Als Kind war ich sehr kränklich und dazu stark untergewichtig. Da meine Eltern darüber hinaus wenig Geld hatten und sich kaum einen Urlaub mit uns Kindern leisten konnten, hatte ich dreimal das Glück eine Kinderkur verordnet zu bekommen.
Beim ersten Mal ging ich noch nicht zur Schule, es war im Herbst 1967, ich war knapp sechs Jahre alt. Mein Ziel war eine Nordseeinsel, nämlich Föhr, genauer gesagt ging es nach Wyk. Das war meine erste große Reise! Ich war entsprechend aufgeregt. Mit dem Zug ging es von Hannover über Bremen nach Norddeich/Mole, und von da weiter mit einer Fähre. Natürlich mussten wir Kinder nicht alleine reisen, es gab mehrere Betreuer, welche mitfuhren.
Ich wurde nicht seekrank, obwohl die See ganz schön stürmisch war. Wahrscheinlich lag es an der Aufregung. Dann kamen wir an. Mit mehreren Kleinbussen wurden wir zum Kinderheim gebracht. Dort standen schon mehrere „Tanten“ (so mussten wir sie nennen), die uns in Empfang nahmen. Ich kam in die Gruppe von „Tante Barbara“, eine Frau, die damals Mitte zwanzig bis Anfang dreißig war. Sie war sehr nett, aber das müssen Erzieherinnen wohl sein.
Die erste Nacht in dem großen Schlafsaal ohne Mutti und Vati war natürlich schlimm, für mich und für alle anderen Jungs. Fast alle weinten, so dass an Schlaf kaum zu denken war. Doch im Laufe der Wochen beruhigten wir uns. Spannend waren die Ausflüge ans Meer, so etwas kannten die meisten von uns nicht. Am Strand sammelten wir Muscheln und auf den Weg dahin Hagebutten und Kastanien. Daraus bastelten wir dann etwas, natürlich mit großer Hilfe.
Es gab oft Fisch zum Mittagessen, was mir gar nicht gefiel. Ich kannte zwar schon Fischstäbchen, aber doch nicht diesen schrecklichen Kochfisch! Das war igitt! Das ging allerdings den meisten Kindern so, und ich war ja sowieso ein eher mäkeliger Esser. Meine Mutter zwang mich nie, etwas zu essen, was ich nicht mochte. Andererseits lernte ich bei dieser Kur auch bislang unbekannte Speisen kennen, die mir durchaus schmeckten, z.B. Müsli.
Die gesunde Seeluft tat mir gut, aber Heimweh hatte ich trotzdem. Wir hätten zwar telefonieren dürfen, aber da meine Eltern seinerzeit noch kein Telefon hatten, gestaltete sich das schwierig. Lesen konnte ich zwar schon etwas, aber noch nicht sehr gut. So erging das den meisten von uns Kindern. Wir verstanden uns gut, obwohl keiner sich vorher kannte. Nur bei einer Sache gab es etwas Streiterei: um die Zahnpasta. Das klingt komisch und muss erklärt werden. Uns wurden alle Tuben abgenommen, die wir von zu Hause mitgebracht hatten, die Erzieherinnen nahmen immer nur eine Tube für alle. Einer von uns hatte Zahnpasta mit Erdbeergeschmack dabei. Die war sehr begehrt! Wer das Pech hatte vor dem Zähneputzen noch einmal auf den Topf zu müssen, ging leer aus, wenn in dieser Zeit die Zahnbürsten bestückt wurden, irgendjemand „klaute“ sich die leckere Zahnpasta.
Die sechs Wochen Kur zogen sich – gefühlt für ein Kind – endlos hin, waren dann aber schließlich doch vorbei. Es ging wieder nach Hause, rechtzeitig zu meinem Geburtstag war ich wieder bei Mutti und Vati.
Zwei Jahre später, im Jahr 1969, bekam ich die nächste Kinderkur verordnet, diesmal ging es südlich, nämlich nach Bad Sachsa, das liegt im Südharz. Hier war es so, dass die Eltern ihre Kinder selbst bis zum dortigen Bahnhof bringen mussten. Meine Mutter fuhr mit mir daher mit dem Zug dahin, zu meiner großen Freude war er mit einer Dampflok bespannt. Am Bahnhof war dann die tränenreiche Übergabe der Kinder. Es ging dann mit Bussen ins Kinderheim „Im Borntal“, welches aus acht kleineren, verstreut liegenden Holzhäusern, bestand. Welche dunkle Geschichte dieses Heim hatte, ahnte ich damals nicht. Dazu später mehr.
