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Völlig unbekümmert

 

 

 

Ich bin ein großer Fan vom Eurovision Song Contest, ehemals „Grand Prix d´Eurovision“. Schon seit 1970 verfolge ich diesen internationalen Gesangswettbewerb, also schon als Kind. Das war einer der wenigen Sendungen, für die ich lange aufbleiben durfte, außer „Spiel ohne Grenzen“. Meine Mutter begeisterte sich dafür, und so wurde ich angesteckt. Man erfreute sich an dem deutschen Beitrag, verfolgte gespannt die Abstimmung, um dann immer wieder leicht enttäuscht festzustellen, dass mal wieder „die anderen“ gewonnen hatten. Dabei konnten sich die Erfolge Deutschlands durchaus sehen lassen. Katja Ebstein wurde 1970 mit „Wunder gibt es immer wieder“ und 1971 mit „Diese Welt“ jeweils Dritte, sowie Zweite im Jahr 1980 mit „Theater“. Mary Roos trat 1972 mit „Nur die Liebe lässt uns leben“ an und wurde Dritte, Lena Valaitis erzielte mit „Johnny Blue“ im Jahr 1981 den zweiten Platz, ein Jahr später gewann Nicole mit „Ein bisschen Frieden“. Das war die große Zeit von Ralph Siegel, der damals fast jedes Jahr mit seinen Titeln die deutsche Vorentscheidung für sich entscheiden konnte.

 

Es sollte bis 2001 dauern, bis ich live dabei sein konnte, denn da fand die Veranstaltung in Hannover statt, und zwar in der TUI-Arena. Es gab kuriose Beiträge von „Knorkator“ und von Rudolph Moshammer (samt Hund Daisy), die nicht den Hauch einer Chance hatten. Immerhin blieb uns Thomas Gottschalk erspart, der zwar teilnehmen wollte, aber nicht durfte, weil er seinen Beitrag zu spät eingereicht hatte. Mein Favorit war Joy Flemming, die mit Lesley und Brigitte den grandiosen Song „Power Of Trust“ darbot. Die ganze Halle favorisierte auch dieses Lied, es gewann aber Michelle mit „Wer Liebe lebt“, die beim eigentlichen Wettbewerb Achte wurde.

 

Ja, und im Jahre 2010 siegte dann wieder der deutsche Beitrag, Lena aus Hannover, mit „Satellite“. Das führte in meiner Heimatstadt zu der Meinung, dass im Folgejahr der Wettbewerb hier stattzufinden hätte. Stattdessen war die Veranstaltung dann in Düsseldorf, wo man das Fußballstadion von Fortuna extra dafür vorübergehend umbaute und mit einem Dach ausstattete. Ich hätte mir gerne den ESC live angesehen, aber nur dafür nach Düsseldorf fahren, das war mir die Sache dann doch nicht wert.

 

Endlich, im Jahre 2015, war der Vorentscheid wieder in Hannover, erneut in der TUI-Arena. Es war der 05. März 2015. Vorher hatte ich mich im Internet über alle Teilnehmer schlaugemacht. Es traten an: Mrs. Grennbird, Faun, Fahrenhaidt, Andreas Kümmert, Alexa Feser, Ann Sophie, Laing und Noize Generation. Das waren sehr verschiedene Musikstile, richtig schlecht war kein Beitrag. Aber ich hatte einen Favoriten: „Faun“ mit „Hörst Du die Trommeln“. Diese Musikrichtung nennt man Pagan-Folk. Mittelalterliche Töne mischten sich mit modernen Rhythmen. Das gefiel mir sehr gut. Im Vorjahr traten „Santiano“an. Doch die Band im Shanty-Stil scheiterte leider. Würden es Faun diesmal besser machen? Mein zweiter Lieblingstitel war „Glück“ von Alexa Freser, eine wunderschöne Popballade.

 

Ich war sehr früh an der Location. Nur wenige Leute standen vor der Halle. Es war nicht erkennbar, wer von denen, die da warteten, Fan welchen Titels oder Interpreten war. Aber offensichtlich gab es Leute, die dieses Event jedes Jahr mitmachten, egal in welcher Stadt, denn einige begrüßten sich mit Handschlag. Ich bin zwar ein großer Fan des ESC, aber das fand ich dann doch übertrieben.

 

Nach einer gefühlten Ewigkeit durften wir rein. Ich hatte einen guten Platz im Unterrang mit sehr guter Sicht auf die Bühne. Die Show sollte in einer Stunde losgehen. Gespannt war ich auf Conchita Wurst, die den ESC im Vorjahr gewann und die Veranstaltung nach Österreich holte. Ich muss zugeben, dass ich damals zunächst entsetzt war, als ich Fotos von ihr sah. Ein bärtiger Kerl in einem Glitzerkleid – das war zumindest gewöhnungsbedürftig. Doch dann überzeugte sie mit einer grandiosen Stimme. Conchita war dann auch mit „Rise Like A Phoenix“ die Eröffnungsnummer des Abends. Das war Gänsehaut pur, sehr gut!

 

Danach betrat Barbara Schöneberger, die Moderatorin die Bühne. Sie erklärte kurz das Procedere der Abstimmung. Jeder der acht Bewerber durfte zunächst einen Titel vortragen, danach entschieden die Zuschauer durch Telefon-Voting welche vier Interpreten weiterkamen. Diese vier traten dann mit einem weiteren Song in Runde zwei an. Nun kamen nur noch zwei weiter, die dann im Finale standen. Danach sollte der Sieger feststehen.

