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Eisblumen und ein Schneemann

 

Nele ging gerne zu ihrem Großvater. Er war zwar schon alt und roch manchmal etwas seltsam, aber er konnte wunderbare Geschichten erzählen. Nicht von Feen, Hexen, Drachen und Prinzen, sondern von Dingen aus der Zeit, als Opa selbst noch ein Kind war. Was gab es für eigenartige Sachen! Nele erfuhr, dass Telefone früher Schnüre und keine Tasten, sondern so eine komische Scheibe hatten, wo man seine Finger hineinstecken musste. Oder, dass die Fernseher einst winzig klein waren und keine bunten Bilder zeigten.

 

Gerne spielte Nele mit ihrem Opa ein Spiel. Sie sagte dann irgendein Wort, das sie aufgeschnappt hatte und der Großvater musste dann darüber etwas erzählen. Heute hatte Nele gehört, wie Papa zur Mama sagte: „Schade, dass es keine Eisblumen mehr gibt!“. Sie konnte sich nicht vorstellen, was das war – Eisblumen!

 

Aufgeregt lief Nele zum Opa, sie war begierig darauf, zu erfahren, was das war. Kaum hatte sie ihre dicke Jacke ausgezogen, plapperte sie auch schon los: „Opa, Opa, was sind Eisblumen? Was sind Eisblumen? Sag mir das, bitte, bitte!!!!“ Der Großvater lächelte und antwortete: „Nun, setz dich erst einmal hin, meine Kleine. Ich habe dir einen heißen Kakao gemacht. Den trinkst du doch so gerne.“ Er goss seiner Enkelin ein und legte seinen Kopf auf seine Hände. So konnte er Nele direkt in die Augen sehen.

 

„Also, weißt du, Nele, früher als ich so klein war, wie du heute, gab es noch keine Heizungen in den Wohnungen. Wir hatten Kohleöfen. Da war es dann mollig warm, ganz besonders wenn man direkt davor saß. Und draußen war es bitterkalt...“

„Und wo sind jetzt die Eisblumen, Opa? Du wolltest von Eisblumen erzählen“, unterbrach Nele und zappelte mit ihren Beinchen. Das tat sie immer, wenn sie aufgeregt war.

 

„Nur Geduld, Nele. Die Fensterscheiben waren damals noch ganz, ganz dünn, nicht so dick wie jetzt. Dann bildeten sich dort im Winter wunderschöne Muster, die man Eisblumen nannte. Du weißt doch wie eine Schneeflocke aussieht, Nele? So sahen die auch aus, nur viel größer!“

„Wie groß Opa? Wie groß?“

 

Der Großvater überlegte und sagte dann: „Hmm, so groß wie deine Händchen würde ich sagen. Die Eisblumen bedeckten manchmal die ganze Scheibe, so das man kaum noch hinausschauen konnte. Ja, das war wirklich wunderschön. Aber seit vielen, vielen Jahren hat man das nicht mehr gesehen.“

„Warum nicht, Opa? Warum nicht?“

„Ich habe dir doch erklärt, dass unsere Fensterscheiben jetzt dicker sind. Und es hat keiner mehr einen Kohleofen. Tja, und so kalte Winter gibt es auch nicht mehr.“

„Gibt es nirgendwo mehr Eisblumen, Opa? Nirgendwo? Nicht auf der ganzen Welt?“

„Hmm, in Sibirien vielleicht. Aber das ist viel zu weit.“

 

Nele kamen die Tränen. Sie sagte schluchzend: „Ich will aber Eisblumen sehen, Opa! Kannst du nicht irgendwo mit mir und Papa und Mama hinfahren, wo es noch Eisblumen gibt? Das wünsche ich mir zu Weihnachten, ich möchte auch gar nichts anderes haben!“

„Hmm, in sechs Tagen ist Heiligabend, Nele. Vielleicht wird dein Wunsch doch noch erfüllt.“

 

Ihm war eine Idee gekommen. Er erinnerte sich an den Brocken. So weit er wusste, war es dort immer sehr kalt und im Winter lag dort viel Schnee. Und selbst, wenn an den Fenstern der Gaststätte keine Eisblumen wären, wäre es ein tolles Erlebnis für die Kleine. Darum sagte er: „Nun, Nele, wenn du bis Weihnachten ganz, ganz artig bist, wird der Weihnachtsmann vielleicht doch noch Eisblumen für dich finden.“

