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Der Film des Lebens

 

 

Walter fand sich in einem langen Gang wieder, der zu einem Saal mit vielen, gepolsterten Stühlen führte. Es war offensichtlich ein Kino, eines von der alten Sorte, wie es sie früher gab, mit nummerierten Plätzen und Logen an der Seite. Die Wände waren aus hellem Holz, die Sitze der Stühle aus dunkelgrünem Stoff mit goldenen Verzierungen.

 

Eine Platzanweiserin führte ihn zu der hintersten Reihe in der Mitte. Er setzte sich. Die junge Dame flüsterte ihm ins Ohr: „Gleich werden Sie ihn sehen, den Film des Lebens.“ Bevor die Vorstellung begann, traten nach und nach Leute in den Saal, alles Menschen, die Walter gut kannte: Freunde, Schulkameraden, Arbeitskollegen und Verwandte. Jeder von ihnen sah kurz zu ihm hin, nickte und setzte sich dann auch.

 

Ein Gong ertönte. Der rote Vorhang glitt sanft beiseite, man sah eine große Leinwand im Cinemascope-Format. Walter hatte erwartet, dass noch Werbung gezeigt wurde, aber das war nicht der Fall. Der Film begann unverzüglich. Man sah eine hochschwangere Frau, es war kurz vor der Entbindung. Sie wurde in den Kreißsaal geführt und das Kind kam zur Welt.

 

Die Jahre vergingen im rasenden Tempo, bis das Kind vier Jahre alt war, Kindergartenzeit. Eine Gruppe Kinder ging in den Wald, jeweils zwei Hand an Hand. Ein Junge, den der Hauptdarsteller überhaupt nicht mochte, war der, der ihm zugeteilt wurde. Am Rand des Waldes verlief ein Bewässerungsgraben. Das war die Gelegenheit für ihn, sich an den Anderen zu rächen. Er gab ihn einen Schubs und der Junge fiel mitsamt seinem hässlichen, grünen Lodenmantel ins Wasser. Der Graben war nicht tief, aber der Protagonist bekam trotzdem großen Ärger und durfte fortan nicht mehr in den Kindergarten.

 

Weitere vier Jahre strichen vorbei, in Zeitraffer wurde der Film des Lebens vorgespult. Schulzeit. In einem Klassenzimmer war eine Gruppe Zweitklässler zu sehen. Der Lehrer, ein dürrer, älterer Herr mit Nickelbrille saß an seinem Pult und blickte streng auf die Klasse. Die Kamera fuhr auf einen der Jungen, offenbar wieder derjenige, um dem es in diesem Film ging. „Nicht schwätzen, Walter!“, rief der Lehrer und holte seinen Rohrstock hervor. Er drosch heftig auf das Kind ein, bis es blutete. Der Junge schrie vor Schmerzen, bis die Tür des Klassenzimmers aufging, und der Direktor den Raum betrat. „Was machen Sie da, Herr Meyer“, widerfuhr es ihm. Er ging auf den Lehrer hinzu und entriss ihm den Stock.

 

Der im Kinosaal sitzende Walter war geschockt. Das waren bislang alles Erlebnisse aus seinem eigenen Leben. Darüber hinaus hieß das Kind in dem Film „Walter“, so wie er. War das ein seltsamer Zufall oder was sollte das bedeuten? Was würde als Nächstes geschehen?

 

Erneut spulte der Film vor. Der „kleine“ Walter war unterdessen vierzehn Jahre alt. Mit drei anderen Jungen saß er im ersten Stock einer Scheune und rauchte. Eigentlich war es nur ein Paffen, keiner der Kinder inhalierte. „Das ist echt geil“, sagte Peter, ein dicklicher, rothaariger Junge mit vielen Pickeln im Gesicht. Dieter, ein hagerer, blonder Freund von Walter nickte und klopfte dem Vierten im Bunde, einem schwarzhaarigen Jungen auf die Schulter. Das war Erwin, derjenige, der die Zigaretten von seinem Vater geklaut hatte. Vor Schreck ließ dieser die Kippe fallen, sie rutschte durch den Spalt der Bretter. Sekunden später entzündete sich das Stroh. In Panik liefen die vier Jungs aus der Scheune. Kurze Zeit später stand sie lichterloh in Flammen, das Feuer griff auf dem benachbarten Bauernhof über.

 

Walter im Kinosaal erinnerte sich gut, an das, was er da gerade auf der Leinwand gesehen hatte. Das war wieder kein schönes Erlebnis aus seinem Leben, auch wenn niemand verletzt oder getötet wurde. Am liebsten hätte er jetzt die Vorstellung verlassen, aber das ging nicht. Wie von einer unsichtbaren, starken Kraft wurde er in dem Sessel festgehalten.

 

Die Jahre im Film vergingen. Walter war nun ein junger Mann Mitte Zwanzig. In einer Großaufnahme war Sonja, seine damalige Freundin, zu sehen. Die beiden machten Urlaub in Portugal an der Algarve. Sie schritten die Steilküste entlang und blickten auf das Meer. Die untergehende Sonne leuchtete in einem prachtvollen Rot. „Wunderschön“, sagte Sonja und lächelte. Walter zog seine Freundin zu sich heran und küsste sie leidenschaftlich. Sie ging einen kleinen Schritt rückwärts, stolperte und stürzte mit einem Aufschrei in die Tiefe. Das war schrecklich – damals schon und jetzt wieder.

 

Der Walter im Film war mit Anfang Vierzig ein gebrochener Mann. Er hatte nach dem Vorfall in Portugal erst seine Arbeit und dann seine Wohnung verloren und lebte nun schon seit Jahren auf der Straße. Keinerlei Motivation trieb ihn an und er spürte die Verachtung der anderen Menschen. Doch dann lernte er Sybille kennen, eine Sozialarbeiterin, die sich liebevoll um ihn kümmerte. Sie half ihn wieder auf die Beine und sorgte dafür, dass er zumindest wieder eine feste Unterkunft hatte und nicht draußen schlafen musste.

 

Als Mann mit Mitte Fünfzig sah der Filmwalter aus wie ein Greis: weiße Haare, ein faltiges Gesicht und eine gebückte Körperhaltung. Walter war schwer krank, die schlimmen Jahre hatten ihren Tribut gefordert. Sybille, die sich immer noch um ihn kümmerte, brachte Walter ins Krankenhaus. Dort starb Walter.

 

Der Film war zu Ende, es lief der Abspann. Der Vorhang schloss sich. Alle im Saal gingen auf Walter zu und gaben ihm die Hand. Dann löste sich die Szene auf.

 

Nach dem Tod ist alles vorbei, sagen die Einen, die Anderen meinen, dass einem danach die Hölle oder der Himmel erwartet. Wieder Andere glauben, dass man nach seinem Ableben als Geist durch diese Welt wandelt und seine Freunde und Verwandte beobachtet. Doch wie ist es wirklich? Das weiß niemand von uns wirklich.

 

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Bildmaterialien: www.blog.muenchen.de
Tag der Veröffentlichung: 15.05.2018

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