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Besuch von drüben

 

 

Als ich es das erste Mal bemerkte, war ich etwas verwirrt. Das Foto meiner verstorbenen Frau war umgefallen, einfach so. Seit langem hatte ich keine Katzen mehr, die daran hätten Schuld sein können. Und auch ein Windstoß konnte es nicht gewesen sein, da das Bild auf einer Kommode im Wohnzimmer stand, weit entfernt von jedem Fenster.

 

Ich stellte es wieder auf und ging ins Badezimmer, um zu duschen. Kurz darauf erlebte ich die zweite Überraschung an diesem Tag. An dem beschlagenen Spiegel hatte jemand ein Herz gemalt und die Buchstaben „K“ und „B“. Kerstin, so hieß meine Frau und Bernd ist mein Name. Da spielte mir jemand einen bösen Streich!

 

Tränen standen mir in den Augen, ich musste an Kerstin denken, es war ja auch erst ein Jahr her, seit sie diesen schrecklichen Unfall hatte, der ihr noch junges Leben so abrupt beendete. Damals war ich geschäftlich verreist, meine Frau wollte mich vom Flughafen abholen. Dann kam ihr dieser verdammte Geisterfahrer entgegen. Den Zusammenstoß überlebte sie nicht, Kerstins Kleinwagen völlig zerstört.

 

Ich fiel in tiefe Depressionen und konnte wochenlang nicht arbeiten. Zum Glück hatte ich einen verständigen und großzügigen Chef, der mir mehr Urlaub gewährte, als mir eigentlich zustand. „Sie packen das schon wieder, Herr Müller!“, sagte Herr Berger und klopfte mir auf die Schulter. Zwei Monate nach dem Unfall konnte ich wieder zur Arbeit gehen, auch wenn mir das sehr schwerfiel.

 

Kerstins Sachen gab ich nicht weg, ich konnte mich nicht dazu überwinden. Meine Freunde rieten mir, wieder mal wegzugehen, um auf andere Gedanken zu kommen. Ich befolgte schließlich ihren Rat. In einer Bar lernte ich Sylvia kennen, eine junge, attraktive Frau mit langen, brünetten Haaren. Wir tauschten unsere Handynummern aus und sie rief mich schon am nächsten Abend an. Es war ein langes, liebevolles Gespräch. „Ich bin aber noch nicht bereit für eine neue Beziehung“, sagte ich ihr am Ende. Sylvia legte enttäuscht auf.

 

Drei Tage hörte ich nichts von ihr. Dann meldete sie sich wieder und sagte, dass sie Verständnis für meine Situation hätte. Wir verabredeten uns noch für den gleichen Abend und trafen uns erneut in der Bar, in der wir uns kennen gelernt hatten. Nach reichlichem Konsum von etlichen Cocktails und einigen Malt-Whiskys fragte ich Sylvia: „Ich habe zu Hause noch einen Glenmorangie Port Wood Finish. Weich und saftig mit Anklängen an Vanillecreme, achtzehn Jahre alt. Hättest du Lust darauf?“

 

Sie hatte Lust, und nicht nur auf den kostbaren Tropfen aus Schottland, sondern auch auf mich. Es war ein prickelndes Liebesspiel, bis mittendrin plötzlich eine weibliche Stimme deutlich vernehmbar: „Neeeeeiiiiiinnn“ rief. Ich erkannte sie sofort, aber das konnte nicht wahr sein. Es war eindeutig Kerstin, die sich da bemerkbar machte. Sylvia erschreckte und lief ins Bad. Als sie zurückkehrte, wollte sie sich wieder ankleiden, doch als sie ihre Bluse anziehen wollte, schrie sie: „Was ist das für ein verdammter Scheiß!“, und hielt vorwurfsvoll das Kleidungsstück in die Höhe. Es war zerrissen. Mit den Worten: „Du perverser Drecksack!“, verließ sie mein Haus.

 

Ich war verwirrt. An Geister oder Okkultismus hatte ich nie geglaubt, aber jetzt hatte ich gehörige Zweifel, ob meine Meinung richtig sei. Alles deutete darauf hin, dass meine verstorbene Frau aus dem Jenseits zurückgekehrt sei, als Besucherin von „drüben“. Offenbar wollte sie nicht, dass ich eine neue Beziehung einging.

 

Am nächsten Tag traf ich mich mit Karl, meinem besten Freund. Ich erzählte ihm die ganze Geschichte. „Bernd, ich glaube dir. Es gibt mehr zwischen Himmel und Erde, als man glaubt. Ich selbst hatte vor vielen Jahren ein ähnliches Erlebnis. Der Geist meiner verstorbenen Mutter suchte mich auf. Immer und immer wieder. Wenn Geister keine Ruhe finden, gibt es meistens dafür einen triftigen Grund. Im Falle meiner Mutter war das so. Sie sagte mir, dass sie von ihrem eigenen Mann, meinem Vater getötet wurde. Er hatte es als Unfall getarnt. Doch dann gab er zu, dass er sie ermordet hatte, als ich ihn darauf ansprach“, berichtete Karl.

