Mir war schlecht. Ich war so etwas von wütend, nachdem ich das in der Zeitung gelesen hatte. Sie hatten es tatsächlich getan. Der Rat der Stadt hatte beschlossen, dass unser See vernichtet werden soll. Eigentlich war es gar kein See, sondern nur ein besserer Teich, man konnte ihn locker durchschwimmen, auch längs. Er erstreckte sich circa vierhundert Meter in der Länge und war nur achtzig Meter breit. Zusammen mit seinen vier Nachbarn bildete er jedoch ein recht ansehnliches Areal, umgrenzt von dem Überflutungsgebiet des Flusses.
Es war ein Naturparadies, dort konnte man sich vom hektischen Stadtleben erholen. Kinder tollten hier auf den Wiesen herum oder fingen Frösche, um sie gleich danach wieder freizulassen. Der mittlere der Teiche war der Beliebteste. Sein Wasser war besonders klar, aus unbekannten Gründen mieden Enten und andere Wasservögel ihn. Hier hatte ich ein Großteil meiner Kindheit verbracht, hatte mich das erste Mal mit Sonja getroffen und später, als ich älter war, immer mit meinen Kumpels den Vatertag gefeiert.
Jetzt sollte das alles zu Ende sein. Das ganze Gelände sollte geflutet werden, um einen „richtigen“ See zu schaffen. So einen für Schicki-Micki-Leute mit Uferpromenaden, Tretbootverleih, Ausflugsdampfern und Ständen, wo diese Typen Champagner oder Austern schlürfen konnten. Für Natur war da kein Platz mehr.
Die Pläne für das Projekt lagen bereits seit vier Jahren auf dem Tisch, ich und viele von meinen Freunden hatten bis zuletzt gehofft, dass es nicht dazu kam. Jetzt war alles zu spät. Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als das Telefon klingelte. Die Stimme am anderen Ende kam mir irgendwie bekannt vor. „Hallo“, sagte sie zunächst nur und dann: „Weißt du noch, wer ich bin?“ Ich war mir nicht sicher, aber antwortete spontan: „Sonja?“
„Richtig geraten! Na, dann hast du mich ja doch nicht vergessen, nach so vielen Jahren. Ich hatte deine Nummer noch und habe es einfach mal versucht. Du wohnst immer noch in der gleichen Wohnung?“
„Ja, aber jetzt alleine. Meine Mutter ist vor zwei Jahren in ein Pflegeheim gezogen.“
„Oh, das tut mir leid. Ja, die Zeit vergeht. Ich musste eben gerade an dich denken, als ich Zeitung las.“
„Die Sache mit dem See? Stell dir vor, du kamst mir dabei auch sofort in den Sinn.“
„Das war eine wunderschöne Zeit damals, das kommt nie wieder. Und jetzt wird alles zerstört, nur aus Profitgier.“
„Wohl war. Leider konnten wir beide nichts dagegen tun. Sag mal, Sonja, hast du Lust, dich mit mir zu treffen? Ich lade dich auf einen Kaffee ein.“
Natürlich hatte sie Lust. Schon fünf Stunden später saßen wir in dem kleinen Bistro am Marktplatz. Meine damalige Freundin genoss einen Latte macchiato, ich hatte – nach einem verwunderten Blick der Bedienung – einen ganz normalen Kaffee bekommen. „So bist du, Thomas!“, stellte Sonja fest und ergänzte: „Gradlinig, konservativ, ohne Schnörkel, wie damals.“
„Das hat mir im Leben aber viel genützt.“
„Ich sage ja auch nicht, dass das verkehrt ist. Darum habe ich mich damals in dich verliebt, Tommy.“
Ich errötete. Umso mehr bedauerte ich es jetzt, dass unsere Beziehung auseinandergegangen war. Ich Idiot hatte damals mit Iris angebandelt, dieses zwar hübsche aber hinterhältige Luder aus der Parallelklasse. Sonja bekam das natürlich mit und Aus war es mit uns. Aber manchmal macht man im Leben Fehler, die man später bereut. Sie erzählte mir, dass sie studiert hatte und seitdem als Rechtsanwältin arbeitet. Erst vor fünf Jahren war sie in unsere Stadt zurückgekehrt, ich hingegen hatte meine Heimat nie verlassen.
„Ich habe eine verrückte Idee, Thomas“, sagte Sonja und flüsterte: „Lass uns zum See fahren, aber nicht zum Nacktbaden.“ Ich lachte, denn dafür es wirklich zu kalt, so schön das auch damals war. Wir hatten Mitte November und es hatte die ersten Nachtfröste gegeben. Aber es war sehr reizvoll, sich noch einmal unseren See anzusehen, selbst im Herbst.
