Schneereiche Winter sind hierzulande selten geworden, das war früher anders. 1978/79 war so ein Winter, und auch vier Jahre später, in den Jahren 1982/83. Ich war zu dieser Zeit bei der Bundeswehr, stationiert war ich in Munster in der Lüneburger Heide, hatte also während meiner Grundwehrdienstzeit solche Schneemassen erlebt. Zwar war ich einer Kampfeinheit zugeteilt, allerdings als „Waffenkammer-Fuddel“. Dieser Posten war sehr verantwortungsvoll, hatte aber den großen Vorteil, dass ich nur selten „raus“ musste. Während die Kameraden Manöver oder Schießübungen zu absolvieren hatten, saß ich „gemütlich“ in meiner warmen Waffenkammer.
Aber manchmal musste auch ich „an die Front“, z.B. um die anderen Soldaten mit warmen Essen zu versorgen. Das geschah natürlich nicht zu Fuß. Ich durfte als Beifahrer in einem 7, 5 Tonner mitfahren. Einen Führerschein hatte ich seinerzeit noch nicht, aber es war vorgeschrieben, dass der LKW-Fahrer nicht alleine fahren durfte. Nicht immer war ich es, der das Vergnügen hatte, diese Pflicht zu erfüllen. An diesem Tag im Januar 1983 war es aber mal wieder so weit. Es hatte Tage zuvor stark geschneit. Eigentlich ein prachtvolles Bild, aber leider auch mit Tücken behaftet, wie sich später herausstellen sollte. Aber der Reihe nach.
Obergefreiter Baumann und ich hatten die Essenskübel schon auf der Ladefläche verstaut, als uns noch einfiel, dass wir etwas Wichtiges vergessen hatten: den Nachtisch. Heute gab es Äpfel, die meisten Kameraden hätten wohl diesen Orangenpudding bevorzugt, den ich widerlich fand. Tapetenkleister war da schmackhafter. Also gingen wir zur Kantine zurück. Der Hintereingang war über eine kleine Rampe zugänglich, die mir kurz darauf zum Verhängnis werden sollte. Sie war zwar nicht besonders steil, aber – bedingt durch die Außentemperaturen – ziemlich glatt, da dort nicht gestreut war. Es kam, wie es kommen musste: Ich rutschte beim Verlassen der Kantine aus, fiel auf dem Allerwertesten und das Obst verteilte sich über den ganzen Weg.
Rainer, der Fahrer lachte und sagte: „Gut, dass das nicht mit den Rouladen passiert ist!“. Ich grinste nur, klopfte mir den Schnee von meinem olivgrünen Kampfanzug und sammelte mit meinem Kameraden die Äpfel wieder ein. „Wo geht es heute überhaupt hin?“, wollte ich wissen, als wir wieder in dem LKW saßen. „Das ist ein Gelände, dass ich auch noch nicht kenne, ziemlich weit weg, fast schon in Fassberg“, antwortete er und holte sein Maßband hervor. „Sechsundsiebzig“, rief er stolz. Dazu muss man erklären, dass es bei den Soldaten, die kurz vor der Entlassung standen, üblich war, die Tage bis zum letzten Tag des Wehrdienstes mittels eines handelsüblichen Maßbandes zu demonstrieren. Man schnitt jeden Tag nach Dienstschluss einen Zentimeter ab. „Sechsundsiebzig“ bedeutete also, dass Rainer Ende März dieses Jahres entlassen wurde.
Mit ordentlichem Tempo ging es über die Panzerringstraße zu unserem Ziel. „Ich habe heute übrigens nur Benzin getankt“, erklärte der Gefreite Baumann und wies darauf hin, dass der Motor seines Tonners „alles“ tanken könne, außer Himbeersaft. Das war bei den vorherrschenden Außentemperaturen auch sinnvoll. Diesel wäre ausgeflockt. Solche speziellen Motoren waren für die großen LKW damals bei der Bundeswehr Standard, ob es sie heutzutage immer noch gibt, weiß ich nicht.
