Hauptkommissar Torsten Seegers lehnte sich entspannt zurück. Noch eine halbe Stunde, dann hatte er Feierabend. Das Wochenende nahte. Er wollte mal wieder nach Hannover fahren, um sich dort mit ein paar alten Freunden zu treffen. Seit er vor drei Jahren von dort hier nach Osterode versetzt wurde, hatte er sie nicht mehr gesehen. Hier war es zwar sehr nett und ruhig, aber um einen drauf zu machen, war der Südharz eher ungeeignet.
Sein Kollege, Kommissar Manfred Berthold, hatte wie immer gute Laune. Nur selten ließ er sich durch die Arbeit davon abbringen. Nur damals, als in Bad Sachsa die Skelette der Kinder in diesem sogenannten Hexenhaus gefunden wurden, war das anders. Das hatte ihn sehr mitgenommen, wie alle, die an dem Fall gearbeitet hatten.
Das Telefon klingelte. Berthold ging ran. Er notierte sich etwas, und sagte dann, nachdem er das Gespräch beendet hatte: „Ich fürchte, Torsten, du musst deine Wochenendpläne ändern. Wir haben eine Leiche!“ „Scheiße. Hätte die nicht noch etwas warten können? Wo geht es denn hin?“ „Es geht nach Northeim. Man hat dort in einem Kanal einen Ertrunkenen gefunden, in der Nähe eines Fußballplatzes. Näheres weiß man noch nicht.“
Missmutig machte sich Seegers mit Berthold und Jörg Hohmann, dem Rechtsmediziner, auf dem Weg. Es waren etwa dreiundzwanzig Kilometer Entfernung zwischen beiden Orten, in etwas über zwanzig Minuten wäre man dort, wenn die Verkehrslage normal wäre. Auf der B 241 war zum Glück wenig los, so dass sie um kurz vor 16 Uhr dort eintrafen.
Das Vereinsgelände von Eintracht Northeim lag mitten auf einer Insel zwischen der Rhume und dem Rhumekanal. Der Platzwart des Vereins namens Ferdinand Keller, hatte die Leiche entdeckt. Ihm stand der Schrecken noch im Gesicht geschrieben, als die Polizeibeamten sich ihm vorstellten. „Wissen Sie, ab und zu fallen unsere Fußbälle ins Wasser. Ich fische sie denn immer raus. Und vorhin, da dachte ich, na, dieser Ball sieht aber komisch aus. Ich gehe also näher ran. Und dann war es gar kein Ball, sondern ein Kopf. Scheiße, Scheiße. Das muss doch nicht sein“, erzählte der Mann.
„Wasserleichen mag ich gar nicht“, murrte der Hauptkommissar und Hohmann bemerkte: „Ich auch nicht. Aber was muss, das muss.“ Mit diesen Worten begab er sich zum Wasser und drehte die Leiche, die dort bäuchlings lag, um. „Na, den kennt man ja wohl. Die Identifizierung können wir uns sparen“, rief er. Die anderen drei Männer folgten ihn. „Der Norbert Hase! Das darf doch wohl nicht wahr sein“, sagte der Hauptkommissar. „Klärt mich mal auf! Wer ist das?“, wollte Berthold wissen. „Liest du denn keine Zeitung? Das ist der Bürgermeisterkandidat, der NVP, dieser rechten Gruppierung, die hier in Northeim viel Zulauf hat“, erklärte der Rechtsmediziner und Seegers nickte. „Tja, der hatte viele Feinde. Verdächtige gibt es zuhauf. Wenn wir wieder im Büro sind, zeige ich dir mal die Flugblätter, die überall verteilt worden sind, Manfred“, ergänzte er. „Ich kann auch nicht gerade sagen, dass ich den mag“, sagte der Platzwart. Er fuhr fort: „Trotzdem. So einen Tod hat niemand verdient!“
Als die drei Polizeibeamten wieder im Kommissariat angekommen waren, öffnete Seegers die Schublade seines Schreibtisches und holte einen Zettel hervor. Dieser zeigte das Konterfei von Norbert Hase, umgeben von einem Fadenkreuz. Darunter stand in großen, roten Buchstaben: „Die Hasenjagd ist eröffnet!“. Berthold sah sich das an und bemerkte: „So etwas werfe ich immer gleich weg. Das verdirbt mir nur meine gute Laune.“ Seegers entgegnete: „Das solltest du aber nicht, jedenfalls nicht ohne Weiteres. Das, was da auf dem Flugblatt steht, ist auch eine Straftat. Das ist Aufforderung zum Mord. Und dazu ist jetzt ja wohl auch gekommen, wie man sieht. Wie auch immer, ich mache jetzt Feierabend und gehe ins Wochenende. Die Leiche wird uns ja nicht weglaufen!“
Zwei Stunden später saß Kommissar Berthold noch immer an seinem Arbeitsplatz. Der Vortrag seines Kollegen hatte ihm zu denken gegeben. Außerdem war ihm etwas eingefallen. Er hatte sich die alte „Hexenhaus“-Akte über den Fund der Kinderleichen in Bad Sachsa noch einmal vorgenommen. Immerhin ging es damals ja auch um Nazis und ihre Schandtaten. Bestand da ein Zusammenhang? Gerade als er etwas dazu entdeckt hatte, betrat Hohmann das Büro. Er setzte sich auf den Stuhl von Seegers und grinste. Er sagte: „Die ersten Ergebnisse stehen fest. Zunächst: Die Leiche ist noch ganz frisch. Der Mann ist keine zwölf Stunden tot. Und er starb nicht durch Ertrinken. Er wurde vergiftet!“
Berthold pfiff und sagte: „Vergiftet! Das passt ja irgendwie! Vor mir liegt der Hexenhaus-Fall. Die Kinder wurden ja damals auch vergiftet. Und rate mal, wie der Kommandant der Nazis hieß, der 1945 das Verbrechen befohlen hat!“ „Keine Ahnung. Ich kümmere mich ja nur um die Obduktion, nicht um die Ermittlungsarbeit. Wir sind ja nicht beim Tatort.“ Berthold lachte. Ein bisschen sah Hohmann schon wie Professor Boerne aus, aber so schrullig war er nicht. „Nun, ich werde es dir verraten. Er hieß Albert Hase. Ob dieser Norbert mit ihm verwandt war, können wir jetzt nicht mehr herausfinden. Aber am Montag werden wir bei den Standes- und Meldeämtern herumtelefonieren.“
Hauptkommissar Seegers kehrte drei Tage später froh gelaunt an seinen Arbeitsplatz zurück. Er hatte in Hannover viel Spaß gehabt und war glücklich, dass er auf andere Gedanken gekommen war. Jetzt aber hatte ihn der Alltag wieder. Berthold begrüßte ihn freundlich und schilderte die ersten Erkenntnisse. Fast den ganzen Vormittag verbrachten die beiden mit Telefonaten. Sie fanden heraus, dass Albert Hase tatsächlich einen Sohn namens Norbert hatte. Beide hatten in Bielefeld gelebt, wo Albert 1960 gestorben war, ohne jemals belangt worden zu sein. Norbert Hase war 1986 nach Northeim gezogen. Er war zweifelsohne derselbe, der jetzt in Hohmanns Kältekammer lag.
