Nachdem die Menschheit gegen Ende des 21. Jahrhunderts endlich befriedet war, konnten wir uns auf die Wissenschaft konzentrieren, zumal auch Hunger und Armut besiegt waren. Einem der ehrgeizigsten Projekte war ich zugeteilt: die Erforschung der Vergangenheit. Erforschung war zu wenig gesagt, denn als das, was die Menschheit seit Jahrhunderten begehrt hatte, doch noch erfunden wurde, nämlich die Zeitmaschine, waren alle Schranken offen.
Eine Kommission aller Nationen wählte die wichtigsten Ereignisse aus, die es zu beobachten galt: z.B. die Ermordung Julius Cäsars, John F. Kennedys, Martin Luther Kings und Olof Palmes, die Vereinigung Deutschlands, die Anschläge vom 11.09.2001 in New York und der Ausbruch des Vesuv im Jahre 79 n. Chr.
Eingreifen durften wir nicht. Das war technisch auch gar nicht möglich. Wir konnten lediglich unbemannte Flugmaschinen in die Vergangenheit versetzen. Ich, Sebastian Globecker, Physiker, war mit zwei anderen Wissenschaftlern dem Projekt Roswell zugeteilt. In jener amerikanischen Kleinstadt stürzte angeblich im Jahre 1947 ein UFO ab, was von den USA aber nie zugegeben worden ist.
Meine beiden Kollegen, die Irin Sarah O'Brian, Expertin auf dem Bereich der Geschichte und Vladimir Kaspersky, der russische Chefprogrammierer und ich waren auf unseren ersten Einsatz sehr gespannt. Uns oblagen die Steuerung der Flugmaschine und die Auswertung der von ihr übertragenen Bilder. Sarah als überzeugte Christin und Vladimir, der orthodoxe Jude hatten sich zwar ein religiöses Ziel gewünscht, aber ich als Agnostiker war mit der zu erfüllenden Aufgabe hochzufrieden.
Oft fühlte ich mich den beiden gegenüber als „fünftes Rad am Wagen“, da sie stets ihre geistige Überlegenheit heraushängen ließen. Diesen Ausdruck verwendete ich gerne, mein Großvater hatte mir davon erzählt, dass die Autos früher Räder hatten und nicht schwebten, wie heutzutage üblich. Auf alten Fotos hatte ich mir angesehen, wie diese aussahen. Bis zum Jahre 2025 waren sogar noch Verbrennungsmotoren üblich, bis sie damals verboten wurden.
„So, jetzt geht es los!“, rief Sarah begeistert und warf ihr feuerrotes Haar nach hinten. Das machte sie jedes Mal, wenn sie erfreut oder aufgeregt war. Sie war wirklich wunderschön, das musste ich immer wieder feststellen. Die Flugmaschine stand nur wenige hundert Meter von uns entfernt, direkt vor der riesigen Angela Merkel - Statue, die man am 17. Juli 2054 anlässlich des 100. Geburtstages der ehemaligen Bundeskanzlerin hier in Berlin an Stelle der zuvor umgestürzten Siegessäule errichtet hatte. Die aus Styanit gebaute Statue konnte beliebig die Farbe wechseln, wie üblich für dieses Material.
Eigentlich hatten wir erwartet, dass der Start des Flugobjektes mit einem kleinen Festakt verbunden wurde, aber offenbar war das allgemeine Interesse an diesem historischen Ereignis doch nicht so groß, dass sich einer von den Damen oder Herren unserer Regierung hinzu bequemt hätten. Nun gut, zusehen konnte ohnehin jeder, wie er wollte, seitdem seit mehr als zwanzig Jahren jeder öffentliche Platz und jede Straße videoüberwacht war und die Bilder auf den heimischen 4D-Projektoren übertragen wurden. Niemand regte sich heutzutage über diese Rund-Um-Überwachung auf. Privatsphäre gab es ja noch in den eigenen Wohnungen und Häusern, sowie an gewissen Arbeitsplätzen, die – wie z.B. unser Büro - besondere Aufgaben hatten.
Vladimir hatte den Steuerungsknüppel, den man im Retrostil eines der uralten Spielkonsolen gebaut hatte, in der Hand und nickte. Sarah und ich standen neben ihm und sahen ihm zu. Die Maschine surrte leise und stieg dann langsam in den strahlend-blauen Berliner Himmel auf. „Der Wettercomputer hat wirklich ganze Arbeit geleistet“, bemerkte Sarah und grinste zufrieden. Regen und Wind hätten dem Flugobjekt zwar nicht geschadet, aber uns den ehrwürdigen Augenblick verdorben.
