigkeiten beim Wertstoffhof.
Nun war die Wohnung wirklich fast leer, bis auf zwei Küchenstühle, einen kleinen Schrank eines schwedischen Möbelhauses, einen Fernsehtisch und einen Allibert-Schrank. Ich rief eine Entsorgungsfirma an, wies aber darauf an, dass dieser Auftrag sehr klein ausfallen würde. Trotzdem war der Mann beim Abholen sichtlich enttäuscht.
Besenrein konnte ich die Wohnung nach sechs Wochen schließen und den Wohnungsschlüssel an den Vermieter übergeben. Weitere zwei Wochen später kam ein Anruf einer Nachbarin meiner Mutter, die sich als Besitzerin des Fahrrades entpuppte. Ich konnte nur bedauernd mitteilen, dass ihr Rad nicht mehr existierte.
Meine Mutter verbrachte nur etwa achtzehn Monate in dem Heim, dann starb sie im November 2002. Zum Schluss war sie schon sehr verwirrt und hatte auch körperlich stark abgebaut.
Einige Jahre später musste auch meine Tante, die Schwester meines Vaters, in ein Pflegeheim. Da blieb mir aber eine Wohnungsauflösung erspart, die Betreuerin meiner Tante erledigte dieses.
Bildmaterialien: www.profi-entruempelung.de
Tag der Veröffentlichung: 07.12.2019
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