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Der Doggerbank-Zwischenfall

 

 

Nachdem im Jahre 2088 die Zeitmaschine erfunden wurde, wurden strenge Gesetze erlassen, die die Benutzung reglementierten. Nur wenigen, ausgewählten Personen war es erlaubt, das Gerät zu benutzen. Diese kleine Gruppe durfte bei ihren Reisen in die Vergangenheit nur beobachten, aber nichts im Verlauf der Geschichte verändern, um Zeitparadoxien zu verhindern.

 

Das Training für die Zeitreisenden war hart, wobei es nicht so sehr auf die körperliche Verfassung, sondern viel mehr auf die emotionale Ebene ankam. Bei den historischen Ereignissen durfte man nicht sensibel reagieren, auch wenn einem bekannt war, dass dabei Menschen starben.

 

Viktor Zastrowski hatte alle Tests glänzend bestanden und sich so für den allerersten Versuch qualifiziert. Zusammen mit seinem Kollegen Marius Hallbaum betrat er am 26. Februar 2091 das Labor in Berlin. Die beiden wussten vorher nicht, wohin die Reise gehen würde, das würden sie erst kurz vor dem Start erfahren. Gespannt lauschten sie den Worten des Leiters des Projekts, Professor Clemens Schulze.

 

„Meine Herren, ich begrüße Sie bei einem riskanten Unternehmen. Wir wissen nicht, ob Sie das unbeschadet überstehen werden. Leib und Leben sind gefährdet. Bislang haben wir nur Tiere und Kameras zurück geschickt. Sie sind die ersten Menschen, die diese Reise antreten. Lange wurde darüber diskutiert, womit wir beginnen. Letztendlich haben wir uns für das 20. Jahrhundert entschieden, und pro Jahrzehnt je ein Geschehnis ausgesucht, das es wert ist, dokumentiert zu werden.“

 

Schulze machte eine Kunstpause und fuhr dann fort: „Nun es geht in das Jahr 1904. Sagt jemand von Ihnen der Doggerbank-Zwischenfall etwas?“ Hallbaum schüttelte den Kopf, aber Zastrowski äußerte sich: „Es hängt irgendwie mit dem russisch-japanischen Krieg zusammen, aber Genaueres weiß ich leider nicht mehr.“ Der Professor antwortete: „Ganz richtig, Das 20. Jahrhundert war voller kriegerischer Auseinandersetzungen. Der Russisch-Japanische Krieg in den Jahren 1904 und 1905 gilt als ein Vorläufer des Ersten Weltkriegs, ist aber weitest gehend in Vergessenheit geraten. Ein kleiner Vorfall, der sich jedoch weit entfernt vom eigentlichen Konfliktgebiet ereignete, hätte die Lage schon damals eskalieren lassen können.“

 

„Nun, die Doggerbank liegt mitten in der Nordsee, also was ist da geschehen?“, wollte Hallbaum wissen. „Herr Hallbaum, schön, dass zumindest Ihre geographischen Kenntnisse stimmen. Es war am 21. Oktober 1904 in der Nähe von Hull. Die Besatzung eines Kriegsschiffs der Russen hielt ein vorbei fahrendes schwedisches Schiff für ein japanisches Torpedoboot. Gleichzeitig befanden sich dreißig britische Fischerboote in der Nähe. Es kam zu einem Schusswechsel, wobei es Tote gab. Dadurch wäre es fast zu einem Krieg zwischen England und Russland gekommen. Als Folge dieses Konfliktes wären durch verschiedene Allianzen auch Frankreich und Deutschland mit einbezogen worden. Folglich wäre der Erste Weltkrieg viel früher ausgebrochen“, berichtete Schulze.

 

„Und wohin schicken Sie uns? Auf das Schiff der Russen? Zumindest hätte ich da kein Verständigungsproblem, mein Russisch ist sehr gut. Außerdem spreche ich perfekt Englisch und Schwedisch“, erklärte Zastrowski und grinste. Er hätte sich zwar ein interessanteres Ziel für die Zeitreise gewünscht, aber er war nicht unzufrieden. Es hätte auch schlimmer kommen können. Hallbaum ergänzte: „Ich kann nur ein paar Brocken Russisch, aber ist das denn so wichtig, Herr Professor? Ich dachte, wir sollten nur beobachten und nicht eingreifen.“

 

