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Heißer Sand

 

Martin Lehmann blätterte in den Akten mit den Fällen, die morgen zur Verhandlung standen. Als Richter am Amtsgericht, Abteilung Strafrecht, hatte er es nicht leicht, er war aber froh darüber, dass er immer fleißig in der Schule war und dort sehr gut war. Nach dem Studium fand er diesen gutbezahlten Job als Richter.

 

Plötzlich stutzte er. Da war ein Name, den er sehr gut kannte: Stefan Hoffmann. Sollte das der Stefan Hoffmann aus seiner Kindheit sein? Altersmäßig stimmte es. Der Beschuldigte war wegen Körperverletzung sowie Autodiebstahls und Fahren ohne Fahrerlaubnis angeklagt, er war zudem mehrfach vorbestraft. Das musste er sein! Denn schon damals war Stefan gemein und hinterlistig.

 

Dreißig Jahre früher. Martin ging mit seiner Mutti an der Hand zum großen Spielplatz. Eigentlich hatte er da gar nicht hin gewollt, aber die Mutti hatte gesagt, dass er das sollte. Da gab es zwar eine tolle Rutsche, zwei schöne Schaukeln, prima Klettergerüste und einen riesigen Sandkasten, aber da war auch dieser Stefan, der ihn immer haute. Meistens machte er das, wenn seine Mutti nicht hinschaute. Martin hatte große Angst vor Stefan. Er setzte sich ganz am Rand des Sandkastens und hoffte, dass ihn Stefan heute nicht sah. Der war viel größer und stärker als Martin.

 

Stefan hatte Martin erblickt. Er hasste diesen blöden Jungen! Wie der schon aussah! Klein, dick und mit einer doofen Brille. So einen Blödmann musste man doch verhauen oder ärgern. Schon im Kindergarten hatte er das immer gerne getan. Jetzt war er vier Jahre alt, genau wie dieser Martin.

 

Stefans Mutter setzte sich auf die Bank, direkt neben Frau Lehmann, der Mutter von Martin. Sie freute sich, Frau Hoffmann zu sehen, und gab ihr die Hand. „Schönes Wetter heute, Frau Hoffmann, nicht wahr?“, sagte Frau Lehmann. „Ja, Frau Lehmann. Da können unsere Jungs wunderbar spielen. Die kennen sich ja schon aus der Krabbelgruppe“, antwortete Frau Hoffmann und zündete sich eine Zigarette an. „Sie sind ja seitdem unzertrennlich“, pflichtete Frau Lehmann bei.

 

Stefan nahm seine Schaufel und ging langsam zu Martin. Mit einem Blick zu seiner Mutti hatte er festgestellt, dass er unbeobachtet war. Das war gut. Martin hatte sich gerade umgedreht, so dass er ihn nicht sah. Das war noch besser. Mit voller Wucht haute Stefan mit der metallenen Schaufel auf Martins Kopf. Das machte Spaß. Es blutete, Martin schrie. Das machte noch mehr Spaß.

 

Martin und Stefan hatten sich später aus den Augen verloren. Die Kindheit und die Jugend waren lange vergangen. Die Lebenswege der beiden hatten sich getrennt. Martin hatte Glück und Erfolg und ging seinen Weg. Hingegen hatte Stefan keinerlei Lust zum Lernen. Folglich hatte er nie eine Ausbildung gemacht und sich mit Hilfsarbeiterjobs durchgeschlagen. Irgendwann geriet er auf die schiefe Bahn und landete im Gefängnis. Ein Schläger war er immer noch, das machte ihm Spaß.

 

Nun stand er mal wieder vor Gericht. „Es besteht ein berechtigtes Interesse zur Strafverfolgung“, hatte sein Anwalt gesagt und ihn böse angeschaut. Zu diesem Kerl hatte er keinerlei Vertrauen, wie zu allen diesen geldgierigen Typen, die ihm niemals halfen. Am liebsten hätte er ihm die Fresse poliert. Aber das brachte ja nichts.

 

Stefan betrat den Gerichtssaal. Martin sah ihn an und wusste jetzt, dass es der „richtige“ Stefan Hoffmann war. Martin ließ sich aber nicht anmerken, dass er ihn erkannt hatte. Als Richter musste er gerecht und unvoreingenommen sein. Aber wie konnte man das bei einem so widerlichen Menschen sein? In der Nacht hatte er schlecht geschlafen und hin und her überlegt, wie er sich bei der Verhandlung verhalten sollte. Schließlich kam ihm eine Idee.

 

Nachdem der Staatsanwalt die Anklageschrift vorgelesen hatte, drückte der Richter wie ohne Absicht einen Knopf an seinem Smartphone. Man hörte ein altes Lied aus den Sechzigern:

 

Heißer Sand.
Heißer Sand und ein verlorenes Land
und ein Leben in Gefahr.
Heißer Sand und die Erinnerung daran, dass es einmal schöner war.

 

Der Angeklagte, sein Anwalt sowie der Staatsanwalt blickten irritiert zum Richter. Dieser sprach zu Stefan Hoffmann: „Nun, Herr Hoffmann. So sieht man sich wieder. Lang ist es her. Aber seien Sie beruhigt. Ich habe heute keine Schaufel dabei!“

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 








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Bildmaterialien: www.nw.de
Tag der Veröffentlichung: 05.03.2019

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