Viktor Zastrowski und sein Kollege Marius Hallbaum betraten am 26. März 2091 gespannt das Zeitreise-Labor in Berlin. Ihr zweiter Auftrag stand an, nachdem sie vor einem Monat erfolgreich den Doggerbank-Zwischenfall im Jahre 1904 beobachtet hatten. Nun stand eine Zeitreise in das zweite Jahrzehnt des 20. Jahrhundert an, so viel wussten sie schon. Professor Clemens Schulze hatte beim letzten Mal erklärt, dass pro Jahrzehnt ein wichtiges Ereignis zu beobachten sei.
„Was meinst du, Marius, wo geht es wohl hin? In diesem Jahrzehnt ist ja viel passiert, z.B. der Sturz des Zaren. Das würde mich persönlich sehr interessieren“, sagte Viktor. Marius nickte und antwortete: „Das kann man wohl sagen. Da war der Bär los, nicht nur der russische. Lassen wir uns überraschen.“
Die beiden begrüßten Professor Schulze und setzten sich. „Meine Herren, seien Sie bereit für Ihre zweite Aufgabe. Diesmal wird es deutlich brisanter als letztes Mal. Es geht in das Jahr 1914!“, erklärte der Professor. „Sarajevo!“, platzte es aus Hallbaum heraus. „Ganz genau. Sie wissen sicherlich, was dort geschah und welche Folgen es hatte. Ich zeige Ihnen jetzt einen kleinen Film von dem Attentat auf den Erzherzog Franz Ferdinand “, entgegnete Schulze.
Sie gingen in das Nachbarzimmer. Der Professor schaltete den Fernseher an. „Gefilmt hat das damals niemand. Wir sehen Ausschnitte aus einem Spielfilm. Er ist aber sehr gut gemacht und ziemlich authentisch“, erklärte der Professor. Der Film startete. Man sah zunächst die Vorbereitungen auf das Attentat. Es gab nicht nur einen Beteiligten, sondern eine ganze Gruppe. Die serbischen Widerstandskämpfer wurden von Oberst Dragutin Dimitrijević angeführt, er war der Drahtzieher der Aktion. Insgesamt waren mindestens weitere zehn Täter bekannt, darunter auch einige junge Bosnier.
Es gab einen ersten Anschlag, der scheiterte. Die Bombe, die geworfen wurde, verfehlte ihr Ziel. Der zweite Anschlag selbst war erfolgreich. Der Attentäter Gavrilo Princip war überrascht, als die Kutsche mit dem Thronfolger und seiner Frau plötzlich direkt vor ihm anhielt, wo er an einem Straßentisch einen Kaffee trank. Er zückte seine Pistole und erschoss zunächst die Frau von Franz Ferdinand und dann ihn. Das Ganze geschah innerhalb weniger Sekunden.
Der Täter versuchte, sich mit Zyankali zu vergiften, was jedoch misslang, weil er es erbrach. Auch der Versuch, sich zu erschießen, scheiterte, weil ihm die Pistole aus der Hand gerissen wurde. Hier endete der Film.
„Meine Herren, das soll nur ein erster Eindruck sein. Ihnen dürften die Folgen dieses Ereignisses hinreichend bekannt sein. Daher werde ich nicht näher darauf eingehen“, resümierte der Professor. Er fuhr fort: „Wie schon beim letzten Mal, sollten Sie nichts verändern und auch möglichst wenig mit den Leuten sprechen. Wenn das nötig ist, sprechen Sie bitte mit einem österreichischen Akzent, um keinen Verdacht zu erzeugen. Herr Hallbaum, Sie haben, soweit ich unterrichtet bin, eine Großmutter aus Wien, insofern dürften Sie dazu in der Lage sein. Herr Zastrowski, Sie tun bitte so, als ob Sie heiser sind. Wenn man Sie als Russen identifiziert, könnte das böse Folgen haben!“
Die beiden Zeitreisenden nickten. Hallbaum sagte: „Auf jeden Fall ist dieses Mal das Wetter angenehmer, es war ja mitten im Sommer, nicht wahr?“ „Richtig, Herr Hallbaum. Genau gesagt am 28. Juni 1914. Es war sonnig an diesem Tag“, antwortete der Professor. Er hatte auch diesmal eine Chronik ausgedruckt, die auf den Stühlen bereit lag. Vier Tage blieben Zastrowski und Hallbaum, um sich seelisch auf die Zeitreise vorzubereiten. Zumindest würde es körperlich nicht so anstrengend werden, wie beim letzten Mal, dafür wesentlich gefährlicher.
