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Das Projekt Einstein

 

 

Gut gelaunt fuhr ich zur Arbeit. Heute war mein Geburtstag. Meine beiden Kollegen, Sarah O’Brian, und Vladimir Kaspersky, hatten mir gestern versprochen, dass eine Überraschung auf mich warten würde. Was würde es wohl sein? Ich war gespannt.

 

Als ich das Büro betrat, intonierten die beiden „Happy Birthday“ und auf meinem Schreibtisch standen echte Blumen. „Die sind nicht aus dem Generator“, betonte Sarah und drückte mich. Das Knuddeln war für mich noch schöner als der Blumenstrauß. Vladimir ergänzte: „Das ist aber noch nicht deine Überraschung, Sebastian!“. „Du darfst heute unser Ziel aus der Liste aussuchen. Der Computer hat sozusagen Pause“, sagte Sarah und lächelte.

 

Die Liste der Ereignisse und Personen, die es zu beobachten galt, war noch recht lang. Aber ich brauchte nicht lange überlegen. Für mich als Physiker gab es mehrere Idole, doch das Größte war eindeutig Albert Einstein. Und so mussten wir uns nur noch dafür entscheiden, welche Station von Einsteins Leben wir beobachten wollten. Es gab ja sehr viele, die interessant waren und darüber hinaus hatte er des Öfteren seinen Aufenthaltsort gewechselt.

 

Schließlich beschlossen wir, zunächst im Raum Berlin zu bleiben, wo Einstein von 1914 bis 1932 lebte. Die Zeitmaschine musste sich diesmal also örtlich kaum bewegen. In der Waldstraße 7 in Caputh bei Potsdam hatte der berühmte Physiker seinerzeit ein Sommerhaus. Das war zum Beobachten ideal.

 

Wir entschieden uns für das Jahr 1930. Einstein hatte das Haus ein Jahr zuvor erstmals genutzt. Und richtig: Auf der Veranda des roten Holzhauses sahen wir ihn, mit einer Frau, Händchen haltend. „Das muss Elsa, seine damalige Ehefrau sein“, erklärte Sarah und zoomte näher heran. Einstein sah glücklich aus. Neben ihn, auf einem Holztisch, lag ein vollgekritzelter Notizblock. „Ich bin ja versucht, seine Notizen zu lesen“, sagte Vladimir. „Es könnte etwas Wichtiges sein – oder nur ein Einkaufszettel“, antwortete Sarah. Wir zoomten auf den Zettel, der mehrere Formeln enthielt.

 

Ich erkannte sofort, worum es ging: „Das ist ein Gedankenexperiment, um die Unvollständigkeit der Quantenmechanik zu zeigen. Einstein nannte das Photonenwaage. Er hat es im gleichen Jahr auf der Solvay-Konferenz seinem Freund und Kollegen Niels Bohr vorgestellt. Übrigens gibt es in diesem Zusammenhang ein wunderschönes Zitat von ihm: Ein Freund ist ein Mensch, der die Melodie deines Herzen kennt und sie dir vorspielt, wenn du sie vergessen hast.“ Anerkennend sahen mich mit meine beiden Kollegen an. Sarah fragte: „Und? Was ist aus dem Experiment geworden?“ Ich antwortete: „Nun, Bohr hat ihn zusammen mit Wolfgang Ernst Pauli und Werner Karl Heisenberg nur einen Tag später widerlegt, übrigens unter Hinweis auf die allgemeine Relativitätstheorie. Welch eine Ironie!“ 1915 hatte Einstein die allgemeine Relativitätstheorie publiziert, zehn Jahre nach der speziellen Relativitätstheorie. Dafür gab es aber keinen Nobelpreis, sondern erst im Jahre 1921 für die Entdeckung des photoelektrischen Effekts.

 

Nach kurzer Diskussion flogen wir in das Jahr 1915, um das näher zu untersuchen. Das schien auch interessanter zu sein. Unser Ziel war die „Universität zu Berlin“, wie sie damals hieß. Ansässig war, und ist sie immer noch „Unter den Linden 6“ im Palais des Prinzen Heinrich, sozusagen hier gleich um die Ecke. Fasziniert blickten wir auf das schöne Gebäude. „Einstein hatte dort zwar eine Lehrberechtigung, aber keine -verpflichtung. Er war nicht oft dort“, gab Sarah zu bedenken. Sie hatte vollkommen Recht, aber es war trotzdem ein guter Anhaltspunkt und außerdem musste ja nicht alles stimmen, was überliefert war. Das hatten wir ja schon öfters feststellen müssen.