Es würde einen Moment dauern, bis die Maschine an ihr Ziel angelangt war. Wir gingen gemäßigten Schrittes in unser nahe gelegenes Bürogebäude, ohne die sonst üblichen Transportbänder zu benützen. Vladimir waren diese zuwider, und ihm zuliebe verzichteten wir auch darauf. „Jetzt habe ich Hunger bekommen“, sagte Sarah und fragte uns: „Wollt Ihr auch etwas? Die Algenburger sind in der Kantine im Angebot!“ Sie war eine der wenigen vom Kollegenkreis, die dieses Zeug pur aß, wir anderen bevorzugten das vom Nahrungsgenerator umgewandelte Essen. Eigentlich hatte sie ja Recht, da unsere Speisen seit vielen Jahrzehnten alle aus Algen bestanden, womit das Hungerproblem weltweit besiegt war. Mir schmeckte das in der unbehandelten Form aber einfach nicht.
Schon mein Vater hatte immer gesagt: „Ich bin doch keine Seekuh!“, wenn man ihm pure Algen anbot. In seiner Jugend hatte er noch richtiges Essen kennen gelernt, also z.B. Fleisch von Tierleichen. Niemand aß heutzutage so etwas, es sei denn, man war UNO-Multimillionär. An diese Währung, die im Jahre 2098 den Euro, den Dollar und fast alle anderen Zahlungsmittel der souveränen Staaten abgelöst hatte, hatten wir uns nach und nach gewöhnen müssen, bis auf die Schweizer, die immer noch ihren Franken hatten. Da aber fast niemand noch mit Bargeld bezahlte, war das ohnehin egal.
„Nein, danke“, antworteten Vladimir und ich nahezu gleichzeitig. Sarah seufzte und berichtete, dass sie nachher noch eine Überraschung für uns hätte, wenn alles glattgehen würde. „Ich habe daran keinerlei Zweifel“, entgegnete der Russe. Offenbar war er leicht beleidigt, dass jemand den Erfolg des Unternehmens in Abrede stellte. Vladimir war zwar ein begnadeter Ingenieur und Programmierer, aber auch extrem eitel.
Unterdessen hatten er und ich uns ins Büro begeben. Ich schaltete den 4D-Projektor ein, der ein gestochen scharfes Bild nebst erstklassigem Dolby-Surround-Sound und Geruchsübertragung lieferte. Letzteres war für die heutige Aufgabe zwar nicht unbedingt nötig, aber wir hatten ja noch viele andere Ziele auf der Agenda. Die Flugmaschine hatte unterdessen ihr Ziel erreicht. Es war der 14. Juni 1947. Auf der Foster Ranch etwa 105 km nordwestlich von Roswell im US-Bundesstaat New Mexiko hatte William Brazel damals verstreute Trümmer eines unbekannten Flugobjektes auf seiner Farm gefunden.
Es war jedoch nichts davon zu sehen. Man sah nur die Ranch. „Wir sollten vielleicht noch einen Tag zurückgehen“, bemerkte Sarah, die mittlerweile das Büro betreten hatte. „Ja, der Absturz war vermutlich am Vortag“, bestätigte Vladimir. Eine leichte Enttäuschung konnte er nicht verbergen. Er drückte eine Taste auf der Steuerung, der Bildschirm wurde augenblicklich dunkel. „Oh, Bildausfall“, rief ich, doch die Irin entgegnete: „Nein, es ist jetzt Nacht, in der Gegend ist es nun stockdunkel, daher sieht man nichts.“ Das war mir peinlich, ich hätte wohl besser geschwiegen. Um den Fauxpas zu überspielen, fragte ich: „Was ist nun mit der versprochenen Überraschung, Sarah?“. Auch das hätte ich lieber sein lassen sollen, denn sie fauchte: „Sieht das jetzt für dich so aus, als ob schon alles geklappt hat, du Witzbold?“
An diesem Arbeitstag versuchten wir, noch mehrere Tage vor- und zurückzuspringen. Vergeblich! Es war weder ein UFO noch Trümmer davon zu sehen. Hatte es diesen Vorfall vielleicht gar nicht gegeben? Aber es existierten doch zahlreiche Berichte darüber! Andererseits hatten sich die meisten UFO-Sichtungen als Irrtümer oder Fälschungen herausgestellt und noch heutzutage im Jahre 2117 war noch nie die Existenz außerirdischen, intelligenten Lebens bewiesen worden und wir hatten auch keine Funksignale von fremden Wesen empfangen.