 

Am Morgen des Heiligen Abend erwachte der Opa sehr früh. Er ging zum Fenster. In der Nacht hatte es ein wenig geschneit, aber jetzt war es ordentlich kalt. Der Himmel strahlte im schönsten Blau, keine Wolke war zu sehen. Er rieb sich die Hände. Das hatte ja sehr gut geklappt. Mit seiner Tochter und dem Schwiegersohn hatte er vereinbart, dass man zu viert in den Harz fahren würde. Von Wernigerode aus, wollte man mit der Brockenbahn bis an die Spitze des Berges fahren.

 

„Sind wir gleich da?“, quäkte Nele schon, als sie von Hannover losgefahren waren. Diese Frage wiederholte sie noch ein paar Dutzend mal. In Wernigerode angekommen, staunte Nele über den vielen Schnee. Noch aufgeregter war sie, als sie die alte Dampflok sah, die schnaubend auf den Gleisen stand. Mächtige Dampfwolken stiegen aus der Lok empor. Es roch gar nicht gut, aber das war Nele egal. So etwas Schönes hatte sie noch nie gesehen.

 

„Wir haben heute eine wunderbare Fernsicht. Sie haben wirklich Glück. Fast das ganze Jahr liegt dichter Nebel über die Spitze des Brockens. Heute jedoch nicht. Man kann sogar bis Braunschweig sehen!“, erklärte ihnen ein Mann am Bahnsteig. Er trug eine dunkle Uniform mit einer Schirmmütze auf dem Kopf. Nele stieg mit ihren Eltern und dem Großvater in eine der altmodischen Wagons. Sie setzten sich, und Nele durfte am Fenster Platz nehmen. Noch immer war der Himmel strahlend blau.

 

„Und gibt es jetzt Eisblumen? Gibt es Eisblumen?“, rief Nele aufgeregt und zappelte mit ihren Beinen. „Lass dich überraschen, Nele. Ich habe vorhin noch mit dem Weihnachtsmann telefoniert“, antwortete der Opa. Langsam setzte sich der Zug ruckelnd in Bewegung. Nach ein paar Metern wurde es plötzlich dunkel. Nele schrie auf. „Du musst keine Angst haben, Nele! Das ist nur ein Tunnel. Gleich wird es wieder hell“, sagte ihr Vater und streichelte seiner Tochter über den Kopf. Und tatsächlich behielt er Recht.

 

Die Fahrt dauerte einige Zeit. Nele staunte, dass der Schnee draußen immer mehr wurde. Die Bäume bogen sich von den Massen, die auf ihnen lag. „Gleich sind wir da, Nele“, erklärte ihre Mutti. „Sehen wir dann die Eisblumen? Sehen wir dann die Eisblumen?“, rief das Mädchen aufgeregt.

 

Kaum hatten sie den Zug an der Bergstation verlassen, stürmte Nele auch schon hinaus und wollte wegrennen. In der Ferne hatte sie eine Holzhütte gesehen. Ihr Vater konnte sie gerade noch festhalten. Der Mann in der Uniform hatte nicht zu viel versprochen. Das Wetter war wunderschön, auch wenn es bitterkalt war. Sie stapften durch den dicken Schnee. Knirschend gab er nach. Sie gingen zu einen kleinen Turm mit einer Kuppel, der Brockenherberge.

 

Und tatsächlich, als sie Inneren des Gasthauses waren, sah Nele an den Fenstern zum ersten Mal in ihrem Leben Eisblumen. Sie bedeckten fast die ganze Fensterscheibe, so wie der Opa das beschrieben hatte, und waren noch viel, viel schöner, als sie sich das vorgestellt hatte.

 

„Danke, danke!“, rief Nele überglücklich und strahlte über das ganze Gesicht. Ihr größter Wunsch war in Erfüllung gegangen. Und da noch viel Zeit war, bis der Zug wieder zurückfuhr, baute sie mit Vati, Mutti und Opa einen schönen, großen Schneemann.

 

 

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Bildmaterialien: www.teddylingua.de
Tag der Veröffentlichung: 21.12.2014

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