Edwin und Walter saßen Mitte Oktober auf Edwins Sofa und sahen fern. Werbung lief. „Ich warte schon darauf, dass die ersten Werbespots für Weihnachtsartikel kommen. Das geht ja jedes Jahr eher los“, bemerkte Edwin und nahm einen Schluck Bier. „Das stimmt, Edwin. Lebkuchen und Spekulatius gibt es schon seit Wochen hier im Supermarkt, sogar Schoko-Weihnachtsmänner. Das muss doch nicht sein“, entgegnete Walter.
„Übrigens, was machen wir eigentlich an Weihnachten? Wir sollten mal irgendwo hinfahren, wo wir noch nicht waren“, antwortete Edwin. Walter überlegte und sagte dann: „Wir könnten uns doch mit der Hexe Sabira treffen. Die würde sich bestimmt freuen!“
„Und wo?“
„Na, auf dem Blocksberg natürlich! Da kennen sich alle Hexen aus.“
„Blocksberg? Den gibt es doch gar nicht. Das ist doch nur ein Märchen.“
„Selbstverständlich gibt es den Blocksberg. Man sagt auch Brocken dazu!“
„Ach, du Schlauberger. Und wo ist er, dieser Brocken?“
„Im Harz. Das ist der höchste Berg dort. Er ist über tausend Meter hoch. Meistens ist es dort neblig.“
Walter fuhr fort: „Wir sollten Sabira ein Geschenk mitbringen. Da freut sie sich bestimmt.“ Edwin klatschte in die Hände und rief: „Ich hätte da sogar schon eine Idee. Sabira hat mir letztes Mal gesagt, dass sie sich einen Staubsauger mit Turbolader wünscht. Das wäre doch etwas. Hexen können ja bekanntlich nicht für sich selbst hexen, nur für andere.“ „Super, Edwin. Das ist prima!“
So geschah es, dass Edwin den Staubsauger mit Turbolader besorgte und ihn liebevoll in Weihnachtspapier verpacken ließ. Die Verkäuferin in dem Elektro-Markt schaute etwas merkwürdig. Offenbar geschah es nicht allzu oft, dass jemand einen Staubsauger an Weihnachten verschenkte.
Am 23. Dezember machten sich die beiden auf dem Weg nach Wernigerode. Sie nahmen sich dort ein Hotelzimmer und wollten dann an Heiligabend gemütlich mit der Brockenbahn den Berg erklimmen. Edwin hatte auch für Walter ein Geschenk im Gepäck, und Walter eines für Edwin. Oben auf dem Brocken wollten sie sich die Präsente überreichen.
Am Morgen des Heiligabends erwachten die beiden gut ausgeschlafen. Edwin ging zum Fenster und schaute hinaus. Er erblickte einen strahlend blauen Himmel. „Schau mal, Walter. Wir haben prachtvolles Wetter. Wenn das auf dem Berg auch so ist, haben wir eine herrliche Fernsicht!“, rief er beglückt. Walter rappelte sich aus dem Bett und ging auch zum Fenster. „Du hat recht, Edwin, das ist wirklich herrlich. Wir haben ein Riesenglück!“, pflichtete er bei.
Zwei Stunden später bestiegen Edwin und Walter den Zug mit der kleinen Dampflok. Die Waggons waren gut geheizt, mit einem Kohleofen. „So einen Ofen hatte meine Oma auch noch. Das war immer sehr gemütlich“, bemerkte Walter. Edwin nickte. Der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Er fuhr zunächst an den Straßen von Wernigerode entlang und dann in einen Wald. Die Bäume waren mit Schnee bedeckt, es sah wunderschön aus. Je höher sie kamen, desto mehr wurde der Schnee.
In Schierke hielt der Zug etwas länger, einige Fahrgäste stiegen aus, um den Rest der Strecke hoch zu wandern. „Dazu hätte ich jetzt aber gar keine Lust“, sagte Edwin und nahm noch einen Schluck Bier. Ihren eigenen Vorrat hatten die beiden nicht angebrochen, es gab eine Bewirtschaftung im Zug.
