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Irrwege der Liebe

 

 

Missmutig stapfte Karsten durch den tiefen Schnee. Das Nikolaus-Kostüm wärmte nicht besonders gut, dafür war es viel zu dünn. Außerdem wehte ihm ein kalter Wind um die Ohren. Dieser Job machte ihm dieses Jahr überhaupt keinen Spaß. Die Kinder wurden immer unverschämter und frecher. Sie gaben sich nicht mehr mit Schokolade, Keksen und Orangen zufrieden. Es mussten CDs, Spielzeug oder anderer teurer Schnickschnack sein. Als Karsten jung war, war das ganz anders. Seine Eltern konnten sich keine teuren Geschenke für ihn oder seine Geschwister leisten, schon gar nicht an Nikolaus oder Ostern. Ja, zu Weihnachten war das schon etwas Anderes, aber doch nicht an diesem Tag!

 

Karsten war froh, dass sein Dienst gleich endete, nur noch ein Kind war auf der Liste. Leider wohnten die Eltern in dieser grässlichen, schmutzigen Hochhaussiedlung. Hier sah ein Haus wie das andere aus, Müll lag überall herum und es roch erbärmlich. Aber dort lag es schon, das Haus, in dem der kleine Elias wohnte, im 12. Stock, also ganz oben. Karsten hoffte, dass der Fahrstuhl nicht kaputt war. Er hatte keiner Lust, die vielen Treppen hoch zulaufen. Seine müden Knochen ließen das nicht zu.

 

Die Lampe der Hausnummer war ausgefallen, auch das noch! Karsten klingelte bei „Meyer“ und die Tür sprang sofort auf, ohne dass jemand nachfragte. Wenigstens etwas! Er ging zum Fahrstuhl und drückte auf dem Knopf. Der Motor surrte, er brauchte also nicht zu Fuß gehen. Karsten war erleichtert. Er stellte den Sack, in dem sich nicht mehr viel befand, ab und lehnte sich an die Wand des Liftes. Dieser zuckelte langsam seinem Ziel entgegen. Es war schon ein älteres Modell aus den 70er Jahren, aber immerhin funktionierte er.

 

Gefühlte drei Minuten später war er oben angekommen, die Tür öffnete sich. Karsten stieg aus und ging den langen Gang entlang. Es roch nach Bohnerwachs und Erbrochenem, kein Bild zierte die kahlen Wände. Diese waren offenbar seit Jahrzehnten nicht gestrichen worden. An der fünften Tür auf der rechten Seite hörte Karsten, wie sich ein Schlüssel im Schloss umdrehte. Eine Frau in Karstens Alter öffnete und sah ihn ein. Wenn das die Mutter von Elias war, war sie eine Spätgebärende. Es sei denn Elias erwartete auch noch im Teenie-Alter den Besuch des Nikolaus. Aber vielleicht war sie auch die Großmutter. Das war Karsten aber egal, er wollte diesen Auftrag so schnell wie möglich erledigen.

 

„Sind Sie Frau Meyer?“, fragte Karsten sicherheitshalber nach. Diese antwortete sogleich: „Ja, die bin ich. Was möchten Sie?“ Darüber musste Karsten lachen, er riss sich aber zusammen und sagte: „Ich möchte zu dem kleinen Elias. Ist der auch da?“ Frau Meyer war leicht irritiert und nickte. Mit einer einladenden Handbewegung bat sie Karsten in ihre Wohnung. Sie war nur spärlich eingerichtet, kein Kinderspielzeug lag herum, stattdessen Kauknochen und ein paar Tennisbälle. Das war seltsam.

 

Noch seltsamer war, dass gleich darauf Elias angerannt kam – und laut bellte. Frau Meyer schimpfte laut mit ihm, einem silbergrauen Zwergpudel. Jetzt war es Karsten, der irritiert war. Unaufgefordert setzte er sich in den alten, grünen Ohrensessel. Offenbar lag hier eine Verwechselung vor oder die Frau wollte ihren Hund bescheren lassen. Dafür hatte Karsten aber nicht die richtigen Gaben dabei. Er verstand nicht viel von Hunden, aber er wusste, dass Schokolade für sie giftig war und dass sie Orangen nicht mochten, außer zum Spielen. Ob er dem Elias mit den Keksen beglücken konnte?

 

„Ich laufe üblicherweise nicht so herum“, erklärte Karsten und lächelte. Er fragte nach: „Sind Sie wirklich Frau Meyer und ist das der Elias?“ „Ja, die bin ich. Aber ich glaube, Sie haben sich verlaufen. Jedenfalls habe ich Sie nicht bestellt.“ „Ist hier nicht Marsring 42?“ „Nein, hier ist Nummer 44.“ Jetzt mussten beide lauthals lachen. Das war auch wirklich zu komisch.

„Ich bin unhöflich. Möchten Sie nichts trinken? Kaffee? Tee? Oder einen Glühwein? Ich heiße übrigens Beate. Wenn wir schon auf diese Weise zueinander gefunden haben, können wir aber auch Du sagen“, sagte Frau Meyer. Jetzt lächelte sie auch. Karsten war von der offenherzigen Art der Frau angetan und antwortete: „Ja, etwas zum Aufwärmen wäre nicht schlecht. Einen Tee hätte ich gerne. Und ich heiße Karsten.“

 

Die beiden plauderten stundenlang miteinander und vergaßen die Zeit. Der Pudel freundete sich auch ohne ein Nikolausgeschenk mit Karsten an. So fanden zwei einsame Herzen zueinander. Der „richtige“ Elias im Marsring 42 wartet aber noch heute auf dem Besuch des Nikolaus.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Bildmaterialien: www.neuperlach.org
Tag der Veröffentlichung: 06.12.2018

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