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Das Projekt Roswell

 

Nachdem die Menschheit gegen Ende des 21. Jahrhunderts endlich befriedet war, konnten wir uns auf die Wissenschaft konzentrieren, zumal auch Hunger und Armut besiegt waren. Einem der ehrgeizigsten Projekte war ich zugeteilt: die Erforschung der Vergangenheit. Erforschung war zu wenig gesagt, denn als das, was die Menschheit seit Jahrhunderten begehrt hatte, doch noch erfunden wurde, nämlich die Zeitmaschine, waren alle Schranken offen.

 

Eine Kommission aller Nationen wählte die wichtigsten Ereignisse aus, die es zu beobachten galt: z.B. die Ermordung Julius Cäsars, John F. Kennedys, Martin Luther Kings und Olof Palmes, die Vereinigung Deutschlands, die Anschläge vom 11.09.2001 in New York und der Ausbruch des Vesuv im Jahre 79 n. Chr.

 

Eingreifen durften wir nicht. Das war technisch auch gar nicht möglich. Wir konnten lediglich unbemannte Flugmaschinen in die Vergangenheit versetzen. Ich, Sebastian Globecker, Physiker, war mit zwei anderen Wissenschaftlern dem Projekt Roswell zugeteilt. In jener amerikanischen Kleinstadt stürzte angeblich im Jahre 1947 ein UFO ab, was von den USA aber nie zugegeben worden ist.

 

Meine beiden Kollegen, die Irin Sarah O’Brian, Expertin auf dem Bereich der Geschichte und Vladimir Kaspersky, der russische Chefprogrammierer und ich waren auf unseren ersten Einsatz sehr gespannt. Uns oblagen die Steuerung der Flugmaschine und die Auswertung der von ihr übertragenen Bilder. Sarah als überzeugte Christin und Vladimir, der orthodoxe Jude hatten sich zwar ein religiöses Ziel gewünscht, aber ich als Agnostiker war mit der zu erfüllenden Aufgabe hochzufrieden.

 

Oft fühlte ich mich den beiden gegenüber als „fünftes Rad am Wagen“, da sie stets ihre geistige Überlegenheit heraushängen ließen. Diesen Ausdruck verwendete ich gerne, mein Großvater hatte mir davon erzählt, dass die Autos früher Räder hatten und nicht schwebten, wie heutzutage üblich. Auf alten Fotos hatte ich mir angesehen, wie diese aussahen. Bis zum Jahre 2025 waren sogar noch Verbrennungsmotoren üblich, bis sie damals verboten wurden.

 

„So, jetzt geht es los!“, rief Sarah begeistert und warf ihr feuerrotes Haar nach hinten. Das machte sie jedes Mal, wenn sie erfreut oder aufgeregt war. Sie war wirklich wunderschön, das musste ich immer wieder feststellen. Die Flugmaschine stand nur wenige hundert Meter von uns entfernt, direkt vor der riesigen Angela Merkel - Statue, die man am 17. Juli 2054 anlässlich des 100. Geburtstages der ehemaligen Bundeskanzlerin hier in Berlin an Stelle der zuvor umgestürzten Siegessäule errichtet hatte. Die aus Styanit gebaute Statue konnte beliebig die Farbe wechseln, wie üblich für dieses Material.

 

Eigentlich hatten wir erwartet, dass der Start des Flugobjektes mit einem kleinen Festakt verbunden wurde, aber offenbar war das allgemeine Interesse an diesem historischen Ereignis doch nicht so groß, dass sich einer von den Damen oder Herren unserer Regierung hinzu bequemt hätten. Nun gut, zusehen konnte ohnehin jeder, wie er wollte, seitdem seit mehr als zwanzig Jahren jeder öffentliche Platz und jede Straße videoüberwacht war und die Bilder auf den heimischen 4D-Projektoren übertragen wurden. Niemand regte sich heutzutage über diese Rund-Um-Überwachung auf. Privatsphäre gab es ja noch in den eigenen Wohnungen und Häusern, sowie an gewissen Arbeitsplätzen, die – wie z.B. unser Büro - besondere Aufgaben hatten.

 

Vladimir hatte den Steuerungsknüppel, den man im Retrostil eines der uralten Spielkonsolen gebaut hatte, in der Hand und nickte. Sarah und ich standen neben ihm und sahen ihm zu. Die Maschine surrte leise und stieg dann langsam in den strahlend-blauen Berliner Himmel auf. „Der Wettercomputer hat wirklich ganze Arbeit geleistet“, bemerkte Sarah und grinste zufrieden. Regen und Wind hätten dem Flugobjekt zwar nicht geschadet, aber uns den ehrwürdigen Augenblick verdorben.

 

Es würde einen Moment dauern, bis die Maschine an ihr Ziel angelangt war. Wir gingen gemäßigten Schrittes in unser nahe gelegenes Bürogebäude, ohne die sonst üblichen Transportbänder zu benützen. Vladimir waren diese zuwider, und ihm zuliebe verzichteten wir auch darauf. „Jetzt habe ich Hunger bekommen“, sagte Sarah und fragte uns: „Wollt Ihr auch etwas? Die Algenburger sind in der Kantine im Angebot!“ Sie war eine der wenigen vom Kollegenkreis, die dieses Zeug pur aß, wir anderen bevorzugten das vom Nahrungsgenerator umgewandelte Essen. Eigentlich hatte sie ja Recht, da unsere Speisen seit vielen Jahrzehnten alle aus Algen bestanden, womit das Hungerproblem weltweit besiegt war. Mir schmeckte das in der unbehandelten Form aber einfach nicht.