Frustriert und enttäuscht gingen wir nach Hause und hofften, dass es sich am nächsten Tag bessern würde. Ich betrat dann am Folgetag als erster das Büro und sah die zwischendurch aufgezeichneten Bilder durch. Leider gab es keine Neuigkeiten. Der Steuerungsknüppel der Flugmaschine lag verlockend auf dem Schreibtisch und ich konnte nicht widerstehen, ihn zu benutzen. Es wäre bestimmt eine tolle Überraschung für Vladimir und Sarah, wenn ich jetzt doch etwas finden würde. Ich berührte sanft den Joystick, das Flugobjekt reagierte sofort. In diesem Moment öffnete sich die Eingangstür des Büros und der Russe trat ein. Ich erschrak und riss den Knüppel nach unten, was unmittelbare Folgen hatte. Man sah auf dem Bildschirm, wie sich der Boden näherte – dann brach die Übertragung ab.
Entsetzt schrie Vladimir auf: „Du Idiot! Was hast du getan! Die Maschine ist abgestürzt!“ So kam es, dass doch Trümmerteile auf der Ranch landeten, aber es waren keine Außerirdischen, die dort mit einem UFO einen Crash erlitten, sondern wir. Das, was wir eigentlich beobachten wollten, hatten wir selbst verursacht.
Das Rätsel von Roswell war gelöst.
Nach dem Verlust unserer ersten Flugmaschinen-Zeitmaschine, die als UFO im Jahre 1947 in der amerikanischen Kleinstadt Roswell abstürzte, hatten wir ein Zeitparadoxon erzeugt, das was wir erforschen wollten, war von uns bewirkt worden. Na, ja, eigentlich war nur ich der Verursacher, da ich sie unerlaubterweise gesteuert hatte.
Dieses führte zu einer erheblichen Verschärfung der Auflagen. Wir durften nur noch zu zweit die Maschine bedienen. Sarah, Vladimir und ich, Sebastian Globecker, wurden nunmehr dem Projekt Stonehenge zugeteilt, was mir durchaus zusagte. Stonehenge hatte mich schon immer fasziniert. Wer hatte es erbaut und warum? Welchen Zweck hatten diese monumentalen Steinquader? Wir waren begierig, eine Antwort zu finden.
„Das gibt es doch gar nicht!“, rief Sarah. Die Geschichtsforscherin war offensichtlich wenig entzückt. „Was ist denn, meine Schöne?“, entgegnete ich und lächelte sie an. Ich mochte Sarah immer noch. Sie war nicht nur wunderschön, sondern auch hochintelligent. Aber heute wiesen ihre grünen Augen auf Verärgerung hin. „Ach, Sebastian. Ich habe gerade die Bilder vom Flugobjekt überprüft, und nun sieh dir das an.“ Sie drückte einen Knopf an dem Joystick. Auf dem 4D-Projektor erschien eine schöne Landschaft. „Ich sehe nichts“, bemerkte ich. „Das ist es! Einfach nichts! Nichts!“, sagte Sarah. „Vielleicht ist das Ding einfach falsch ausgerichtet und…“, meinte ich, doch die Irin konterte: „Nein, alles perfekt. Das hat Kollege Kaspersky neu programmiert. Stonehenge ist einfach nicht da!“
Der Russe hatte unterdessen den Raum betreten, wir hatten ihn gar nicht bemerkt. Er brummte: „Danke, Sarah. Ja, daran liegt es wohl nicht.“ Kaspersky räusperte sich und fuhr fort: „Ich habe da einen Verdacht. Lasst uns das beim Essen besprechen.“
Wir begaben uns in die Kantine. Sarah bestellte einen doppelten Algenburger, wie so oft. Kaspersky orderte vom Nahrungsgenerator Boeuf Stroganoff, und ich entschied mich für ein Jägerschnitzel mit Pommes Frites. „Das Ihr immer noch dieses altertümliche Zeug esst…“, warf uns die Irin vor. „Nun, ich mag es. Es ist nahrhaft, schmeckt und…“
„… und ist künstlich aus Algen hergestellt, wie all unsere Nahrung.“
„Das weiß ich, aber…“
„Darf ich Eure Diskussion unterbrechen? Ich habe wirklich Hunger“, brummelte Kaspersky. Wir gingen am Zahlportal vorbei, die Beträge wurden wie immer automatisch von unseren Gehältern abgebucht. Sarah bemerkte: „Die haben die Preise wieder erhöht. 12 UNO kostet der Burger, nicht zu fassen.“ Wir gingen zu einem Vierertisch am Fenster, von dort hatte man einen wunderbaren Blick auf die riesige Angela Merkel - Statue am Rande des Park der berühmten Bauwerke. Heute war Donnerstag, deshalb war ihr Hosenanzug in Dunkelblau ausgeleuchtet. Das aus Styanit gebaute Denkmal konnte ja bekanntlich beliebig die Farbe wechseln.