Nach circa zwanzig Minuten hatten wir unser Ziel erreicht, es war halb zwölf. Die Kameraden waren noch bei ihrer Übung, Essen sollte es um 12.00 Uhr geben. Rainer und ich öffneten die Luke am hinteren Ende des Tonners und luden die Essenkübel ab. Es waren drei: ein großer für die Rouladen und zwei kleinere für die Kartoffeln und den Rotkohl, alle Behälter in olivgrün. Im Normalfall prima getarnt, aber angesichts der weißen Landschaft an diesem Tag prima zu erkennen, auch für den „Feind“.
Der große Kübel war circa 80 Zentimeter hoch und hatte die Form einer Tonne. An den Seiten waren Tragegriffe, damit ihn besser transportieren konnte. „Lass uns das da hinten aufbauen, auf der großen freien Fläche“, schlug der Obergefreite vor und deutete nach rechts. Ich nickte und gemeinsam schleppten wir alles dahin und warteten. „Ich rauche erst mal eine“, sagte Rainer und ergänzte: „Hol noch mal die Äpfel, aber fall nicht wieder“.
Fünfzehn Minuten später hatte Rainer das Lungenbrötchen und ein weiteres längst intus, als mir etwas auffiel. „Du, der große Kübel ist aber ganz schön in den Schnee eingesunken“, bemerkte ich. Mein Kamerad zuckte mit den Schultern und antwortete: „Das ist völlig normal.“
Kurz darauf sahen wir von Weitem, dass sich die hungrigen Kameraden näherten. Einer von ihnen schien besonders ausgehungert zu sein, dann mit beachtlichem Tempo stürmte er auf uns zu. „Das ist Oberfeldwebel Weber“, stellte Rainer fest und öffnete die Bügel des Rouladen-Kübels.
Der Oberfeldwebel rief aufgeregt: „Seid Ihr wahnsinnig geworden? Wisst Ihr, wo Ihr Euch da aufgebaut habt?“ Rainer und ich schüttelten mit dem Kopf und sollten gleich darauf die Antwort erhalten. „Das ist ein See, ein verdammter See. Noch ein paar Minuten und der Kübel wäre durch das Eis gebrochen. Habt Ihr das nicht bemerkt?“. Das hatten wir wirklich nicht. Die Lüneburger Heide ist nun einmal recht spärlich bewachsen, Bäume und Sträucher sind selten. Die übliche Vegetation war vom Schnee bedeckt, ebenso wie die Fläche des Sees und somit nicht, oder kaum vom Land zu unterscheiden, bis auf die spärlichen Schilfpflanzen, die sich in einigen Metern Entfernung von uns erstreckten. Diese bemerkten wir erst jetzt.
Unterdessen waren auch die anderen Soldaten bei uns angekommen. Offenbar hatten sie alles mitangehört und lachten lauthals. „Das wäre aber eine sehr komische Verlustmeldung geworden, wenn der Kübel versunken wäre“, äußerte sich der Versorgungsunteroffizier Meyer und grinste. Er war in unserer Kompanie für solche Dinge zuständig. Wann immer ein Soldat einen Ausrüstungsgegenstand verloren oder beschädigt hatte, musste dieser ein doppelseitiges Formular ausfüllen und den Vorgang schildern. Dann wurde entschieden, ob der Verursacher haftbar gemacht wurde oder nicht. Ein Essenskübel ist in der Geschichte der Bundeswehr sicherlich höchst selten abhandengekommen. Die Rouladen wären von dieser Meldung übrigens nicht betroffen gewesen, da das Verbrauchsgegenstände waren. Die hungrigen Kameraden hätten sich aber mit den Kartoffeln und dem Kohl, sowie den Äpfeln begnügen müssen und hätten gemäß dem Motto „Ohne Mampf kein Kampf“ äußerst schlechte Laune gehabt.
Rainer und ich schleppten mit hochrotem Kopf die Essenskübel an Land und begannen mit der Essensausgabe, die von zahlreichen komischen Bemerkungen der Kameraden begleitet war. Noch monatelang blieb das Geschehnis im Gedächtnis der Mannschaft haften und wurde mir noch lange nachgetragen.
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Tag der Veröffentlichung: 07.01.2018
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