„So, jetzt müssen wir nur noch den Täter finden“, stellte Seegers fest. Er fuhr fort: „Nehmen wir uns doch mal die Verbreiter des Flugblattes zur Brust. Ein Name stand da ja leider bei.“ In diesem Moment wurde die eingegangene Post herein gebracht. Viel war es nicht, es war ja Montag. Doch ein Schreiben stach daraus hervor. Es enthielt nicht sehr viel Worte, lediglich: „Der Hase ist tot!“. „Na, das wissen wir ja schon. Weiter bringt uns das nicht“, stellte Seegers resigniert fest.
Drei Tage später, am Donnerstag, nachdem der Fall nicht nur in der Südharzregion, sondern bundesweit Schlagzeilen gemacht hatte, gab es einige Reaktionen der Bevölkerung, aber kaum eine, die zu einem Ergebnis zu dem Mord führte. Lediglich ein Hinweis schien vielversprechend zu sein. Ein weiterer anonymer Brief ging im Kommissariat ein. Er war konkreter, als der vom Montag. „Überprüfen Sie doch mal das Umfeld der NVP“ stand da. „Hm, irgendein Gesinnungsgenosse, der mit Hase nicht mehr konform geht? Das könnte sein“, meinte Seegers und begab sich mit Berthold in das „Bürgerbüro“ der rechten Partei nach Northeim.
Dort saßen knapp ein Dutzend kurzgeschorene junge Männer und Frauen in Lederjacken und Springerstiefeln herum, dazu gesellten sich ein paar ältere Herren, die aussahen, als ob sie selbst noch unter Adolf gedient hätten. „Kein schönes Milieu“, flüsterte Berthold Seegers ins Ohr. Dieser nickte nur. Der Hauptkommissar stellte sich und seinen Kollegen vor und sagte: „Meine Damen und Herren, Sie können sich ja sicherlich denken, weswegen wir hier sind. Kann irgendjemand von Ihnen etwas zu dem Mord an Herrn Hase sagen?“
Einer von den Kahlköpfigen stand auf und schrie: „Hoffentlich wird diese linke Sau bald zur Strecke gebracht, die unseren Norbert auf den Gewissen hat!“ Die anderen Kameraden applaudierten oder klopften auf die Tische. „Nun, ich meinte eigentlich Etwas, dass uns weiter bringt, meine Damen und Herren!“, antwortete Seegers.
Weitere Reaktionen erfolgten nicht. Seegers und Berthold gingen wieder. Draußen, vor der Tür, sprach sie ein junger Mann an, ebenso kahlköpfig und bekleidet wie die Gesinnungsgenossen drinnen. Er sagte: „Ich habe mitgehört, was drinnen passiert ist. Mit diesem Laden will ich nichts zu tun haben. Das sind doch alles Vollidioten.“ „Nun, junger Mann. Das kann ich zwar nachvollziehen, aber normalerweise stellt man sich erst mal vor. Wie heißen sie denn?“, entgegnete Seegers.
Der junge Mann antwortete: „Entschuldigung. Ich heiße Philipp Sanders. Bis vor Kurzem war ich auch einer von denen. Doch dann habe ich etwas erfahren, was mich geschockt hat.“ Philipp Sanders war bleich, das war offenbar echt und nicht geschminkt. Er bat darum, das Gespräch woanders fortzusetzen.
Sie fuhren gemeinsam nach Osterode zum Kommissariat. Dort gestand er den Mord an Norbert Hase. „Der Vater von diesem Schwein hat Kinder umgebracht. Unschuldige Kinder! Das geht gar nicht. Und diese Drecksau hat das nicht nur verteidigt sondern sogar noch darüber gelacht. Dafür musste er sterben, ebenso wie die Kinder! Und jetzt können Sie mich verhaften“, erklärte er unter Tränen. Nur selten hatten Seegers und Berthold eine Verhaftung so ungern vollführt wie diesmal.
Bildmaterialien: www.strassenkatalog.de
Tag der Veröffentlichung: 03.05.2019
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