Kaspersky nahm einen Bissen, kaute und räusperte sich erneut. „Wie gesagt, ich habe da einen Verdacht. Denkt an den Roswell-Vorfall. Offenbar hat es nie einen richtigen UFO-Absturz gegeben. Es geschah erst durch unser Zutun. Hätten wir es nicht getan, hätte niemand auf der Welt davon erfahren.“
„Hmm, und was hat das Ganze mit Stonehenge zu tun?“, wollte ich wissen. Sarah lachte leise auf. „Na, da hat zumindest einer hier am Tisch aufgepasst. Wer von Euch ist nun Geschichtsforscher und wer ist Physiker? Denk doch mal nach, Sebastian“, sagte Vladimir.
„Ein Zeitparadoxon? Du meinst Stonehenge gäbe es gar nicht? Es hätte nie existiert?“
„Ja, du Blitzmerker. Aber wir können das korrigieren.“
„Indem wir unser Stonehenge aus der Gegenwart in die Vergangenheit senden? Du meinst, das klappt?“
„Ja, es würde klappen, aber es wäre nicht gut, weil das ein echtes Paradoxon wäre. Das wäre so, als ob du ein berühmtes Gemälde in die Vergangenheit schickst, das dort noch nicht gemalt wurde.“
„Ich verstehe. Niemand hätte das Bild je gemalt…“
„Genau. Und niemand hätte Stonehenge je gebaut. Ich habe einen anderen Plan.“
Kaspersky verriet uns zunächst nicht, was er vorhatte, und lud uns in den benachbarten Park der berühmten Bauwerke ein, der seit langem eines der beliebtesten Sehenswürdigkeit Berlins war und auf dem Gelände des ehemaligen Tiergartens errichtet wurde. „Fünfzig UNO Eintritt pro Person, ganz schön happig“, stellte ich fest, als wir dort angekommen waren. „Nörgele nicht, ich zahle“, sagte Kaspersky und machte eine einladende Handbewegung. „Warst du überhaupt schon einmal da, Sebastian?“
„Ehrlich gesagt noch nie. Ich hatte nie Zeit und man kann doch alles als Projektion in sein Wohnzimmer holen.“ Sarah fiel ins Wort: „Das ist doch nicht das Gleiche. Zum Einen kannst du es da nicht anfassen, und es ist auch nur verkleinert. Außerdem stehen hier Nachbildungen von vielen berühmten Gebäuden, zum Beispiel der Eiffelturm oder die Allianz-Arena.“
„Richtig, Sarah. Da spricht jemand, der sich auskennt. Kommt, ich will Euch etwas zeigen.“
Wir gingen vorbei an dem Schiefen Turm von Pisa, dem Kolosseum aus Rom und der Porta Nigra. Gleich daneben stand – Stonehenge. Ich staunte nicht schlecht, Sarah grinste, Kaspersky nickte und klopfte an das Bauwerk. „Alles solides Styanit. Das übersteht Jahrtausende, und das soll es auch.“
„Du willst das hier in der Vergangenheit versetzen? Bist du verrückt? Wie wollen wir den Verlust erklären, Vladimir?“
„Ach, Sebastian, du bist heute wirklich schwer von Begriff. Ja, es wird hier verschwinden, aber in der gleichen Sekunde hier wieder erscheinen – als Nachbildung.“
„Bist du sicher?“
„Hundertprozentig. Ich wette Tausend UNO, dass es klappt.“
Gesagt, getan. Wir bereiteten am nächsten Tag alles vor. Rasch waren der genaue Standort, das Gewicht und die Dichte des Objekts errechnet. Dem Transfer in die Vergangenheit stand nichts mehr entgegen. „Los, Sarah, du darfst auf dem Knopf drücken!“, rief Kaspersky gutgelaunt. Das tat sie und gespannt sahen wir die Projektion, die gleich darauf von der Flugmaschine übertragen wurde – und uns fielen die Kinnladen herunter. Ja, es war nicht nur mehr eine Landschaft zu sehen. Aber keine Steinquader sahen wir an der Stelle, wo Stonehenge sein sollte, sondern eine Säule mit einer Frauengestalt. Das Gesicht konnte man wegen des Nebels kaum erkennen, aber der Hosenanzug leuchtete grün, denn heute war Freitag. Wir hatten uns wohl verrechnet.
