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Papas Schicksal

 

 

 

Mein Vater Herbert wurde am 10. November 1918 in Zoppot, einem mondänen Ostseebad in der Nähe von Danzig, als drittes von vier Kindern geboren. Sein Vater Hermann war Reichsbahnbediensteter, genauer gesagt Schrankenwärter und hatte somit ein zwar bescheidenes, aber gesichertes Einkommen. Ihn habe ich nie kennen gelernt. Er starb bereits Ende der dreißiger Jahre. Die Mutter meines Vaters, also meine Großmutter, hieß Ida und starb 1965. Als kleines Kind begegnete ich ihr noch kurz vor ihrem Tode.

 

Die älteste Schwester meines Vaters hieß Erika und ist schon 1938 nach Schweden ausgewandert, nachdem sie in Zoppot ihren Freund und späterem Ehemann begegnete und sich sogleich in ihn verliebte. Er war Besitzer einer Streichholzfabrik und sehr vermögend. Hildegard, die zweitälteste Schwester betrieb mit ihrem Mann Werner bis kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges ein Hotel in dem Badeort und flüchtete dann in das Gebiet der ehemaligen DDR, wo Werner als Finanzbeamter arbeitete, aber sehr bald in politische Ungnade fiel und in den Westen ausreisen musste. Sie zogen nach Detmold, also nach Nordrhein-Westfalen. Der jüngste Spross der Familie hieß Ernst und fiel im Krieg auf tragische Weise. Er war zwar Soldat, aber nicht im Kampfeinsatz, sondern Kameramann der Wochenschau und wurde während der Dreharbeiten durch seine Kamera erschossen.

 

Von alldem hat mir mein Vater oft erzählt, als ich noch sehr klein war und nachts nicht einschlafen konnte. Die tragische Geschichte von Ernst kam allerdings erst in späteren Jahren zu Tage. Stattdessen berichtete Papa davon, dass er gemeinsam mit seinen Geschwistern den Kirschbaum des Nachbarn plünderte, von diesem erwischt und verprügelt wurde. Das war aber frei erfunden. Mir fiel schon alsbald auf, dass etwas nicht stimmen konnte, dann Papa verwechselte beim wiederholten Erzählen der Geschichte einige Details. So wurde aus dem Kirschbaum plötzlich ein Pflaumenbaum. „Papa, da stimmt aber etwas nicht. Letztes Mal hast du das noch ganz anders erzählt!“, bemerkte ich.

 

Mein Vater begann in sehr jungen Jahren eine Lehre als Klempner und Installateur, die er erfolgreich abschloss. Doch er konnte seinen Beruf kaum ausüben, dann der Zweite Weltkrieg begann, fast vor der Haustür seines Wohnortes. Mein Vater wurde eingezogen. Von seinen Kriegserlebnissen hat er mir und meinen Freunden oft und ausführlich erzählt. Allerdings entsprach auch hier nicht alles der Wahrheit, sondern entstammte oftmals „Landser“-Heften, welche mein Vater mit Begeisterung las. Das stellte ich durch Zufall fest, als mir während meiner Bundeswehrzeit einige dieser Hefte in die Hände fielen. Ich nahm das meinem Vater aber nicht übel.

 

Definitiv fest steht aber, dass mein Vater kurz vor Ende in englische Gefangenschaft geriet, aber nur sehr kurz. Eine Geschichte davon ist es wert, erwähnt zu werden. Ein dunkelhäutiger englischer Soldat sagte zu meinem Vater: „Du weißes Schwein, ich schwarzes Schwein, wir beide Kamerad!“ Das hat meinen Vater sehr bewegt und dazu geführt, dass er (und später auch ich) England immer sehr sympathisch fand. Das galt auch für die englischen Frühstücksgewohnheiten. Bis auf Porridge liebe auch ich das englische Frühstück.

 

Nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft zog mein Vater, da er in seine Heimat nicht zurück konnte, nach Niedersachsen, genauer gesagt nach Peine, das liegt zwischen Hannover und Braunschweig. Er fand dort Arbeit in einem Kali-Salzbergwerk, welche sehr gut bezahlt wurde, da sie nicht ungefährlich war. In Peine lernte mein Vater auch seine erste Frau kennen. Sie hieß Ursula. Diese Ehe wurde jedoch nach weniger als einem Jahr annulliert, weil Ursula verschwiegen hatte, dass sie Epileptikerin war. Unglaublich, dass das seinerzeit ein Grund für eine Annullierung der Ehe war.