Am 29. März 2091 betraten Zastrowski und Hallbaum den Transporterraum. Man hatte sie mit Kleidung aus der damaligen Zeit ausgestattet. Oberhalb einer Metallplatte, die etwa den Durchmesser von fünf Metern hatte, war eine gläserne Kuppel, aus deren Mitte ein armgroßer Stab herausragte. Es hatte sich nichts verändert gegenüber ihrer letzten Reise. Die beiden Zeitreisenden betraten die Platte und verharrten dort. Der Professor drückte einen roten Knopf. Es surrte, augenblicklich später wurden Zastrowski und Hallbaum von einem silbrigen Sternenregen erfasst.
Nur wenige Augenblicke später waren sie in Sarajevo, in einer kleinen Nebenstraße. Die Sonne war gerade aufgegangen. So hatten sie genügend Zeit, um Beobachtungen zu machen. Nur wenige Menschen waren um diese Zeit unterwegs. Zastrowski und Hallbaum schlenderten unauffällig die Straßen entlang. Ein Betrunkener torkelte ihnen entgegen und lallte etwas Unverständliches.
Sie ignorierten ihn und begaben sich zum Rathaus von Sarajevo. Sie hofften, dort auf die Attentäter zu treffen, denn die beiden Anschläge geschahen nicht weit davon. Der erste, der missglückt war, war am Appel-Kai, der sich entlang des Miljacka-Flusses schlängelte.
Hallbaum bemerkte: „Es ist nicht zu fassen, dass man es den Attentätern so leicht gemacht hat. Die Sicherheitsvorkehrungen waren sehr lasch. Offenbar rechnete niemand damit, dass etwas passierte. Außerdem hat man die Ankunft des Thronfolgers auf die Minute genau angekündigt.“ Zastrowski entgegnete: „Es hat ja niemand damit gerechnet, dass etwas passiert. Schon gar nicht, welche Folgen das hatte.“
Offenbar konnte keiner hören, worüber sich die beiden unterhielten. Weit und breit befand sich keine andere Person, so dachten die beiden Zeitreisenden. Doch unbemerkt von den beiden hatte doch jemand zugehört, es war jemand, der Deutsch verstand. Derjenige gab sich nicht zu erkennen und entfernte sich schleunigst, um Meldung zu machen.
Es war Franz Maria Alfred Graf von Harrach, der Kämmerer und Adjutant des Thronfolgers. Er war in einem Voraus-Kommando schon am Vorabend nach Sarajevo gefahren, ihm war die Ehre zu Teil geworden, den Wagen zu Verfügung zu stellen, in denen Franz Ferdinand und dessen Frau sitzen sollte. Von Harrach hatte die Aufgabe vorab die Gegend zu sondieren. Vor lauter Aufregung konnte er in dieser Nacht schlecht schlafen und war sehr früh aufgestanden. Nun wollte er sich die Beine vertreten und machte dabei diese sensationelle Entdeckung.
Der Graf eilte zu seinem Fahrzeug, einen Doppelphaeton, um nach Ilidža zu fahren, wo Franz Ferdinand und seine Gattin nächtigten. Der Ort lag etwa zwölf Kilometer westlich von Sarajevo. Es war ungewohnt für von Harrach, selbst zu fahren. Es war aber Eile geboten, und es war keine Zeit, seinen Fahrer Leopold Lojka, zu wecken. Daher setzte er sich selbst hinter das Steuer. Wenigstens war es schon hell. Von Harrach hasste die Dunkelheit, und noch mehr hasste er es, im Dunklen Auto zu fahren.