Der Angesprochene nickte und sagte: „Völlig richtig, Herr Hallbaum, Sie sollen eben nichts verändern und auch möglichst wenig mit den Leuten sprechen. Aber wir können Sie nun einmal nicht unsichtbar machen. Und für den Fall, dass man Sie bemerkt, kann Herr Zastrowski sich ja verständlich machen. Ja, wir haben tatsächlich vor, dass Sie auf dem Russenschiff landen. Hoffen wir, dass das so klappt. Es ist ja unser erster Versuch...“

 

Hallbaum fiel ihm ins Wort: „Wollen Sie etwa damit andeuten, dass die Maschine so ungenau arbeitet und dass wir vielleicht mitten im Meer ankommen? Das dürfte um die Jahreszeit ziemlich kühl werden!“ „Das Problem ist, dass wir das Schiff nicht so exakt lokalisieren können. Die Zeit ist jedenfalls genauestens bestimmbar“, antwortete der Professor. Er bemerkte eine leichte Unruhe bei den beiden potentiellen Zeitreisenden.

 

Alle drei gingen in ein Nachbarzimmer, in dem sich mehrere Stühle und ein Fernseher befanden. „Ich zeige Ihnen nun einen kleinen Dokumentarfilm über den Vorfall. Leider existieren nur wenige Original-Aufnahmen, wie Sie sich denken können. Deshalb habe ich Ihnen hier eine Chronik ausgedruckt. Sie liegt auf den Stühlen bereit“, erklärte Schulze und startete das Video.

 

Ein paar Tage blieben Zastrowski und Hallbaum, um sich seelisch auf die Zeitreise vorzubereiten. Mit Nachdruck hatten sie verlangt, Neopren-Anzüge zu tragen. Das wurde aber abgelehnt, da dieses Material erst in den dreißiger Jahren erfunden wurde und sie bei ihrer Ankunft damit unnötiges Aufsehen erregt hätten. Schließlich einigte man sich auf die Benutzung zeitgerechter Taucheranzüge, darunter trugen die beiden warme, wollene Unterwäsche.

 

Der Professor erklärte: „Wenn Sie im Wasser gelandet sind, und das Schiff zu weit entfernt sein sollte, können Sie auf einen Knopf an dem Gerät, das wir Ihnen ausgehändigt haben drücken, damit Sie sich sofort zurücktransferieren. Sie müssen also nur kurzzeitig in der Kälte verbleiben. Ansonsten erfolgt der automatische Rücktransport in sechs Stunden.“

 

Zastrowski und Hallbaum nickten und gingen beruhigt in den Transporterraum. Oberhalb einer Metallplatte, die etwa den Durchmesser von fünf Metern hatte, war eine gläserne Kuppel, aus deren Mitte ein armgroßer Stab herausragte. Die beiden Zeitreisenden betraten die Platte und verharrten dort. Der Professor stand drei Meter daneben an seinem Schaltpult. Er drückte einen roten Knopf. Es surrte, augenblicklich später wurden Zastrowski und Hallbaum von einem silbrigen Sternenregen erfasst. Ihre Körper lösten sich auf und Sekunden später fanden sie sich mitten im Wasser wieder. Es war stockdunkel, der Mond versteckte sich hinter den Wolken. Das Experiment hatte offenbar tatsächlich funktioniert, fast perfekt. In nur zweihundert Metern Entfernung sahen die beiden ein Schiff, das schwach beleuchtet war. Das musste das geplante Ziel sein. Sie schwammen darauf zu. Es war kurz vor 20 Uhr.

 

Ein einzelner Mann in Uniform lehnte über die Reling der Kamtschatka und blickte auf das Meer. Mit einem kleinen Suchscheinwerfer kontrollierte der Mann das Umfeld. Zwei dunkle Gestalten in Taucheranzügen näherten sich. Das war sehr seltsam. Niemand von seiner Besatzung wurde vermisst, schon gar nicht jemand in Taucherausrüstung. Dimitri Pedrokow, der Soldat, war beunruhigt und ging schnurstracks zur Brücke, um seinen Vorgesetzten, Kapitän Boris Asarow, zu informieren. Dieser war ohnehin missgelaunt, weil sein Schiff aufgrund eines Maschinenschadens weit hinter den anderen Schiffen der Flotte zurückgefallen war. Daher nahm er die Nachricht über die mutmaßlichen Schiffbrüchigen zwar zur Kenntnis, hatte aber wenig Lust, diese zu bergen. Er war aber dazu verpflichtet. Deshalb ging er mit Pedrokow auf das Deck und die beiden warfen Rettungsringe über Bord, Zastrowki und Hallbaum schwammen darauf zu.