 

Meinen Vater zog es daraufhin nach Hannover. Er kehrte wieder in seinen Lehrberuf in eine Klempnerei zurück und berichtete später stolz und sehr oft davon, dass er beim Wiederaufbau der hannoverschen Stadthalle die Heizungsanlage verlegt hatte. Immer, wenn ich in einer Veranstaltung im „Kuppelsaal“ war, musste ich daran denken.

 

Mein Vater blieb nicht lange allein und lernte Anfang 1950 seine zweite Frau kennen, die Thekla hieß. Aus dieser Ehe gingen zwei Kinder hervor: Christa und Peter. Aber auch diese Verbindung hielt nicht lange, da Thekla in zwei Dingen sehr gut war: Geld ausgeben und Schulden machen. Das führte zur Scheidung im Jahre 1956. Mein Vater war davon so deprimiert, dass er versuchte, sich mit Schlaftabletten das Leben zu nehmen. Er lag mehrere Tage bewusstlos in einem Gebüsch, bevor er gefunden wurde. Folge des Selbstmord-Versuches war eine versteifte rechte Hand, weswegen er seinen Beruf nicht mehr ausüben konnte.

 

In den fünfziger Jahren war es noch sehr leicht, wieder Arbeit zu finden. Mein Vater wurde bei Continental angestellt, der weltbekannten Gummifabrik, allerdings nicht in der Fabrikation, sondern als Fahrstuhlführer im Verwaltungsgebäude der Firma. Ja, so etwas gab es damals!

 

1959 gab mein Vater eine Kontaktanzeige auf und lernte dabei meine Mutter Alma kennen, welche auch schon eine gescheiterte Ehe hinter sich hatte. Die beiden heiraten am 30. Dezember 1960, ich kam dann am 28. Oktober 1961 zur Welt. Wir wohnten zu viert in kleinen Wohnung in Hannover-Kleefeld: meine Eltern, mein Bruder Hans-Joachim (aus der ersten Ehe meiner Mutter) und ich. Die Wohnung war winzig klein und hatte die Toilette noch separat im Treppenhaus. Ein Badezimmer gab es nicht, man wusch sich in der Küche am Spülbecken.

 

1968 bezogen wir eine größere Wohnung, wo Achim sein eigenes Zimmer bekam, ich schlief im Schlafzimmer meiner Eltern, ebenso wie Peter, der zu uns zog. Christa lebte in einem Erziehungsheim. Bald darauf schlug das Schicksal der Rationalisierung zu: Continental stellte auf selbstfahrende Fahrstühle um, mein Vater wurde ins Gummiwerk nach Hannover-Stöcken versetzt. Er musste dort die Eisenbahnwagons wiegen, die in das Werk hineinfuhren und sie wieder verließen.

 

Doch auch dieser Job war nicht für die Ewigkeit: 1974 übernahm die Bundesbahn diese Aufgabe. Mein Vater kehrte ins Conti-Hochhaus zurück, als Hilfskraft in der Abrechnungsabteilung. Die Außendienstmitarbeiter mussten ihre Belege über Spritkosten und Bewirtung vorlegen. Hier wurde überprüft, ob alles korrekt eingereicht wurde.

 

Wenige Jahre danach wurde mein Vater krank und konnte gar nicht mehr arbeiten. Er wurde immer schwächer und das Atmen fiel ihm schwer. Papa wurde Frührentner. Das es sich bei dieser Erkrankung um eine relativ seltene Erbkrankheit handelte, erfuhren wir erst sehr viel später. Es war Alpha-I-Antitrypsin-Mangel, ein Mangel an einem bestimmten Enzym, welches dafür verantwortlich ist, das Schadstoffe in der Lunge abgebaut werden. Als starker Raucher war mein Vater davon erheblich betroffen, später auch Christa und Peter.

 

Mein Vater starb Anfang 1990 im Alter von 71 Jahren, kurz nach Zusammenbruch des Ostblocks. Nun hätte er zwar in seine alte Heimat ins jetzige Polen reisen können, war aber gesundheitlich dazu schon lange nicht mehr in der Lage. Ich bin meinem Vater dafür dankbar, dass er trotz aller Widrigkeiten in seinem Leben stets sein Schicksal gemeistert hat.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 01.08.2019

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