Ein guter Freund empfahl mir ein Buch von Stanislaw Jerzy Lec. Das ist ein polnischer Lyriker, von dem ich noch nie zuvor gehört hatte. Von ihm stammt das Zitat: „Vor der Wirklichkeit kann man seine Augen verschließen, aber nicht vor der Erinnerung“. Das ist vollkommen richtig und es trieb mir die Tränen in die Augen, als ich es las.
Ich musste an meine Leonie, meine geliebte Tochter denken. Sie war gestorben und ich war indirekt Schuld daran, weil ich sie zwang, den Müll herauszubringen und sie dabei von dem Müllwagen überrollt wurde. Das ist jetzt sechs Jahre her, aber ich muss immer noch daran denken, fast jeden Tag. Mir half Doktor Teichmann den Kummer zu überwinden, aber die Erinnerung an Leonie bleibt für immer.
Am Totensonntag war ich wieder am Grab von Leonie. Jetzt wäre sie elf Jahre alt. Ich legte eine Stoffkatze auf dem Marmorstein ab. Meine Tochter liebte Katzen. Allmählich wurde der ehemals weiße Stein immer grauer, obwohl ich diesen regelmäßig reinigte. Gegen den Lauf der Natur kann man nichts tun.
Ich stellte mir vor, wie Leonie jetzt aussehen würde. Das blonde, lockige Haar wäre sicherlich etwas dunkler. Wie groß sie jetzt sie wohl wäre? Dagmar, meine Frau hatte neulich mit so einem Computerprogramm das alte Foto von Leonie bearbeitet und es altern lassen. Bemerkenswert, was heutzutage alles möglich ist. Und wie wäre meine Tochter in der Schule? Sie war ein kluges, aufgewecktes Mädchen, das viele Fragen stellte.
Wir haben Leon, unserem Sohn, der jetzt vier Jahre alt ist, viel von seiner Schwester erzählt, die er nie kennen gelernt hat. Der Junge ist zwar ein richtiger Rabauke, aber da hatte er stets aufmerksam zugehört. Er hatte auch ein Brief von Leonie gemalt, mit unserer Katze. Leon wollte, dass wir sein Bild auf das Grab seiner Schwester legen. Wir konnten ihn jedoch davon überzeugen, dass das keine gute Idee war, da die Zeichnung dort schnell verwittern würde. Stattdessen hängt das Bild jetzt an unserem Kühlschrank.
Gestern habe ich Doktor Teichmann, den Psychologen, in der Straßenbahn getroffen. Er erkannte mich sofort und wollte wissen, wie es uns jetzt geht. Er freute sich, dass ich nicht mehr so depressiv war und er meinte, dass nicht nur seine Behandlung mir geholfen hätte, sondern auch die Geburt von Leon. Er kannte sogar Stanislaw Lec und er fand ebenfalls, dass dieser ein sehr guter Autor sei und das in seinem erwähnten Zitat viel Wahrheit steckt.
Bald ist Weihnachten, das sechste Weihnachten ohne meine Tochter. Vielleicht wird Schnee fallen, den hat Leonie so geliebt. Man sagt, dass in jeder Schneeflocke eine reine Kinderseele steckt, denn Kinderseelen sind weiß und keiner gleicht der anderen. Genau so ist es auch mit Schneeflocken.
Bildmaterialien: www.dehner.de
Tag der Veröffentlichung: 12.12.2018
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