Nach gut zwanzig Minuten hatte der Graf sein Ziel erreicht. Der Thronfolger schlief noch selig. Als er geweckt wurde, reagierte er zunächst ungehalten. Das änderte sich, als er den Grund dafür erfuhr. „Das war wirklich sehr ungewöhnlich, Majestät. Die beiden Herren sprachen reines Hochdeutsch. Es waren also weder Österreicher noch Bosnier oder Serben“, erklärte von Harrach. Franz Ferdinand runzelte die Stirn und sagte dann: „In der Tat, das ist seltsam. Die Deutschen sind unsere Verbündeten und Bosnier und Serben sprechen kein reines Deutsch. Ich denke, wir dürfen das aber nicht außer Acht lassen. Andererseits möchte ich mich unbedingt in Sarajevo zeigen. Das ist wichtig. Unter einen Glassturz lasse ich mich nicht stellen. In Lebensgefahr sind wir immer. Man muss nur auf Gott vertrauen. Was meinen Sie, was könnte man tun?“ Der Graf überlegte und antwortete: „Wir könnten die Route ändern. Das wird die Attentäter verwirren. Damit rechnen sie nicht.“ Der Thronfolger zeigte sich einverstanden, und so wurde rasch eine neue Fahrstrecke ausgearbeitet.
Der Graf fuhr mit seinem Auto nach Sarajevo zurück, während Franz Ferdinand und seine Gattin, wie geplant, mit dem Zug von Ilidža bis zur Westgrenze von Sarajevo. Dort stand eine Tabakfabrik, die ein häufiger Ausgangspunkt für Sarajevo-Besuche österreichisch-ungarischer Würdenträger war. Von der Fabrik aus war die Weiterfahrt mit den Autos geplant. Insofern lief die Geschichte so ab, wie sie es zuvor tat. Es hatte nur minimale Abweichungen vom ursprünglichen Verlauf gegeben.
Unterdessen hatten sich Hallbaum und Zastrowski weiter in Sarajevo umgesehen. Allmählich erwachte die Stadt. Die ersten Läden öffneten, zunächst die Bäckereien. Die Straßen belebten sich. „Wir sollten uns zum Appel-Kai begeben. Dort war der erste Anschlag, zwei der Attentäter hatten sich dort positioniert“, schlug Zastrowski vor. „Ja, das waren Mehmedbašić und Čabrinović. Dieser Anschlag scheiterte allerdings“, bestätigte Hallbaum. Er ergänzte: „Vielleicht haben ja Glück und sie sind schon da.“ Mittlerweile war es halb neun. Es blieb noch genügend Zeit.
Am Ort des Geschehens waren einige Leute, wobei eine kleine Gruppe zusammenstand und sich auf serbisch unterhielt. „Das könnten Mehmedbašić und Čabrinović sein. Aber er ist der Dritte?“, bemerkte Hallbaum. Zastrowski antwortete: „Keine Ahnung. Vielleicht bekommen das ja heraus. Lass uns näher herangehen.“ Beide Zeitreisenden beherrschten diese Sprache nicht, hatten aber einige wenige Worte gelernt, die entscheidend waren für die Mission. Sie standen in einiger Entfernung von den Serben, so dass sie sie sehen aber nicht hören konnten. Jedoch hatte man die Zeitreisenden mit Richtmikrofonen ausgestattet, die allerdings so winzig waren, dass man diese nicht entdecken konnte.
Hallbaum und Zastrowski mussten feststellen, dass es sich bei dem dritten Mann um niemand anderem als Oberst Dragutin Dimitrijević, genannt Apis, den Anführer der Attentäter handelte. Er gab den beiden anderen Männern letzte Anweisungen und entfernte sich dann. Hallbaum und Zastrowski begaben sich zum Café Mostar und setzten sich dort an einen der Tische im Außenbereich.