Kurzerhand tranken wir aus, ich bezahlte und wir machten uns auf den Weg zu unserem Paradies, das schon bald keines mehr sein würde. Im Auto bemerkte Sonja: „Es war mir klar, dass du einen Mercedes fährst, Thomas. Das passt!“ Immer wieder fand sie die richtigen Worte. Aber sie hatte Recht, ich war sehr altmodisch. Wir benötigten eine knappe halbe Stunde, bis wir beim See am Rande unserer Stadt angekommen waren. Ich stellte meinen Wagen auf dem Parkplatz ab. Wütend erblickten wir dort die ersten Baustellenschilder. Eine Zeichnung stellte dar, wie es hier schon bald aussehen würde. „Ich möchte wissen, wann die das hier aufgestellt haben, wenn der Ratsbeschluss doch erst gestern war“, sagte ich und Sonja ergänzte: „Und ich möchte wissen, wie die die Genehmigung von der Naturschutzbehörde bekommen haben. Da sind bestimmt irgendwelche Gelder geflossen.“
Arm in Arm gingen wir den schmalen Trampelpfad entlang, der zum mittleren der Teiche führte. Jetzt im Herbst war es natürlich nicht so traumhaft wie Frühling oder im Sommer. Aber auch diese Jahreszeit hatte ihre Reize, auch wenn die Bäume schon fast alle ihre Blätter verloren hatten.
Nun standen wir am Ufer und blickten zur anderen Seeseite. „Die haben schon die ersten Bäume gefällt, diese Schweine“, rief Sonja verärgert. Ich schüttelte den Kopf und sagte: „Ich glaube nicht, dass das mit den Baumaßnahmen zusammenhängt. Das wäre völlig sinnlos und würde nur zusätzliche Kosten verursachen. Außerdem musst du dir mal die Flächen der Baumstümpfe ansehen. An einigen Stellen hat sich bereits Moos gebildet. Das sind keine frischen Fällungen.“
„Stimmt, das klingt logisch. Ich stimme dir zu.“
Sie setzte sich auf den linken Stumpf und seufzte: „Zu dumm, dass ich Familienrechtlerin bin und mich mit Naturschutz nicht so gut auskenne. Sonst hätte ich vielleicht doch noch einen Dreh gefunden, das Projekt zu stoppen. Weißt du übrigens, wer da Expertin ist?“
„Na, sag schon!“
„Iris Domeyer, geborene Müller, deine Ex.“
„Ex ist übertrieben, wir waren gerade einmal drei Monate zusammen.“
„Das hat für mich gereicht. Aber ich habe garantiert keinen Bock diese doofe Kuh anzurufen.“
„Ich auch nicht. Aber ich habe eine andere Idee. Kannst du dich noch an Bernd erinnern?“
„Dieser kleine Dicke mit der komischen Nase und der Hornbrille? Na klar doch.“
„Er sitzt jetzt im Landtag, übrigens für die Grünen. Dick ist er aber nicht mehr und erträgt auch keine Brille mehr. Aber diese Kartoffelnase konnte er natürlich nicht ablegen. Ich habe ihn neulich im Fernsehen gesehen.“
„Ja, er war schon ein Öko, als es diesen Begriff noch gar nicht gab. Bernd könnte uns tatsächlich helfen.“
Schon am nächsten Tag rief ich Bernd an, es war nicht schwer, seine Nummer herauszufinden. Er war mehr als überrascht, etwas von mir zu hören und glaubte zunächst, ich würde ihn veralbern. Als ich ihn jedoch von der Sache erzählte, wurde er hellhörig. „Wir können uns als Landesregierung natürlich nicht über die Ratsbeschlüsse eurer Stadt hinwegsetzen, aber uns untersteht die Naturschutzbehörde. Ich werde das mal überprüfen“, sicherte er mir zu.
Eine Woche später. Zufrieden las ich die Schlagzeile meiner Tageszeitung: „Projekt vorerst gestoppt“. Darunter stand: „Flossen Bestechungsgelder?“. Wenig später wurde eine Untersuchungskommission gebildet. Diese fand heraus, dass die Genehmigung für die Überflutung tatsächlich nicht rechtens war und nicht hätte erteilt werden dürfen. Der Leiter der Umweltbehörde und unser Oberbürgermeister kamen in Bredouille.
Zunächst wurde nur innerhalb unseres Bundeslandes über den Skandal berichtet, doch kurz danach wurde man bundesweit auf die Sache aufmerksam.
Der Knaller kam jedoch einige Monate später, im Frühjahr des nächsten Jahres. Eine junge Biologie-Studentin entdeckte in unserem See eine bislang unbekannte Algenart, die höchst giftig war, allerdings nur für Vögel, nicht für Säugetiere oder Menschen. Sie war der Grund dafür, dass wir dort niemals eine Ente sahen. Diese Alge war endemisch, es gab sie also nur hier in diesem winzigen Teich.
Damit war der Schicki-Micki-See endgültig gestorben, unser Paradies war gerettet. Der Oberbürgermeister und der Leiter der Umweltbehörde mussten von ihren Posten zurücktreten.
Die Geschichte mit unserem See hatte meine Ansicht zur Ökologie sehr verändert. Wenn wir alle etwas aufmerksamer werden, können solche Geschehnisse in Zukunft aber hoffentlich verhindert werden.
Bildmaterialien: www.schieb.de
Tag der Veröffentlichung: 19.11.2017
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