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Das Projekt Shakespeare

 

 

 

Sarah O'Brian gähnte herzhaft. „Ist dir langweilig oder bist du müde, Sarah?“, wollte ich wissen. „Weder noch, Sebastian“, antwortete die hübsche Irin und ergänzte: „Ich mache das ab und zu zur Entspannung. Du solltest das auch mal versuchen.“ Ich hätte gerne nachgehakt, aber unser Dialog wurde durch das Piepen unseres Computers unterbrochen. Vladimir stand auf und ging darauf zu. „Unsere nächste Aufgabe“, frohlockte er und gab bekannt: „Es geht mal wieder nach England.“ „Stonehenge ist doch schon abgehakt“, bemerkte ich. Vladimir erwiderte leicht pikiert: „Richtig, Sebastian. Obwohl außer uns dreien niemand mehr das wahre Stonehenge kennt. England hat aber mehr zu bieten als diese Steinquader. Diesmal geht es mal wieder um eine berühmte Person. Sie lebte im 16. und 17. Jahrhundert!“ „William Shakespeare!“, rief Sarah begeistert.

 

Vladimir nickte, ich guckte ratlos, worauf mich ein strafender Blick meiner beiden Kollegen traf. „William Shakespeare war einer der berühmtesten Autoren, Dichter und Lyriker der Geschichte. Er hat mindestens achtunddreißig Dramen verfasst, sowie zahlreiche Sonetten, falls du weißt, was das ist, Sebastian“, entgegnete der Russe etwas vorwurfsvoll. Ich wusste tatsächlich nicht, was eine Sonette ist, ließ mir das aber nicht anmerken. „Wie auch immer, frisch ans Werk“, sagte Sarah. Vladimir lachte. Offenbar war das wieder ein Witz, den ich nicht verstand.

 

Wir blickten aus dem Fenster, die Flugmaschine stand in Sichtweite. Sie glänzte in der Sonne. Sarah drückte auf den Startknopf und sagte: „So weit hat sie es heute ja nicht. Ich schätze, in einer Stunde ist sie am Ziel.“ Wir hatten uns für die Uraufführung von Hamlet entschieden. Das Stück kannte ich sogar. „Sein oder Nichtsein“ ist auch heutzutage im 22. Jahrhundert noch ein geflügeltes Wort, auch bei Leuten, die Shakespeare nicht mehr kennen, so wie ich.

 

Gespannt blickten wir auf den 4D-Projektor, er übertrug wie gewohnt ein gestochen scharfes Bild. Man sah ein imposantes, weitläufiges Gebäude. „Das ist die Universität von Cambridge“, erklärte Sarah voller Ehrfurcht und ergänzte: „Dort sollte die Uraufführung des Stücks stattgefunden haben. Das ist aber umstritten.“ Vladimir nickte und sagte: „Ja, das ist nicht sicher. Manche Historiker behaupten, dass die Universitätsverwaltung die Aufführung von Theaterstücken untersagt hat. Aber das werden wir herausfinden.“

 

Im Schnelldurchlauf beobachteten wir das ganze Jahr 1608. Von einer Theateraufführung war nichts zu sehen. Daher entschlossen wir uns zu einem Ortswechsel und schickten die Zeitmaschine nach Oxford. Doch auch da war keine Spur von dem Stück. „Tja, Hamlet wurde ja erst 1602 fertiggestellt. Die Aufführungen in Cambridge und Oxford sind nicht aus sicherer Quelle überliefert, wie du bereits sagtest, Vladimir. Wir wissen aber, dass das Stück am 5. September 1607 auf einem Schiff auf der Fahrt nach Indien vor der Westküste Nordafrikas aufgeführt wurde. Aber da fliegen wir jetzt nicht hin“, sagte Sarah. Vladimir stimmte dem zu und meinte: „Es muss ja nicht unbedingt Hamlet sein. Shakespeare hat ja reichlich Werke verfasst. Wie wäre es mit dem Sommernachtstraum? Das habe ich immer sehr gemocht. Wann entstand das nochmal, Sarah?“ „Es wurde 1595 oder 1596 geschrieben und wohl 1598 erstmals aufgeführt, man weiß aber nicht wo.“

 

Ich meldete mich zu Wort: „Warum beschränken wir uns immer auf die Aufführungen? Können wir nicht einfach beobachten, wie er die Stücke schrieb?“ „Ach, Sebastian, wir können doch nicht durch Wände gucken. Aber vielleicht hatte er ja auch im Freien geschrieben. Fliegen wir doch mal an seinen Wohnort“, antwortete Sarah und drückte ein paar Knöpfe an der Konsole. Die Flugmaschine flog nach Stratford-upon-Avon, wo er geboren wurde und später zurückkehrte. Man sah ein hübsches, englisches Dorf mit vielen kleinen Häuschen. „Wunderschön“, bemerkte ich. Es war das Jahr 1599. Zwei Jahre hatte sich Shakespeare das zweitgrößte Haus in seinem Geburtsort gekauft und er war am Globe, einem Freilufttheater beteiligt, wie Sarah erklärte.

