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Ziele der Liebe

 

 

Karsten und Beate prosteten sich zu. Vor genau einem Jahr hatten sich die beiden kennen gelernt, als Karsten, verkleidet als Nikolaus, sich im Haus geirrt hatte und statt bei dem kleinen Elias bei Beate geklingelt hatte. Jung waren die beiden nicht mehr, aber ihre Herzen hatten schnell zueinandergefunden.

 

„Lass uns auf dem Balkon gehen, von hier oben hat man einen wunderschönen Blick auf München“, schlug Beate vor. „Einverstanden“, antwortete Karsten. Als sie nach unten blickten, bemerkte Karsten: „Letztes Jahr um diese Zeit lag hoher Schnee. Heute kein bisschen!“ Beate entgegnete: „Stimmt. Aber wir bekommen sicherlich bald Schnee, vielleicht zu Weihnachten.“ Karsten nickte und sinnierte: „Das ist dann unser zweites gemeinsames Weihnachtsfest. Wie schnell die Zeit vergeht. Sie war nicht vergeudet, keine Sekunde!“

 

Dann gingen die beiden wieder herein, weil ihnen kalt wurde. Beate hatte Glühwein gemacht, den konnten sie jetzt gut gebrauchen. Dazu gab es selbstgebackene Kekse. Sie setzten sich aufs Sofa, der silbergraue Pudel „Prinz“ sprang Karsten auf den Schoß und machte es sich dort bequem. „Er mag dich“, stellte Beate fest und lächelte. Sie ergänzte: „Du bist auch ein ganz Lieber. Tiere spüren so etwas.“

 

Karsten erwiderte: „Du aber auch. Was für ein Glück, dass damals die Beleuchtung der Hausnummer ausgefallen war und ich mich verlief. Nur der Elias von Haus 42 hatte kein Glück, denn er bekam sein Nikolaus-Präsent nicht.“ Beate fragte nach: „Was ist eigentlich daraus geworden? Hast du Ärger mit der Agentur bekommen?“ „Nein, da ist nichts nachgekommen, die Eltern haben sich nicht beschwert, warum auch immer“, antwortete Karsten und sah Beate liebevoll an. Diese musste mit einem Male kichern. Das Kichern ging in ein Lachen über, Beate bekam sich gar nicht mehr ein.

 

„Habe ich etwas Falsches gesagt?“, wollte Karsten wissen. Beate schüttelte den Kopf und sagte dann: „Nein, Karsten. Mir ist nur gerade eine verrückte Idee gekommen. Wir können doch Elias nachträglich bescheren, mit einem Jahr Verspätung!“ „Wie soll ich das anstellen? Ich habe doch nichts dabei, keine Orangen, keine Kekse, keine Schokolade...“, entgegnete Karsten. Beate lachte erneut und sagte dann: „Gar kein Problem. Eine kleine Stofftüte mit einem Nikolaus-Motiv habe ich noch herumliegen. Kekse habe ich ja gebacken, wie du siehst und Mandarinen habe ich auch im Haus, und auch Nüsse. Fehlt nur Schokolade.“

 

Jetzt musste auch Karsten lachen. Dann wand er ein: „Aber ich sehe doch jetzt gar nicht aus wie ein Nikolaus.“ Beate erwiderte: „Nimm doch einfach deinen Bademantel, den du neulich mitgebracht hast. Der ist zwar blau, und nicht rot oder grün, aber wer sagt denn, dass Nikoläuse immer gleich aussehen müssen.“ „Aber ein Bart muss sein. Was nehmen wir dafür?“, fragte Karsten. Beate stand auf und kramte in einer Schublade. Dann hatte sie gefunden, wonach sie suchte. „Hier diese Zauberwatte, die ist ideal dafür. Die nimmt man eigentlich zum Basteln“, erklärte sie.

 

So geschah es, dass sich Beate und Karsten zum Nachbarhaus begaben und dort in den 12. Stock herauffuhren. Zum Glück funktionierte der Fahrstuhl. Es war das gleiche, klapprige Modell wie in dem Haus, in dem Beate wohnte. Überhaupt glichen sich die Häuser wie ein Ei dem anderen. Selbst der Geruch war fast identisch. „Jetzt wundert mich nicht, dass du das letztes Jahr verwechselt hast“, bemerkte Beate, während sie nach oben fuhren. „Ja, selbst der Name stimmt überein und sogar die Lage der Wohnung“, antwortete Karsten. Er ergänzte: „Da kann man nur hoffen, dass die andere Frau Meyer immer brav ihre Rechnungen bezahlt, nicht, dass irgendwann ein Gerichtsvollzieher versehentlich deine Wohnung ausräumt!“

 

Dann kamen sie oben an und klingelten an der fünften Tür auf der rechten Seite. Es dauerte eine Weile, bis jemand öffnete. Eine Frau, Mitte dreißig, die einen heruntergekommenen Eindruck machte, öffnete. Mit den Worten „Wir geben nichts“ wollte sie die Tür schon wieder zuschlagen, dann erblickte sie den verkleideten Karsten. „Ist der kleine Elias zu Hause?“, fragte dieser. „Der wohnt nicht mehr hier“, antwortete die Frau in einem griesgrämigen Ton.

 

Das war etwas, was Karsten und Beate nicht erwartet hatten. Noch überraschter waren sie, dass die andere Frau Meyer sie anschließend hereinbat. Die Wohnung war noch schäbiger und schmutziger als sie selbst. Es kostete Beate und Karsten etwas Überwindung, sich auf das verdreckte Sofa zu setzen. Dann schüttete Frau Meyer ihr Herz aus: „Wissen Sie, vor genau einem Jahr hat mich mein Mann verlassen und unseren gemeinsamen Sohn mitgenommen. Seitdem habe ich ihn nur zweimal gesehen: an Ostern und an seinem Geburtstag. Ansonsten haben wir nur telefoniert. Das macht mich total fertig, wie Sie vielleicht sehen.“

 

Beate und Karsten waren tief berührt. Was ein Spaß werden sollte, endete tragisch. Spontan entschieden sie, Frau Meyer, die mit Vornamen Katrin hieß, in Beates Wohnung einzuladen. Beate kochte ein leckeres Essen und so hatte Katrin einen wunderschönen Nikolaustag und war zumindest für ein paar Stunden glücklich. Und auch diese Zeit war nicht vergeudet.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Bildmaterialien: www.ksta.de
Tag der Veröffentlichung: 01.12.2019

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