Es wurde zehn Uhr, die Wagenkolonne näherte sich, ganz vorne fuhr ein Polizeiwagen. Insofern verlief die Geschichte so, wie es bekannt war. Gespannt beobachteten die beiden Zeitreisenden das Geschehen. Sie wussten, dass der erste Anschlag scheiterte, weil Mehmedbašić, der die Bombe werfen sollte, nichts unternommen hatte. Er war sich nicht sicher, in welchem der Thronfolger saß. Čabrinović hingegen warf eine Bombe. Sie prallte von dem Arm Franz Ferdinands ab und fiel über das Verdeck nach hinten und explodierte vor dem folgenden Fahrzeug.
„Alles so, wie es sein sollte“, stellte Hallbaum fest. Doch dann geschah etwas Unerwartetes: Der Graf, der im Wagen des Thronfolgers saß, erkannte die beiden Zeitreisenden und sorgte dafür, dass die Kolonne stoppte. Offenbar sah er in den beiden die Verursacher des Anschlags. Er zeigte auf sie und rief etwas Unverständliches.
Es gab einen Riesentumult. Vier Polizisten reagierten und umringten Hallbaum und Zastrowski. Diese waren sichtlich verblüfft. Das hätte nicht geschehen dürfen. Zastrowski konnte in einem Augenwinkel erkennen, dass Gavrilo Princip aus einer Seitenstraße heran strömte und den Thronfolger erschoss, dessen Frau aber nicht. Die Geschichte hatte sich verändert. Zum Einen war der Ort des Attentats verändert, denn der ursprüngliche zweite Anschlag fand in Höhe der Lateinerbrücke statt, und zum Zweiten überlebte die Frau von Franz Ferdinand.
Hallbaum und Zastrowski sahen sich an. „Lass uns hier verschwinden“, flüsterte Hallbaum. Sein Kollege nickte und drückte den Knopf an dem Gerät, das sie für den Notfall mit sich führten. Die Rückholung erfolgte und die beiden Zeitreisenden lösten sich in Luft auf, was verständlicherweise für große Unruhe am Ort des Attentats auslöste.
Kurz darauf erschienen die Zeitreisenden wieder im Transporterraum. „Das hat ja diesmal nicht ganz so gut geklappt, meine Herren“, stellte der Professor fest. Die Abweichung der Zeitlinie betrug 0,32 % zur ursprünglichen Geschichte und war relativ hoch. „Es hat schon einige Auswirkungen gegeben. Die Gemahlin des Thronfolgers, Sophie Chotek, Herzogin von Hohenberg verfiel nach dem Attentat in tiefe Depressionen und starb zehn Jahre später als vorgesehen, im Jahre 1924. Das war nicht so gravierend. Aber dadurch, meine Herren, dass sie von dem Grafen erkannt und als Deutsche identifiziert wurden, gab es diplomatische Verwicklungen zwischen Deutschland und Österreich. Fast wäre es zum Bruch des Bundes zwischen den beiden Ländern gekommen und der erste Weltkrieg wäre ganz anders verlaufen. Das hätte erheblichere Folgen gehabt.“
Hallbaum und Zastrowski schauten betreten. Es war ihnen unangenehm. Der Professor fuhr fort: „Ihr plötzliches Verschwinden sorgte auch für Wirbel. Die Berichte der vier Polizisten wurden als Hirngespinste abgetan. Zwei der vier Herren mussten in die Psychiatrie, und quittierten ihren Dienst. Die anderen beiden waren zwar nicht ganz so verwirrt, und konnten das Erlebte einigermaßen verkraften. Und dann muss ich Ihnen noch etwas zeigen, meine Herren!“
Schulze hantierte an seinem Computer und druckte etwas aus. Es erschienen zwei altmodische Fahndungsplakate mit den Gesichtern von Hallbaum und Zastrowski. Sie waren gut getroffen. „Nächstes Mal, meine Herren, müssen sie sich verkleiden, falls Sie ihre nächste Reise wieder nach Europa führt. Das nächste Abenteuer wartet schon. Aber jetzt ruhen Sie sich erstmal aus“, schloss der Professor seine Ausführungen ab.
Bildmaterialien: www.wikipedia.org
Tag der Veröffentlichung: 03.12.2019
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