 

So viel Aufsehen wollten sie natürlich nicht erregen, aber es war nun einmal passiert, andererseits waren sie froh, aus dem kalten Wasser zu kommen. Sie hatten sich eine einigermaßen plausible Geschichte erdacht. Als Soldaten eines anderen russischen Kriegsschiffes konnten sie sich nicht ausgeben, weil das rasch über Funk hätte überprüft werden können. Sie wären aufgeflogen. Daher gab man sich als Kanalschwimmer aus Großbritannien aus, die vom Weg abgekommen waren.

 

„Und das soll ich Ihnen jetzt glauben?“, fragte der Kapitän forschend, nachdem Zastrowki und Hallbaum vor Kälte zitternd in der Kombüse saßen und ihre Geschichte erzählt hatten. Man hatte ihnen heißen Tee serviert, den sie gerne angenommen hatten. Besonders verwunderlich war, dass die beiden Fremden offensichtlich bester Gesundheit waren, obwohl sie stundenlang in der Eiseskälte verbracht haben wollten. Der eine der beiden vorgeblichen Briten sprach perfekt Russisch, der andere nur bruchstückhaft. „Ich glaube vielmehr, dass Sie Spione sind!“, erklärte Asarow. In diesem Moment stürmte ein anderes Besatzungsmitglied den Raum. Es war 20.30 Uhr. „Kapitän, Sie müssen sich das ansehen. Wir haben etwas gesichtet“, rief der junge Mann aufgeregt. Zastrowski und Hallbaum wussten, was das war. Das musste das Schiff der Schweden sein. Es verbat sich jedoch, das zu verraten. Auf jeden Fall waren sie sich jetzt sicher, den richtigen Tag und den richtigen Ort erwischt zu haben.

 

Alle Russen verließen die Kombüse, diese befand sich direkt neben der Funkstation, so dass die Zeitreisenden deutlich hören konnten, was kurz darauf dem Flaggschiff Knjas Suworow berichtet wurde. Der Kapitän hielt das vorbeifahrende Schiff, das sein Kamerad entdeckt hatte, für ein japanisches Torpedoboot. Das war den schlechten Sichtverhältnissen geschuldet, die vielen Wolken hatten den Mond immer noch verdeckt. Die Geschichte verlief so, wie es überliefert war. Mit einem Unterschied: Natürlich musste der Kapitän dem Admiral außer der Sichtung des mutmaßlichen Feindschiffes auch über das Aufgreifen der britischen Spione berichten. Der Admiral erwog deshalb, die ganze Flotte in Alarmbereitschaft zu versetzen.

 

„Was meinst Du, Viktor, sollen wir verschwinden?“, fragte Hallbaum seinen Kollegen auf Deutsch, nachdem sie den Funkverkehr mehr oder weniger unabsichtlich mitgehört hatten. Zastrowski schüttelte den Kopf und antwortete leise: „Noch ist ja nichts Schlimmes passiert, Marius. Außerdem würde es noch mehr Aufsehen erregen, wenn wir plötzlich nicht mehr da wären.“ Das klang logisch und so verblieben die Zeitreisenden vorerst an Bord des Schiffes. Das Wichtigste stand ja noch bevor, nämlich der Beschuss der englischen Fischerboote.

 

Unterdessen hatte der Admiral angeordnet, dass die mysteriösen Fremden vorerst in Arrest genommen werden sollten. Und so verbrachten die Russen Zastrowski und Hallbaum in ein Kabuff in der Nähe des Maschinenraumes. Dort war es laut und stickig. Eine weitere Beobachtung der Vorgänge gestaltete sich schwierig. „Wir müssen uns etwas einfallen lassen, Viktor“, sagte Hallbaum, leicht verzweifelt. So hatte er sich das nicht vorgestellt. „Ich habe da eine Idee“, entgegnete Zastrowski. Er nahm eine metallene Schüssel, die zur Verrichtung der menschlichen Bedürfnisse dienen sollte und schleuderte diese mit aller Macht gegen die Wand. Dieser enorme Radau war natürlich unüberhörbar. Wie von ihm erhofft, stürmten zwei russische Soldaten herbei. Sie öffneten die Tür der Zelle, die Gewehre im Anschlag.

 

„Wir möchten gestehen“, rief Zastrowski. Das war überzeugend und so wurden er und Hallbaum erneut in die Kombüse verbracht. Es war unterdessen kurz vor 1 Uhr. Der Kapitän und die anderen Offiziere hatten kein Auge zugetan, da der Funkverkehr mit dem Flaggschiff aufregende Neuigkeiten ergeben hatte. Asarow hatte dabei erfahren, dass der Admiral der 2. Division britische Schiffe entdeckt hatte, kurz darauf wurden diese auch vom Flaggschiff der 1. Division gesichtet und von der Knjas Suworow und danach von den anderen russischen Schiffen beschossen. Keiner von den Russen erkannte und ahnte, dass es sich um Fischerboote handelte. Die Meldung über die Gefangennahme der britischen Spione hatten die Lage aufgeheizt, alle waren angespannt.