Nachdem ich das Projekt „Roswell“ gecrasht hatte und Sarah O'Brian, Vladimir Kaspersky und ich, Sebastian Globecker, das Projekt „Stonehenge“ auf ganz spezielle Weise unbeabsichtigt beendet hatten, konnte sich niemand mehr außer uns dreien an diese monumentalen Steinquader erinnern. Wir hatten ein echtes Zeitparadoxon geschaffen. Doch das beendete nicht unsere Arbeit. Ein anderes wichtigsten Ereignis war uns bei der Erforschung der Vergangenheit durch Zeitmaschinen übertragen worden, nämlich das Projekt „Moses“.
Wir sollten herausfinden, ob vor ein paar tausend Jahren dieser Typ tatsächlich die Steintafeln von Gott (oder wie immer man ihn nennen mag) empfangen hatte. Immerhin glaubten alle drei monotheistische Religionen daran, und das machte immer noch ein Großteil der Weltbevölkerung aus, selbst im 22. Jahrhundert. Damit waren Sarah als Katholikin und Vladimir als Jude sozusagen die Idealbesetzung für diese Aufgabe, doch auch ich, der Agnostiker, fand das sehr spannend.
Es hatte sich nicht allzu viel verändert in dieser Parallelwelt, die wir geschaffen hatten, bis auf diese aus Styanit gebaute Angela Merkel – Statue die nunmehr seit Jahrtausenden im Süden Englands steht. Deren Erforschung interessierte niemanden, die Zeitmaschine und das dazu gehörige Flugobjekt waren nunmehr auf jene Region ausgerichtet, in der Moses seinerzeit lebte.
Sarah als Expertin auf dem Bereich der Geschichte hatte die schwierige Aufgabe das Geschehen zeitlich zu konkretisieren, denn der Ort war ja klar: der Berg Sinai. Da waren sich alle drei Religionen einig. Das galt weniger für die Aufzählung der zehn Gebote, denn die Juden dürfen sich ja kein Bildnis von Gott machen, was den Christen nicht verboten ist. Die Moslems hatten noch einiges dazu gefügt, doch nur die Strenggläubigen hielten sich daran.
„Ich glaube, ich habe jetzt etwas gefunden“, rief Sarah begeistert aus und wies auf den 4D-Projektor. „Ja, dieser hagere Kerl mit dem langen, weißen Bart könnte Moses sein“, pflichtete Vladimir bei. „Dann hat es ihn also wirklich gegeben, die Bibel hat Recht“, sagte Sarah und strahlte über das ganze Gesicht. „Moment mal, ursprünglich steht das in unserem Tanach, Ihr habt das nur kopiert“, verbesserte Vladimir. „Ich weiß nicht, ich bin immer noch skeptisch. Das kann auch nur ein einfacher Hirte sein“, warf ich ein. „Dass du als Agnostiker schwer zu überzeugen bist, war ja klar, Sebastian“, entgegnete Sarah. Offenbar hatte ich meine junge irische Kollegin verärgert. Ich antwortete: „Das ist auch meine Meinung als Physiker. Ich glaube nur an Fakten.“ „Streitet Euch nicht, schaut lieber her“, sagte Vladimir und wies auf die Projektion.