In dem Haus, in dem ich unterkam, wurden wir Jungens in drei Gruppen, je nach unserem Alter, aufgeteilt. Die ganz kleinen waren die Wichtel, die mittleren waren die Bären und die größeren hießen Adler. Ich gehörte zu der Bärengruppe. Die Schlafsäle waren im ersten Stock, im Erdgeschoss war die Küche und der große Speisesaal, wo sich eine Terrasse anschloss.
Das war hier eine ganz andere Atmosphäre als in Wyk. Zwar auch freundlich, aber viel strenger. Außerdem wurden bestimmte Jungens bevorzugt behandelt. Wer blonde Haare und blaue Augen hatte, war ganz oben auf. „Das ist noch ein richtiger, schöner deutscher Junge mit blonden Haaren, nicht so die vom Ausland versetzten mit den schwarzen Haaren“, sagte eine der älteren Erzieherinnen zu einem von uns, der Michael hieß. Dieser strahlte. Hier merkt man schon beim Lesen, welche Gesinnung diese Dame hatte. Wie ich sehr viel später erfuhr, diente dieses Kinderheim schon zur Nazizeit zur Kindererholung, und in den Jahren 1944/45 zur Unterbringung der Kinder der Beteiligten des Attentates auf Hitler in der Wolfsschanze. Aber das nur am Rande. Von alldem ahnten und wussten wir natürlich damals nichts.
Ein Wald schloss sich dem Gelände des Heimes an. Dorthin wurden ausgiebige Spaziergänge gemacht. Wir konnten da Eichhörnchen und gelegentlich auch Rehe beobachten. Diese waren jedoch recht scheu. Bei den Spaziergängen trafen wir auch auf die Kindergruppen, die in den anderen Häusern untergebracht waren. In einem der Häuser waren die übergewichtigen Kinder untergebracht, was ich sehr erstaunlich fand, weil ich dachte, dass man Kuren nur zum Zunehmen verordnet bekommt.
Wir wurden in den sechs Wochen auch unterrichtet, da die Kur die großen Ferien überschritt. Der Unterricht war in einem kleinen Holzhaus mitten im Wald und war jahrgangsstufenübergreifend, ich bekam also unter anderem Rechenaufgaben der vierten Klasse, die ich zur Freude der älteren Lehrerin schon lösen konnte. Das schönste für mich war die Post, die von Mutti kam. Dem Brief war auch immer die Comic-Seite der Programmzeitschrift Hör Zu beigefügt, wo mich die Abenteuer von dem Igel Mecki und seinen Freunden begeisterten.
Die dritte Kur war 1972. Wieder gab es ein anderes Ziel, es ging in den Schwarzwald, nach Freudenstadt. Eigentlich war es keine richtige Kur, sondern eher eine Kinderlandverschickung. Sie war auch nicht von der LVA organisiert, sondern von der evangelischen Kirche. Meine Mutter hatte im Gemeindeblatt unserer Petri-Gemeinde in Hannover-Kleefeld davon gelesen und mich angemeldet. Sie dauerte auch nur drei Wochen. Der große Vorteil war, dass drei Kinder, die ich kannte, mitfuhren, so dass diesmal nicht nur Unbekannte dabei waren.
Das Kindererholungsheim war ganz anders als das im Harz. Es gab nur ein großes Haus mit mehreren Etagen. Die Erzieherinnen sprachen den heimischen Dialekt dieser Gegend, was für uns ungewohnt und etwas komisch war. Vor den Mahlzeiten wurde immer gebetet, und auch vor dem Zu-Bett-Gehen. Das Essen war sehr gut, besser als bei den vorherigen Kuren. Spätzle kannte ich vorher noch nicht, meine Mutter auch nicht, wie ich zu Hause feststellen musste. Ihr ist es niemals gelungen, diese richtig zuzubereiten.
Auch hier wurde viel gewandert und das führte dazu, dass ich die Gegend um den Schwarzwald bis heute liebe. Allerdings sollte es bis 1996 dauern, bis ich dorthin zurückkehrte. Von meiner Reise nach Freiburg habe ich ja schon vor längerer Zeit berichtet.
Kinderkuren sind ein probates Mittel für Familien, denen es finanziell nicht so gut geht. Den Kindern werden die schönen Gegenden Deutschlands gezeigt und sie können sich gut erholen, auch wenn das Personal in den Kliniken manchmal etwas eigenartig ist.
Bildmaterialien: www.deutschlandfunkkultur.de
Tag der Veröffentlichung: 04.06.2019
Alle Rechte vorbehalten