 

Schon mein Vater hatte immer gesagt: „Ich bin doch keine Seekuh!“, wenn man ihm pure Algen anbot. In seiner Jugend hatte er noch richtiges Essen kennen gelernt, also z.B. Fleisch von Tierleichen. Niemand aß heutzutage so etwas, es sei denn, man war UNO-Multimillionär. An diese Währung, die im Jahre 2098 den Euro, den Dollar und fast alle anderen Zahlungsmittel der souveränen Staaten abgelöst hatte, hatten wir uns nach und nach gewöhnen müssen, bis auf die Schweizer, die immer noch ihren Franken hatten. Da aber fast niemand noch mit Bargeld bezahlte, war das ohnehin egal.

 

„Nein, danke“, antworteten Vladimir und ich nahezu gleichzeitig. Sarah seufzte und berichtete, dass sie nachher noch eine Überraschung für uns hätte, wenn alles glattgehen würde. „Ich habe daran keinerlei Zweifel“, entgegnete der Russe. Offenbar war er leicht beleidigt, dass jemand den Erfolg des Unternehmens in Abrede stellte. Vladimir war zwar ein begnadeter Ingenieur und Programmierer, aber auch extrem eitel.

 

Unterdessen hatten er und ich uns ins Büro begeben. Ich schaltete den 4D-Projektor ein, der ein gestochen scharfes Bild nebst erstklassigem Dolby-Surround-Sound und Geruchsübertragung lieferte. Letzteres war für die heutige Aufgabe zwar nicht unbedingt nötig, aber wir hatten ja noch viele andere Ziele auf der Agenda. Die Flugmaschine hatte unterdessen ihr Ziel erreicht. Es war der 14. Juni 1947. Auf der Foster Ranch etwa 105 km nordwestlich von Roswell im US-Bundesstaat New Mexiko hatte William Brazel damals verstreute Trümmer eines unbekannten Flugobjektes auf seiner Farm gefunden.

 

Es war jedoch nichts davon zu sehen. Man sah nur die Ranch. „Wir sollten vielleicht noch einen Tag zurückgehen“, bemerkte Sarah, die mittlerweile das Büro betreten hatte. „Ja, der Absturz war vermutlich am Vortag“, bestätigte Vladimir. Eine leichte Enttäuschung konnte er nicht verbergen. Er drückte eine Taste auf der Steuerung, der Bildschirm wurde augenblicklich dunkel. „Oh, Bildausfall“, rief ich, doch die Irin entgegnete: „Nein, es ist jetzt Nacht, in der Gegend ist es nun stockdunkel, daher sieht man nichts.“ Das war mir peinlich, ich hätte wohl besser geschwiegen. Um den Fauxpas zu überspielen, fragte ich: „Was ist nun mit der versprochenen Überraschung, Sarah?“. Auch das hätte ich lieber sein lassen sollen, denn sie fauchte: „Sieht das jetzt für dich so aus, als ob schon alles geklappt hat, du Witzbold?“

 

An diesem Arbeitstag versuchten wir, noch mehrere Tage vor- und zurückzuspringen. Vergeblich! Es war weder ein UFO noch Trümmer davon zu sehen. Hatte es diesen Vorfall vielleicht gar nicht gegeben? Aber es existierten doch zahlreiche Berichte darüber! Andererseits hatten sich die meisten UFO-Sichtungen als Irrtümer oder Fälschungen herausgestellt und noch heutzutage im Jahre 2117 war noch nie die Existenz außerirdischen, intelligenten Lebens bewiesen worden und wir hatten auch keine Funksignale von fremden Wesen empfangen.

 

Frustriert und enttäuscht gingen wir nach Hause und hofften, dass es sich am nächsten Tag bessern würde. Ich betrat dann am Folgetag als erster das Büro und sah die zwischendurch aufgezeichneten Bilder durch. Leider gab es keine Neuigkeiten. Der Steuerungsknüppel der Flugmaschine lag verlockend auf dem Schreibtisch und ich konnte nicht widerstehen, ihn zu benutzen. Es wäre bestimmt eine tolle Überraschung für Vladimir und Sarah, wenn ich jetzt doch etwas finden würde. Ich berührte sanft den Joystick, das Flugobjekt reagierte sofort. In diesem Moment öffnete sich die Eingangstür des Büros und der Russe trat ein. Ich erschrak und riss den Knüppel nach unten, was unmittelbare Folgen hatte. Man sah auf dem Bildschirm, wie sich der Boden näherte – dann brach die Übertragung ab.

 

Entsetzt schrie Vladimir auf: „Du Idiot! Was hast du getan! Die Maschine ist abgestürzt!“ So kam es, dass doch Trümmerteile auf der Ranch landeten, aber es waren keine Außerirdischen, die dort mit einem UFO einen Crash erlitten, sondern wir. Das, was wir eigentlich beobachten wollten, hatten wir selbst verursacht.

 

Das Rätsel von Roswell war gelöst.

 

 

 

 

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Bildmaterialien: www.cdn17.se.smcloud.net
Tag der Veröffentlichung: 06.12.2017

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