Wie aus dem Nichts tauchten vor dem alten Mann zwei Steintafeln auf, von einem brennenden Dornbusch war jedoch nichts zu sehen, auch hörten wir nichts. „Das ist nun mal keine Hollywood-Produktion, das ist echt“, erklärte die Irin. „Holly – was?“, wollte ich wissen. „Hollywood, das waren Studios in Amerika, als noch echte Filme mit Schauspielern gedreht wurden“. Der Russe lachte und sagte: „Davon habe ich auch schon gehört, mein Vater hat mir davon erzählt. Heutzutage sitzen ein paar Leute am Computer, drücken aufs Knöpfchen und zack ist der Film fertig.“ Sarah nickte und ergänzte: „Das ist genauso unromantisch, wie unser Nahrungsgenerator. Darum esse ich die Algen pur und nicht umgewandelt, wie Ihr.“
„Sebastian, ich glaube, wir können dich doch davon überzeugen, dass es Gott gibt und dass er Moses die zehn Gebote gegeben hat“, sprach Vladimir. In seiner Stimme lag ein gewisser Pathos, genau wie neulich, als er vorschlug, Stonehenge zu teleportieren. „Und wie? Wollt Ihr etwa diese Tafeln hier herholen? Ihr wisst, was wir letztes Mal angerichtet haben“, gab ich zu Bedenken. „Nur gut, dass das Paradoxon nur von uns als solches erkannt wird. Kein anderer Mensch kennt mehr das echte Stonehenge.“
„Der Unterschied ist, dass wir da eingreifen mussten, weil Nichts da war im Süden Englands. Hier ist eindeutig etwas vorhanden, Sebastian“, sagte Sarah und deutete auf die Tafeln. „Kochrezepte werden da wohl kaum drauf stehen.“
„Und was würde das nützen? Kannst du etwa die alte Schrift lesen?“
„Selbstverständlich kann ich das, ich habe sogar meine Dissertation über alte Schriften und Sprachen geschrieben und mit Summa cum laude bestanden.“
An dieser Stelle verschwieg ich, dass meine Arbeit über die erweiterte String-Theorie nur mit „satis bene“, also ausreichend, benotet wurde. Immerhin hatte ich diese Stelle ja trotzdem bekommen. Vladimir unterbrach meinen Gedankengang und erklärte: „Ich bin auch dafür, dass wir uns die Tafeln holen und untersuchen. Wir können uns ja Zeit lassen und sie danach wieder in die selbe Sekunde zurückschicken, wo wir sie hergeholt haben. Es wäre jedenfalls der endgültige Beweis für die Existenz Gottes.“
„Tja, Jahrtausende lang haben sich die Menschen dafür bekriegt und gegenseitig umgebracht, jetzt wo der globale Weltfriede herrscht ist das zum Glück ja vorbei“, ergänzte Sarah.
So wurde ich überstimmt und wir schritten zur Tat. Vladimir drückte ein paar Knöpfe am Teleporter und wenige Sekunden später materialisierten sich vor unseren Füßen die Steintafeln. Sie waren überraschend klein, kaum mehr als einen Meter hoch. Dennoch machte sich Sarah unverzüglich an die Arbeit, den Text zu übersetzen.
Ich hatte meine Kollegin noch nie so glücklich gesehen, selbst nicht, als vor drei Jahren Irland Fußball-Weltmeister wurde. Mit Feuereifer ging sie ans Werk und arbeitete ohne Unterlass. „Es ist Wahnsinn, es ist Wahnsinn“, rief sie immer wieder begeistert. Wort für Wort entschlüsselte sie den Text, der für mich nur unverständliches Gekritzel war. Vier Tage später war sie fertig und erklärte: „Es stimmt fast hundertprozentig mit den uns vorliegenden Übersetzungen aus dem Dekalog in Eurem Tanach vor, lieber Vladimir. Ich bin begeistert.“ Ich gab zu Bedenken: „Das beweist immer noch nicht die Existenz Gottes, nur das Vorhandensein der Zehn Gebote.“ Sie reagierte unverzüglich: „Du alter Griesgram, nun gib endlich zu, dass du dich geirrt hast. Jedenfalls ist das ein Anlass zum feiern. Es wird jetzt Zeit für die Überraschung, die ich versprochen habe. Schaut, was ich mitgebracht habe.“ Sie holte eine grüne Flasche hervor und sagte: „Das ist echter Champagner, nicht dieses synthetische Zeug aus dem Nahrungsgenerator. Das kostet ein kleines Vermögen, aber heute ist mir das egal.“
Wir genossen das edle Gesöff. Ich hatte noch nie in meinem Leben echten Alkohol zu mir genommen, entsprechend schnell war ich betrunken. Meinen beiden Kollegen ging es ähnlich. „So, jetzt müssen wir aber die Originaltafeln zurückteleportieren. Mach du das mal bitte, Sebastian. Ich muss mal für kleine Irinnen“, lallte Sarah. Sie begab sich in die Porzellanabteilung und ich kam ihrer Bitte nach. Auf dem Weg zum Teleporter stolperte ich über die herumliegende Flasche. Eine der beiden Tafeln fiel zu Boden, ein kleines Stück brach ab. „Ach, das wird schon nicht so schlimm sein“, sagte ich und bediente das Gerät, die Tafeln lösten sich in Luft auf und waren augenblicklich wieder vor Moses Füßen. Für ihn war kein Wimpernschlag vergangen, für uns waren es Tage.
