Nach meiner Bundeswehrzeit war ich bei zwei anderen Firmen im Einzelhandel tätig. Die eine davon war die amerikanische Kaufhaus-Kette F. W. Woolworth, bei der ich jedoch nur drei Monate war. Nach einer kurzen Zeit der Arbeitslosigkeit fing ich im Frühjahr 1984 bei der Firma „Theodor Schulzes Bahnhofsbuchhandlung“ an. Das war damals eine recht große Kette von Buchhandlungen mit zahlreichen Filialen im südlichen Niedersachsen, unter anderem im Bahnhof von Hannover-Kleefeld, meinem Heimatstadtteil.
Der Begriff Bahnhofsbuchhandlung ist dabei recht großspurig gewählt, da es sich zumeist um bessere Zeitungskioske mit einem etwas gehobenen Sortiment handelte. Es gab nur Zeitungen, Zeitschriften und Taschenbücher, in einigen Läden auch Süßwaren und Spirituosen („Flachmänner“), aber keine Erfrischungsgetränke, Eis oder Tabakwaren. Auch gab es keine Fahrkarten und keine Lotto-Annahmestelle.
Mit Glück wurde damals diese Stelle frei, die fußläufig vor meiner Haustür lag. Ich war da sozusagen Filialleiter mit nur einer weiteren Angestellten: meiner Mutter. Mutti sprang immer dann für mich ein, wenn ich Mittagspause hatte oder die Einnahmen wegbrachte. Meine Aufgabe bestand nicht nur aus dem Verkauf, ich musste auch kontrollieren, ob sich ein Presseerzeugnis gut oder schlecht verkaufte, um dann entsprechend die Bestellmenge zu erhöhen oder zu verringern. Das war spannend und machte mir viel Spaß. Außerdem konnte ich viel und kostenlos lesen.
Im Vergleich zu meiner Vorgängerin hatte ich den Umsatz um fast 30 % gesteigert, sehr zur Zufriedenheit meiner Chefs. Doch dann kamen die großen Zeitschriftenverlage (Bauer, Burda, Gruner + Jahr, Springer) auf die grandiose Idee bundesweit von allen Bahnhofsbuchhandlungen zu verlangen, die wöchentlichen Öffnungszeiten auf einhundert Stunden auszudehnen. Dazu muss man erklären, dass Bahnhofsbuchhandlungen das Vorrecht hatten, von den Verlagen direkt, also nicht wie sonst üblich über einen Grossisten, beliefert zu werden. Das hatte historische Ursachen. Früher kamen die Zeitschriften und Zeitungen mit der Eisenbahn und die Personenzüge hatten noch Güterwagons, bzw. Gepäckwagen angehängt. Die früheren Beschäftigten der Buchhandlungen mussten folglich im richtigen Moment, wenn der Zug eintraf, hoch zum Bahnsteig laufen, um die Pakete abzuholen. In manchen Bahnhöfen gab es dafür auch Fahrstühle. Das habe ich so aber nicht mehr erlebt. Unsere Lieferungen kamen per LKW.
Auf jeden Fall kann man sich vorstellen, dass nunmehr alle kleinen Filialen nicht mehr rentabel waren. Bei meiner Firma waren das alle Läden bis auf die in den Hauptbahnhöfen von Hannover und Osnabrück, sowie (warum auch immer) das Geschäft in Bad Oeynhausen. Daher drückte man mir im September 1985 die Kündigung zum Jahresende in die Hand. Was sollte ich jetzt tun? Den Laden selbst übernehmen und in einen „normalen“ Kiosk mit Vollsortiment verwandeln? Oder woanders einen größeren Laden mit Presseerzeugnissen eröffnen? Oder mir einen ganz anderen Job als Arbeitnehmer suchen?
Ich beschloss, mich zunächst in einem Seminar der Industrie – und Handelskammer über die Risiken einer Selbstständigkeit zu informieren. Das fand in Nienburg, einer Kleinstadt nordwestlich von Hannover statt. Gleich die ersten Sätze in dem Seminar ließen mich nachdenklich werden: „Wir freuen uns, dass Sie planen, einen eigenen Betrieb zu eröffnen. Aber wir bitten Sie auch zu bedenken, wie riskant das ist. Viele scheitern schon nach kurzer oder sehr kurzer Zeit. Daher sind wir auch für jeden dankbar, der sich das anders überlegt.“ Das hatte gesessen.
In dem Seminar, das wirklich gut gemacht war, wurden den Teilnehmern vorgeführt, was alles zu beachten war. Buchführung ist bei kleineren Betrieben nur im eingeschränkten Maße erforderlich, aber auch nicht gänzlich zu vernachlässigen. Bei der Kalkulation musste man Steuern, Versicherungen, Personalkosten, Energiekosten und noch einiges mehr berücksichtigen. Nun ist die Gewinnspanne bei Presseerzeugnissen ohnehin sehr gering und der Verkauf von Fahrkarten bringt auch nicht viel, das gilt auch für eine Lotto-Annahmestelle. Somit fiel Option zwei mit dem größeren Laden schon einmal weg.
Nach dem Seminar bewarb ich mich bei Bundesbahn vorsorglich um die Übernahme des Kiosks im Kleefelder Bahnhof. Die Antwort kam fast postwendend. Es wurde kein fester Preis für die Pacht genannt, sondern ich musste ein Gebot dafür abgeben, also einen gewissen Prozentsatz des Umsatzes, nicht etwa des Reingewinns benennen. Das missfiel mir.
Da ich außerdem wusste, dass die Stadt Hannover sich um die Austragung der EXPO 2000 bemühte, und das zur Folge hatte, dass sämtliche Bahnhöfe im Stadtgebiet und in der Region modernisiert werden sollte und somit die Gefahr bestand, dass der Laden verschwinden würde, verwarf ich auch Option eins.
Dem Arbeitsamt hatte ich nach meiner Kündigung gesagt, dass ich vorerst nicht in die Stellenvermittlung wollte, da ich mit meiner Selbstständigkeit andere Pläne hatte. Das hatte sich nunmehr erledigt. Option drei kam zum Tragen, und das teilte ich dem Arbeitsamt mit. Mitte der 80er war es noch relativ leicht, wieder einen Job zu finden, und so wurden mir zwei Stellen angeboten, auf die ich mich auch bewarb. Man hatte mir von der Firma ein hervorragendes Zeugnis ausgestellt.
Die beiden Bewerbungsgespräche verliefen gut und letztendlich auch erfolgreich. Im November bekam ich an einem Tag gleich zwei Zusagen, die eine von der Landeshauptstadt Hannover, die andere von einer großen Elektro-Markt-Kette. Jetzt hatte ich die freie Wahl und konnte etwas machen, was mir eine gewisse Freude bereitete, nämlich meinerseits absagen. Ich entschied mich für die Stelle bei der Stadt. Letztendlich keine schlechte Wahl, obwohl die Elektro-Markt-Kette mittlerweile stark expandiert hat und gewachsen ist.
Die EXPO 2000 fand dann tatsächlich in Hannover statt, und der Kleefelder Bahnhof wurde völlig umgebaut, der Durchgang, wo der Laden war, verschwand und somit das Geschäft. Ich hatte also die richtige Entscheidung getroffen.
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Tag der Veröffentlichung: 04.09.2018
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