Unterdessen wurde die Vegetation immer karger, die Bäume kleiner. „Das ist ja fast wie im Hochgebirge“, stellte Walter fest. Edwin nickte und fragte: „Für wann und wo hast du dich eigentlich mit Sabira verabredet?“ Walter antwortete: „Gar nicht. Das soll doch eine Überraschung sein.“
Der Zug am an der Bergstation an, alle stiegen aus. Immer noch war der Himmel klar, die Fernsicht war fantastisch, man konnte bis nach Braunschweig sehen. Edwin und Walter gingen bis zur Wetterstation und sahen sich um. „Übersichtlich hier“, stellte Edwin fest. Außer der Wetterstation gab es noch das Bahnhofsgebäude, das Brockenhaus, ein Hotel, ein Technikgebäude und den Fernmeldeturm.
Edwin räusperte sich und bemerkte dann: „Und was ist jetzt mit Sabira, Walter?“ Dieser antwortete: „Keine Ahnung. Ich kann sie ja mal anrufen.“ Er holte sein Handy heraus, um festzustellen, dass er hier oben keinen Empfang hatte. Ein älterer Mann bemerkte das und sagte: „Hier werden Sie kein Glück haben mit dem Handy!“ Walter fragte nach: „Und was ist da drüben mit dem Sendeturm?“ „Der ist für Rundfunk und Fernsehen“, entgegnete der Mann.
Edwin schlug vor, auf den Ärger ein Bier zu trinken. Doch von ihnen mitgebrachte Gerstensaft war unterdessen gefroren, so dass sich die beiden zur Brockenherberge begaben. Dort gab es zwei Restaurants. Das eine, das Edwin und Walter wählten, war kantinenmäßig ausgebaut. Man musste die Speisen beim Küchenpersonal ordern und die Getränke aus einem Kühlschrank entnehmen, um dann mit seinem Tablett zur Kasse zu gehen.
Mit Mühe fanden sie einen Sitzplatz, es war proppenvoll. Walter schlug vor: „Lass uns unsere Geschenke austauschen.“ Beide überreichten sich ihre Präsente. Sie waren jeweils ziemlich flach und rechteckig. Walter packte sein Geschenk als Erster aus. „Ein Zauberbuch!“, rief er überrascht. „Ja, du hat doch deines damals weggeworfen, als dir das Missgeschick mit dem Zaubertrank passiert ist. Damit das nicht noch einmal vorkommt, habe ich darauf geachtet, dass die Zauberei auch ohne irgendwelche merkwürdigen Mixturen gelingt. Du musst einfach nur einen Spruch aufsagen. Das Buch ist auch fast komplett, es fehlt nur eine einzige Seite“, entgegnete Edwin.
Walter freute sich sehr und bedankte sich überschwänglich. „Jetzt musst du aber auspacken, Edwin!“, sagte er. Dieser nickte und öffnete sein Geschenk. Es war auch ein Buch, aber ein Kochbuch mit dem Titel „Kochen, leicht gemacht“. Edwin war etwas irritiert und fragte nach: „Hat dir das Gulasch nicht geschmeckt, Walter?“ „Doch schon, aber ich dachte mir, es könnte dir ja wieder etwas misslingen, wie bei der Sache mit dem Salz. In dem Buch findest du auch Rettungstipps für solche Probleme.“
Edwin sah nach draußen und sagte: „Die Aussicht ist wirklich herrlich. Die Brockenherberge hat auch eine Aussichtsplattform. Von da kann man bestimmt noch mehr sehen. Lass uns da hoch gehen.“ Sie mussten jedoch feststellen, dass das kostenpflichtig ist. Das Geld wollte sie sich sparen. Walter hatte eine Idee: „Lass uns zum Fernmeldeturm gehen. Der hat doch mehrere Plattformen. Ich werde uns da hoch zaubern.“ Edwin war begeistert.