„Alles klar, liebe Sarah, die Tafeln sind wieder da, wo sie hingehören“, verkündete ich stolz und wies auf die Projektion, nachdem meine liebe Kollegin zurückgekehrt war. „Moment mal, was ist das da auf dem Fußboden?“, rief sie entsetzt. „Da ist mir vorhin ein kleines Stückchen abgebrochen. Das macht doch nichts, oder?“, antwortete ich. „Und ob das was macht. Wisst Ihr, was da drauf steht? Da steht ´Du sollst nicht ehebrechen`. Das sechste Gebot bei den Christen und das siebte bei den Juden. Was hast du nur getan!“
So geschah es, dass das Vermächtnis Gottes leicht verkürzt in die Weltgeschichte einging und Ehebruch für alle Zeiten legalisiert war, egal welchem Gott man huldigte.
Drei Projekte hatten Sarah O'Brian, Vladimir Kaspersky und ich nun schon mehr oder weniger in den Sand gesetzt. Jeder andere Arbeitgeber hätte uns nach diesen Desasters längst vor die Tür gesetzt, aber da außer uns dreien niemand die von uns erzeugten Zeitparadoxien bemerkte, waren wir noch immer mit der Erforschung der Vergangenheit beauftragt.
Eine neue Aufgabe wartete auf uns, nämlich das Geheimnis der Geburt von Jesus Christus zu lüften, sehr zur Freude der katholischen Kollegin Sarah. Vladimir, der Jude, sah das natürlich wesentlich entspannter und ich als Agnostiker konnte sowieso über solche religiösen Grundsatzdiskussionen hinwegsehen. Auch der Beweis, dass Moses tatsächlich existiert hat und er von irgendwo her diese komischen Steintafeln mit den neun Geboten bekommen hatte, hatte mich immer noch nicht davon überzeugt, dass es Gott tatsächlich gibt. Mit Jesus war es insofern etwas anderes, dass die Tatsache, dass er als historische Figur existiert hatte, mittlerweile von kaum jemanden angezweifelt wurde. Aber ob er nun tatsächlich Gottes Sohn war, wie die Christen glaubten oder nur Prophet, wie ihn die Moslems ansahen, war offen. Vielleicht konnten wir drei ja die Aufklärung erbringen. Unterdessen war eine kleine Verbesserung an dem Flugobjekt eingebaut worden, die wir heute austesten wollten.
„So, es geht los!“, rief Sarah begeistert und sah glücklich aus. Die örtliche Taxierung der Geburt von Jesus war einfach, das war in den zahlreichen Überlieferungen mittlerweile eindeutig und übereinstimmend beschrieben. Es ging also nach Betlehem in Judäa. Viel schwieriger war es mit der Zeit. Ein Jahr 0 gab es nie, aber -1 oder 1 war auch falsch, wie Sarah, unsere Historikerin erklärt hatte. Denn Jesus wurde zu Lebzeiten von Herodes geboren, der jedoch im Jahre 4 vor „Christus Geburt“ starb. Forschungen aus dem 20. und 21. Jahrhundert zufolge, muss Jesus demnach im Jahre -7 bis -4 v. Chr. geboren sein, was komisch klingt. Daher müssten wir eigentlich nicht das Jahr 2118, sondern vielleicht 2125 haben. Auch das zu klären, war Teil unserer Aufgabe zur Erforschung der Vergangenheit.
Ich als Physiker hatte mich mit dem vorgeblichen „Stern von Betlehem“ beschäftigt, bei dem es sich vielleicht um einen Kometen gehandelt hatte. Aber intensive Berechnungen aller möglichen Kandidaten, ergaben keinen, der zur fraglichen Zeit am fraglichen Ort hätte gesehen werden können. Im Matthäus-Evangelium heißt es „Als Jesus zur Zeit des Königs Herodes in Betlehem in Judäa geboren worden war, kamen Sterndeuter aus dem Osten nach Jerusalem und fragten: Wo ist der neugeborene König der Juden? Wir haben seinen Stern aufgehen sehen und sind gekommen, um ihm zu huldigen.“. Was wäre aber, wenn es diesen Stern nie gegeben hätte? Würde die ganze Jesus-Geschichte wie ein Kartenhaus zusammen fallen?