 

Nach einigem Vor- und Zurückspulen erblickten wir Einstein. Er hatte etwas in der Hand, es war ein kleiner Koffer. Das Universalgenie ging auf einen anderen Mann zu. Ich erkannte ihn. „Das ist Niels Bohr“, erklärte ich und fragte irritiert: „Was macht der in Berlin?“. „Das ist eine gute Frage. Wir sind ja mitten im Ersten Weltkrieg!“, antwortete Sarah. „Niels Bohr war Däne, und Dänemark war neutral in diesem Krieg“, ergänzte sie.

 

Jedenfalls beobachteten wir die beiden. Einstein übergab Bohr den Koffer und erhielt dafür von ihm einen großen, braunen Umschlag. Die beiden Physiker verabschiedeten sich und gingen getrennten Weges. Wir verfolgten Einstein. Er ging in Richtung einer Parkbank und musste dafür eine Straße überqueren. Einstein blickte nach oben. Irgendetwas hatte er gesehen. Vielleicht unsere Flugmaschine? Das wäre schlecht. Wir wollten ja nicht entdeckt werden. Ohne auf den Verkehr zu achten, trat Einstein auf die Straßen. Ein mit Kohlen beladener Lastwagen näherte sich. Er hupte und Einstein schreckte auf, er konnte gerade noch auf den Bürgersteig zurückspringen, jedoch ließ er den Umschlag fallen, der in einen Gully hineinfiel.

 

„Scheiße. Das ist großer Mist!“, rief Vladimir und Sarah nickte. „Immerhin ist Einstein nichts passiert. Das ging gerade noch einmal gut“, entgegnete ich. Einstein schaute in den Gully und versuchte vergeblich den Umschlag herauszufischen. Er fluchte. „Was machen wir jetzt? Können wir den Umschlag nicht wieder hervorholen?“, wollte ich wissen. Kaspersky antwortete: „Das wird schwierig bis unmöglich. Wir können nicht den gesamten Gullyschacht abscannen. Aber wir können schauen, wo Bohr hingegangen ist.“ Wir zoomten auf und suchten die Gegend ab. Von Bohr war nichts zu sehen. Er konnte natürlich in einem Hauseingang oder einer Straßenbahn verschwunden sein.

 

Daher entschieden wir uns dafür, zum Zeitpunkt der Übergabe zurückspringen und dann Bohr zu beobachten. „Warum holen wir uns den Umschlag nicht einfach her und schauen nach, was drin ist? Danach können wir ihn ja wieder zurücktransportieren, so wie wir es mit den Gesetzestafeln von Moses gemacht haben!“, schlug ich vor. „Das ist brillant, Sebastian. Du hast heute aber einen guten Tag. So machen wir es!“, antwortete Vladimir. Er drückte ein paar Knöpfe an der Konsole und unmittelbar darauf verschwand der Umschlag aus der Hand von Bohr und materialisierte sich bei uns.

 

Gespannt öffneten wir ihn. Der Bogen war handgeschrieben, die Schrift war krakelig und schwer zu lesen. Eine Konstruktionszeichnung war es nicht. Sarah ging zum Fenster. „Da steht nur ein Satz, der aber hundertmal“, stellte sie enttäuscht fest. „Nun lass uns nicht in Dummheit sterben! Was steht da?“, fragte Vladimir ungeduldig.

 

„Nun, da steht: Wenn die Birne stirbt, stirbt der Mensch. Das ist wirklich sehr merkwürdig und ergibt wenig Sinn!“, antwortete Sarah. „Wohl war, ich kenne den Spruch: Wenn die Biene stirbt, stirbt der Mensch. Der wurde Einstein immer zugeschrieben, er soll es aber nie gesagt haben“, bemerkte Vladimir. „Tja, hat er ja auch nicht, weil der Spruch ja im Gully gelandet ist“, resümierte Sarah, steckte den Zettel wieder in den Umschlag, und transferierte ihn zurück. So wurde Einstein davor bewahrt, einen unsinnigen Spruch in die Welt zu setzen.

 

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Tag der Veröffentlichung: 13.05.2019

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