 

„Da müssen nun aber Aufführungen von seinen Stücken stattfinden“, sinnierte Sarah, die mittlerweile leicht ungeduldig wurde. Das kannte ich schon von ihr. So verhielt sie sich immer, wenn etwas nicht so verlief, wie sie es erwartete. Ihre Laune besserte sich nicht, denn es fanden zwar Aufführungen im Globe statt, aber keine, die an ein Shakespeare-Stück erinnerten. Nun wurde auch Vladimir sauer. Er schimpfte: „Das gibt es doch gar nicht. Was läuft da wieder falsch?“ „Sollte das wieder so sein wie mit Stonehenge?“, mutmaßte Sarah und runzelte die Stirn.

 

Wir entschieden in das Geburtsjahr von Shakespeare zu reisen, also in das Jahr 1564. An seinem Geburtsort waren wir ja schon. Systematisch wollten wir jetzt sein Leben verfolgen. Und tatsächlich: Wir konnten an dem Geburtshaus, einem schönen Fachwerkgebäude, im April des genannten Jahres eine hochschwangere Frau beobachten, offensichtlich Shakespeares Mutter. Sie machte einen entspannten Eindruck. Sarah erklärte mir, dass das bereits ihre dritte Schwangerschaft war, die beiden zuvor geborenen Schwestern aber schon im Kleinkind- bzw. Babyalter verstorben waren.

 

Wir spulten drei Wochen weiter. Erneut erblickten wir Shakespeares Mutter, nicht mehr schwanger und ohne Baby. Sie sah unglücklich aus. Nach und nach versammelte sich die ganze Familie vor dem Haus und sie begaben sich alle zum Friedhof. Dort standen sie dann vor einem winzigen Grab, ein kleiner Sarg wurde herangetragen. Auch wenn wir nicht verstanden, was die Leute sagten und kein Name an dem Grab stand, ahnten wir, was passiert war: William Shakespeare war offenbar wie zuvor seine Schwestern im Babyalter gestorben.

 

„Das ist ja furchtbar“, rief Sarah, das Entsetzen stand ihr im Gesicht geschrieben. „Wir müssen etwas tun. Irgendjemand muss doch diese großartigen Werke verfasst haben, wenn es Shakespeare nicht war. Man sagt zwar: alle Wege weiter schienen falsch zu sein, doch die Zeit hält nicht an, es gibt kein Zurück. Wir haben aber die Weltgeschichte schon einige Male verändert, also gibt es doch ein Zurück“, stellte Vladimir fest.

 

Sarah hatte offenbar sofort verstanden, was der Kollege meinte, denn sie setzte sich unmittelbar danach an ihren Computer und suchte dabei etwas. Zehn Minuten später sagte sie: „Der elektromagnetische Krieg im Jahre 2090 hat zwar viele Daten aus dem 20. und 21. Jahrhundert vernichtet, aber nicht alles. Ich habe eine Lösung gefunden. Am 10. März 1963 wurde in Hamburg in talentierter Schriftsteller geboren, sein Name ist nicht überliefert, aber viele seiner Schriften. Er war großartig, glaubt mir!“

 

„Und jetzt sollen wir diesen Kerl in das 16. Jahrhundert versetzen, anstelle von Shakespeare? Das klappt? Wir haben doch noch nie einen Menschen eine Zeitreise machen lassen!“, bemerkte ich. Vladimir konterte: „Richtig, Sebastian. Es gibt immer ein erstes Mal. Immerhin haben wir das Monster aus dem Bermuda-Dreieck nach Schottland versetzt, wo es zu Nessie mutierte. Dann muss das mit einem Menschen doch auch funktionieren.“

 

Mit Recht kritisierte Sarah, dass ein Deutscher des 20. Jahrhunderts nicht so sattelfest im Altenglisch, das 400 Jahre zuvor gesprochen wurde, war. Daraufhin entschieden wir, dass unser Kandidat bereits im Babyalter seine Zeitreise antreten sollte, am besten kurz nach der Geburt. Und so geschah es dann auch.

 

Wir tauschten die beiden Kinder aus. Befriedigt stellten wir bei der Kontrolle fest, dass Jahrzehnte später alle Werke von Shakespeare vorhanden waren, so als ob wir nicht eingegriffen hätten. Wieder einmal konnte die Welt für unsere Arbeit dankbar sein.

 

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Bildmaterialien: www.welt.de
Tag der Veröffentlichung: 07.12.2018

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