Sarah drückte den Startknopf und wir blickten gespannt, auf die Angela-Merkel-Statue, die heute purpur erstrahlte. Die Flugmaschine war – wie immer – vor ihr aufgebaut. Sie erhob sich surrend in den Berliner Himmel. Heute war es ziemlich trüb, wir hatten diesmal kein spezielles Wetter bestellt gehabt. Bis das Objekt in Betlehem sein würde, würden noch vier Stunden vergehen. Wir gingen in unser Büro zurück und bereiteten uns auf die Ankunft der Flugmaschine am Ziel vor.
Um 13 Uhr übertrug der 4D-Projektor die ersten Bilder. Wir befanden uns im Jahre 5 vor Christus, zu sehen war nur eine öde Wüstenlandschaft. „Ich denke, wir konzentrieren uns zunächst auf die Sommermonate. Jesus ist definitiv nicht am 24. Dezember geboren, soviel steht fest“, erklärte Sarah. Das war für mich nichts Neues, die Festlegung des Geburtstages von Christus war in späteren Jahrhunderten auf die Wintersonnenwende gelegt worden, um den Heiden ihre früheren Feste zu erhalten. Auch als Agnostiker wusste man so etwas.
Nach vergeblichem Suchen in dieser Zeit drückte Sarah einen Knopf und ging ein Jahr zurück. Und da sahen wir sie: einen älteren, langbärtigen Mann und eine sehr junge, schwangere Frau. Das waren offensichtlich Josef und Maria. Sie näherten sich einem kleinen Dorf, offensichtlich war das Betlehem. Es wurde allmählich dunkel. „Jetzt können wir gleich die kleine Verbesserung an der Zeitmaschine austesten“, sagte ich und drückte eine Taste. Augenblicklich wurde die Projektion heller, was aber nicht an dem Bildschirm lag, denn die beiden müden Wanderer blickten verwundert nach oben.
„Die haben einen Scheinwerfer eingebaut, damit können wir alles besser erfassen“, sagte ich. Vor lauter Begeisterung über die Übertragung überhörte Sarah das leider. Maria und Josef setzten jedenfalls ihren Weg fort. Wie in der Bibel beschrieben, wurden sie in Betlehem überall abgewiesen und kamen schließlich in einem schäbigen, kleinen Haus unter, das man mehr oder weniger auch als Stall bezeichnen konnte.
In einigen Kilometer Entfernung sahen wir drei Hirten, die durch die Wüste liefen. Zielstrebig liefen sie auf das Haus zu, offenbar geleitet von dem Suchscheinwerfer unserer Flugmaschine. Da hatten wir den „Stern von Betlehem“. Es war also kein Komet. „Hmm, na, ja. Dann wäre das ja geklärt, aber lasst uns schauen, was weiter geschieht. Sebastian, zoome mal näher an die drei Hirten, wie Könige aus dem Morgenland sehen die nicht aus. Aber das hatte ich auch nicht unbedingt erwartet. In den Evangelien wird das unterschiedlich erzählt“, erklärte Sarah. Besonders enttäuscht wirkte sie nicht. Sie hatte mal vor einiger Zeit erklärt, dass sie nicht zu denjenigen gehört, die die Bibel wortwörtlich auslegten, als ich ihr gegenüber meine Bedenken zu der Geschichte mit Noah und seiner Arche äußerte.
„Na, ob die Gold, Weihrauch und Myrrhe dabei haben?“, fragte Vladimir in einem leicht spöttischen Ton. Sarah blickte ihn griesgrämig an und sagte: „Wir könnten ja nachhelfen. Schicken wir doch etwas zu den Hirten. Ihr habt doch bestimmt irgendwelchen Krimskrams, der sich als Präsent eignet. Wenn wir schon ein Zeitparadoxon erzeugt haben, dann kommt es darauf jetzt auch nicht mehr darauf an.“
Ich überlegte, dann fiel mir diese blöde Kuckucksuhr ein, die mir vor langer Zeit mal eine Kollegin zum Geburtstag geschenkt hatte, sie lag immer noch unausgepackt in meinem Schrank. Die besagte Kollegin hatte einen ausgesprochenen Hang zum Kitsch. So hatte sie Vladimir eine Matroschka-Puppe geschenkt, als er sein Dienstjubiläum feierte und Sarah bekam von ihr einen Leprechaun, das sind diese kleinen, dicklichen Trolle, die den Menschen gerne
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Tag der Veröffentlichung: 29.06.2018
ISBN: 978-3-7438-7367-4
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