 

Ich war baff und entgegnete: „Nun, bei Kerstin ist das aber etwas anderes. Es war eindeutig ein Unfall. Allerdings hat man dieses Schwein, diesen verdammten Geisterfahrer, ja nie erwischt. Er flüchtete unerkannt. Der Verursacher war vermutlich nur leicht verletzt, dieses Arschloch. Er hat mein Leben zerstört.“

 

Karl riet mir zu einer Geisterbeschwörung, um Kerstins unruhige Seele herbeizurufen. Empört lehnte ich ab. Das ging mir wirklich zu weit. Doch zwei Tage später besann ich mich eines Besseren. Mittels eines Mediums wollte ich nun in einer Séance Kontakte zu der Verstorbenen aufnehmen.

 

„Die Séance sollte unbedingt bei Ihnen zu Hause stattfinden. Normalerweise wähle ich den Ort, an dem der Anzurufende verstarb. Aber das ist in Ihrem Fall wohl schlecht möglich“, sagte mir die Frau am Telefon. Ihre Stimme klang überraschend jung. Als ich sie darauf ansprach, lachte sie kurz und berichtete dann, dass sich die Leute fast immer darüber wunderten.

 

Schon am nächsten Tag kam sie vorbei. Auf ihre Anweisung hatte ich das Wohnzimmer vollständig abgedunkelt und eine schwarze Tischdecke besorgt. Frau Hermann, das Medium, hatte eine Kristallkugel sowie ein Buchstabenbrett mit einem Pendel mitgebracht. „Eigentlich ist das mit dem dunklen Raum nicht unbedingt nötig. Die meisten Geister zeigen sich auch im Hellen. Na, ja, ein bisschen Show muss eben sein“, erklärte sie, nachdem wir uns gesetzt hatten.

 

Mit einer parthischen Stimme rief die junge Frau: „Kerstin Müller, ich rufe dich. Erscheine, erscheine!“. Noch vor ein paar Tagen hätte ich laut gelacht, wenn ich so etwas gesehen hätte. Aber die jüngsten Ereignisse hatten bei mir viel bewegt.

 

Die Kugel flackerte in einem roten und blauen Licht. Plötzlich sah man ein unscharfes Bild, das sich allmählich aufklarte. Ich erkannte den zerstörten roten Mini von Kerstin. Kurz darauf wurde die Kugel wieder dunkel. Wenn das ein Trick war, denn war das ein sehr guter, ich hatte nämlich am Telefon keine Einzelheiten erzählt und zum Beispiel die Automarke nicht erwähnt.

 

„Nun, das ist schon ein Anfang. Geister können oftmals Bilder übertragen, auch von den letzten Sekunden ihres Lebens. Befragen wir das Brett, vielleicht erfahren wir da mehr“, sagte Frau Hermann. Ich musste das Pendel, das in der Mitte befestigt war, in die Hand nehmen und schwingen lassen. Es führte einige Kreisbewegungen aus, dann verharrte es nacheinander für wenige Sekunden auf folgenden Buchstaben: „B-E-R-G-E-R“.

 

Ich war erschüttert, was von dem Medium sofort bemerkt wurde. „Kennen Sie jemanden, der so heißt?“, fragte sie mich. „Ja, mein Chef“, antwortete ich. Mir fiel ein, dass er sich letztes Jahr ein neues Auto gekauft hatte, zeitgleich mit Kerstins Unfall. Mir sträubten sich die Nackenhaare. Sollte mein Chef der Unfallverursacher sein? Das könnte passen.

 

Weitere Informationen lieferte Kerstins Geist an diesem Abend nicht, trotz mehrfacher Versuche. Ich zahlte Frau Hermann das vereinbarte Honorar und rief Karl an. Er war angetan von der Geschichte und riet mir, die Polizei einzuschalten.

 

Dort hielt man sich zunächst bedeckt, zumal ich nichts von der Geisterbeschwörung erzählen wollte, weil ich mir sicher war, das man mir das nicht glauben würde. Ich fragte aber nach, ob man an der Unfallstelle Spuren des anderen Wagens gefunden hätte. Das war tatsächlich der Fall, es waren Lacksplitter eines grünen Volvos. Genauso einen Wagen fuhr Herr Berger damals!

 

So kam schließlich ans Tageslicht, was mein Chef verbergen wollte. Nun wusste ich, warum er so großzügig mir gegenüber war. Herr Berger war überführt und er wurde ein Jahr später zu einer Gefängnisstrafe von drei Jahren ohne Bewährung wegen Unfallflucht mit Todesfolge verurteilt. Ich verlor meine Arbeit, aber Kerstins Geist hatte endlich Ruhe gefunden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Bildmaterialien: www.mobil.abendblatt.de
Tag der Veröffentlichung: 11.10.2014

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