 

Entsprechend aggressiv war Asarow, als er sich Zastrowski und Hallbaum erneut vornahm. Am liebsten hätte er Gewalt angewandt, um die weiteren Pläne der Briten zu erfragen, aber er besann sich. Vielleicht würden sie ja von sich aus reden. „So, meine Herren, jetzt legen Sie mal die Karten auf den Tisch. Was planen Ihre Generäle und Admiräle? Ein offizielles Bündnis mit den Japanern gegen uns? Immerhin sind sie seit zwei Jahren formell mit den Schlitzaugen verbunden.“ Stolz blickte der Kapitän auf das Bild des Zaren, das den ansonsten spärlich ausgestatteten Raum zierte. Zastrowki räusperte sich und antwortete. „Nun, ganz genau weiß ich das nicht. Wir hatten nur den Auftrag die Lage zu sondieren und Bericht zu erstatten. Entscheidungen treffen dann unsere Vorgesetzten. Aber wir möchten genau so wenig wie Sie, dass die Lage eskaliert und sich der Krieg erweitert. Noch ist Großbritannien neutral in Ihrem Konflikt mit Japan.“ „Nun, was machen dann Ihre Schiffe hier? Uns wurden gemeldet, dass Schüsse auf unsere Flotte abgefeuert worden sind!“, entgegnete der Kapitän. Er wusste nicht, dass sich zwei Schiffe der Russen gegenseitig beschossen hatten, nämlich der Panzerdeckkreuzer Aurora und der Kreuzer Dimitri Donskoi. Diese wahre Geschichte war den Zeitreisenden bekannt, sie vermieden es tunlichst, die Russen aufzuklären.

 

Gerade als der Kapitän seinem Admiral von dem Verhör berichten wollte, machte ihn Pedrokow auf zwei Boote ohne Positionslichter aufmerksam. Eines davon war der Trawler Crane, auch ein ziviles Schiff. Ohne Skrupel befahl Asarow den Beschuss der vorgeblichen Feindschiffe, wie vom Admiral angeordnet. Außerdem zwang er Zastrowski und Hallbaum, dabei zuzusehen. Der Kanonier feuerte, einmal, zweimal, dreimal. Der dritte Schuss saß, das Schiff wurde versenkt. Zastrowski und Hallbaum wussten, dass dabei zwei Seeleute getötet wurden. Ein weiteres Mal bedauerten sie, nicht eingreifen zu dürfen. Um 2 Uhr würde der automatische Rücktransport erfolgen. Wenn sie sich vor den Augen der Russen in Luft auflösen würden, würde das Aufsehen erregen. Sie sollten daher möglichst alleine sein, wenn das passierte.

 

Um 1.30 Uhr war ihnen das noch nicht gelungen. Die Kamtschatka hatte zur Knjas Suworow aufgeschlossen, bei dieser Gelegenheit sollten die Gefangenen dem Flaggschiff übergeben werden, damit der Admiral das Verhör fortsetzen konnte. Die anfängliche Lappalie mit den Spionen hatte sich durch das Aufkreuzen der weiteren Feindschiffe wesentlich verschärft. Das war jetzt Chefsache.

 

Nur wenige Meter trennten die beiden Schiffe, die ganze diensthabende Besatzung der Kamtschatka war darauf konzentriert das Manöver so durchzuführen, dass die Übergabe der Briten problemlos erfolgen konnte. Daher waren Zastrowski und Hallbaum unbeobachtet. Das war die Gelegenheit zu verschwinden. Die beiden Zeitreisenden drückten die Rückholknöpfe und sie lösten sich auf, um kurz darauf wieder im Transporterraum zu erscheinen.

 

„Das hat ja hervorragend geklappt, meine Herren“, rief der Professor begeistert. Er hatte an seinem Computer die mögliche Abweichung der Zeitlinie verfolgt und einen Wert von 0,002 % zur ursprünglichen Geschichte festgestellt, das lag im Bereich des Tolerierbaren. Zastrowski und Hallbaum nickten zufrieden, sie hatten ihre Aufgabe gut erfüllt. Morgen würden sie ihren Bericht abliefern, danach war eine Woche dienstfrei. Das nächste Abenteuer wartete schon.

 

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 26.02.2018

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