 

Jetzt ging es los. Mrs. Greenbird begann mit „Shine Shine Shine“, gefolgt von Alexa Feser und Faun, meine beiden Favoriten. Während bei Alexa Feser alles prima klang, war ich von dem Vortrag von Faun ziemlich enttäuscht, dann man hörte kaum den Gesang. Das war sehr schade. Dazu muss man wissen, dass bei solchen großen Veranstaltungen „Halb-Play-Back“ gemacht wird, dass heißt die Musik kommt vom Band, nur der Gesang ist live.

 

Ann Sophie, die sich erst durch eine sogenannte Wildcard qualifizierte hatte, trat mit „Jump The Gun“ als Fünfte auf. Kein toller Song, aber eine gute Stimme. Und der im Vorfeld hochgehandelte Andreas Kümmert bildete mit „Home Is In My Hands“ die Schlussnummer. Es hieß, er sei gesundheitlich angeschlagen, eine starke Erkältung. Davon war aber nichts zu spüren. Er trug die Nummer souverän vor. Im Saal machten sich einige Fans von ihm bemerkbar.

 

Dann erfolgte das Voting der ersten Runde, auch im Saal durfte man mitmachen. Als Pausenfüller trat nochmals Conchita Wurst auf, diesmal mit „You Are Unstoppable“, einem neuen Song. In diversen Schnelldurchläufen wurden außerdem noch einmal alle acht Bewerber präsentiert. Jeder hoffte auf ein Weiterkommen, doch nur vier sollten es schaffen.

 

Ja, und dann ertönte der Gong, Abstimmungsende. Die Moderatorin nahm einen Zettel und las die Namen der vier Gewinner vor: Alexa Feser, Laing, Ann Sophie und Andreas Kümmert. Tja, Faun hatten es nicht geschafft, das hatte ich schon befürchtet, dafür aber Alexa Feser. Immerhin.

Die verbliebenen Kandidaten präsentierten nun jeweils ein weiteres Lied. Es begann Alexa Feser mit „Das Gold von Morgen“, gefolgt von Ann Sophie mit „Black Smoke“ und Laing mit „Wechselt die Beleuchtung“. Andreas Kümmert mit „Heart Of Stone“ war die letzte Nummer. Er bekam einen frenetischen Beifall, völlig zu Recht. Das war großartig, die Stimme erinnerte an Joe Cocker. War das der Gewinner?

 

Erneut durften die Zuschauer wählen und die beiden Bewerber für das Finale bestimmen. Und Ann Sophie und Andreas Kümmert waren dann tatsächlich diejenigen, die es geschafft hatten. In dieser Schlussrunde waren nicht nur die Kandidaten ausgewählt worden, sondern auch der jeweilige Song. Es traten also „Black Smoke“ gegen „Heart Of Stone“ an – und Andreas Kümmert siegte souverän, mit fast 80 % der Stimmen, wie später bekannt wurde.

 

Angesichts der angeschlagenen Gesundheit des Siegers wollte Barbara Schöneberger von Herrn Kümmert wissen, ob er sich nun noch einmal in der Lage sah, den Song zu performen. Doch mit seiner Antwort hatte wohl niemand im Saal, und erst recht nicht die Moderatorin gerechnet. Er sagte: „Ich bin nicht wirklich in der Verfassung, diese Wahl anzunehmen und muss deshalb… Ich geb’ meinen Titel an Ann Sophie. Ich denke einfach, dass sie viel geeigneter und qualifizierter dafür ist – ich bin ein kleiner Sänger.“ Sprachloses Entsetzen bei allen Beteiligten, das durfte doch wohl nicht wahr sein. Es folgten Buhrufe und Pfiffe, zu Recht. Warum hat er nicht von Anfang an gesagt, dass ihm das zu viel ist? Dann hätte jemand anders die Chance gehabt, mitzumachen und zu gewinnen.

 

So geschah es, dass die völlig verblüffte Zweitplatzierte Deutschland beim ESC in Österreich vertrat. Natürlich wusste ganz Europa von diesem Fauxpas und so wurde Ann Sophie Letzte mit 0 Punkten.

 

Auch in den nächsten beiden Jahren war Deutschland wenig erfolgreich beim ESC: Jamie-Lee Kriewitz wurde 2016 mit „Ghost“ ebenso letzte (immerhin mit 11 Punkten nach dem neuen Punktesystem mit getrennter Ausrechnung von Jury und Publikum) und Levina im Jahre 2017 mit dem Titel „Perfect Life“ Vorletzte mit 6 Punkten.

 

Dann entschloss man sich beim NDR, das Vorentscheid-Verfahren radikal umzukrempeln: Man setzte verstärkt auf Eigenkompositionen bzw. eigenen Texten der Teilnehmer die in einer komplizierten Auswahl ermittelt wurden. So schaffte es in 2018 Michael Schulte mit „You Let Me Walk Alone“ ins Finale nach Portugal und wurde dort mit 340 Punkten Vierter. In dem Song thematisierte er den Tod seines Vaters. Der Titel fand international viel Anklang, nicht zuletzt durch das charismatische Auftreten von Michael Schulte.

 

Andreas Kümmert hatte sein Lied übrigens auch selbst geschrieben.

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Bildmaterialien: www.wikipedia.org
Tag der Veröffentlichung: 09.03.2018

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