So verließen die beiden die Herberge und gingen zu dem Turm, er war nicht weit entfernt. Er war über und über mit Eis und Schnee bedeckt. Inmitten der obersten Plattform war eine rot-weiße Spitze, die sich nach oben verjüngte, und wie eine kleine Rakete aussah.
Walter wollte gerade mit dem Zauberspruch beginnen, als ihn Edwin unterbrach. „Es ist besser, wenn nur einer von uns nach oben gezaubert wird. Nur, für den Fall, das etwas schief geht“, gab er bedenken. Das sah Walter ein und entschied, dass Edwin die Ehre haben sollte, nach oben gezaubert zu werden. Walter murmelte den Zauberspruch und zeigte, gemäß den Anweisungen des Buches, auf Edwin. Ehe sich dieser versah, befand er sich auf der obersten Plattform.
„Super, man hat eine tolle Aussicht hier oben. Es ist aber etwas eisig“, rief Edwin. „Pass auf, dass du nicht herunterfällst. Es ist bestimmt glatt da“, antwortete Walter. Das konnte Edwin nur bestätigen. Nach zehn Minuten wurde es ihm allmählich zu kalt, und er bat Walter, ihn wieder herunter zu zaubern. Dieser blätterte verzweifelt in dem Zauberbuch, fand aber den entsprechenden Zauberspruch nicht.
„Ich habe eine schlechte Nachricht, Edwin. Ich fürchte, dass der Spruch auf der Seite im Buch steht, die fehlt“, rief Walter zu Edwin hoch. Unterdessen hatte sich eine gehörige Menschenmenge vor dem Turm versammelt. Sie fotografierten und filmten die kuriose Szene. Jemand von den Zuschauern bemerkte: „Wie ist der Typ überhaupt da hoch gekommen?“
„Dann hol eine Leiter, Walter“, entgegnete der verärgerte Edwin. Doch leider ließ sich auf dem gesamten Brocken-Plateau keine so hohe Leiter auftreiben. Man sagte Walter, dass man eine solche erst aus Wernigerode oder Schierke mit der Brockenbahn hochholen müsste. Dummerweise war der Zug aber gerade talwärts gefahren, erst frühestens in einer Stunde wäre er wieder zurück. Immerhin erfuhr Walter, dass es am Bahnhof ein Festnetz-Telefon geben würde. Kurz entschlossen rief er dort den Hexen-Notdienst an. Er hoffte, dass die Zentrale auch an Weihnachten besetzt sei. Er hatte Glück und erreichte dort jemand. Walter ließ sich zu Sabira durchstellen, die sofort bereit war, zu kommen.
Eine halbe Stunde später traf die Hexe unter großem Gejohle der Menge am Brocken an. Edwin war schon völlig durchgefroren. Sabira konnte ein Lachen nicht unterdrücken und sagte: „Na, das habt ihr ja mal wieder toll hinbekommen. Ja, ja, diese Hobby-Zauberer.“ Sie sagte einen Zauberspruch auf, den sie auswendig konnte. Unmittelbar danach stand Edwin wohl behalten neben Walter und Sabira.
„Frohe Weihnachten, liebste Sabira“, riefen Edwin und Walter fast gleichzeitig. „Und hier ist ein Geschenk für dich, Sabira. Es ist von uns beiden“, ergänzte Walter. Er überreichte Sabira das große Paket. Diese war sichtlich überrascht und packte es umgehend aus. Nachdem sie das Geschenkpapier entfernt hatte, rief sie begeistert: „Ein Staubsauger mit Turbolader. Ihr seid ja wahnsinnig. So einen wollte ich schon immer haben. Edwin weiß ja, dass mein alter Besen in die Jahre gekommen ist. Und mit so einem Staubsauger bin ich natürlich viel schneller bei Euch, wenn Euch mal wieder etwas misslungen ist!“ Die drei verbrachten danach einen wundervollen Heiligabend in der Brockenherberge und feierten dort ausgiebig.
Tag der Veröffentlichung: 30.10.2019
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