„Mutti, ich will nicht in die Schule gehen.“
„Aber du musst, Leon. Die Ferien sind vorbei.“
„Das weiß ich doch. Aber du weißt, warum ich nicht will!“
Sabine Waldmann seufzte. Ihr Sohn hatte dieses Problem jetzt schon fast ein Jahr, seitdem sie umgezogen waren und er die Schule gewechselt hatte. In der neuen Wohngegend, die wesentlich vornehmer war als die vorherige, wohnten überwiegend reiche Leute. Leons Vater hingegen war nur ein einfacher Arbeiter in der Automobilfabrik. Dort verdiente er zwar gutes Geld, aber gegen die Eltern von Leons Schulkameraden konnte er nicht mithalten. Da war Alexander, der Sohn des Brauereibesitzers, Natalia, die Tochter des Regierungspräsidenten oder Maximilian, der Sohn des Elektrogroßhändlers. Sie alle schikanierten Leon, seit er in ihre Klasse gewechselt war.
Waldmanns konnte ihrem Sohn nun einmal nicht so schicke und teure Klamotten kaufen, wie sie die anderen Kinder trugen. Und ständig ein neues Smartphone – das war auch nicht drin. Die Familie war zwar nicht arm, trotzdem war der soziale Unterschied zu den Anderen prekär.
Voller Angst machte sich Leon auf dem Weg zur Schule. Diese war nicht weit weg, nur vier Häuserblocks entfernt. Leon ging aber oft einen Umweg, um den Mitschülern aus dem Weg zu gehen und erst kurz vor Unterrichtsbeginn einzutreffen. Leider ging das an diesem Tag schief, an der Ecke Kramergasse/ Bergstrasse wurde er von Natalia abgefangen. Blitzschnell tippte sie etwas in ihr iPhone, offenbar um die Freunde zu informieren. „Na, da ist ja der alte Wichser. Wo hast du denn mit deinen Eltern Urlaub gemacht? Auf der Müllhalde?“, fragte sie mit einem spöttischen Grinsen. Am liebsten hätte Leon gar nicht geantwortet, aber er sagte wahrheitsgemäß: „Wir waren in Österreich, in Kärnten.“ Ein lautes Lachen von Natalia folgte und sie höhnte: „Na, klasse, das passt ja zu Euch Proleten. Wir waren auf den Malediven. Da müsst Ihr unbedingt auch mal. Ach, ja, ich vergaß, das könnt Ihr Euch ja nicht leisten.“
In diesem Augenblick trafen von zwei verschiedenen Seiten Maximilian und Alexander ein. Anscheinend hatte jeder von den dreien an einem anderen Punkt auf Leon gewartet, um sicher zu sein, dass er erwischt wurde. „Hallo, du Null“, rief Alexander und stürmte auf Leon zu. Er riss ihm den Ranzen vom Rücken und schüttete ihn aus. Das Latein-Buch fiel in eine Pfütze. Leon begann zu weinen, was die drei anderen noch mehr aufstachelte. Maximilian nahm das Pausenbrot aus Leons Box und warf es in den Mülleimer. Danach rannten Natalia, Alexander und Maximilian lachend weg.
Leon sammelte – immer noch weinend – seine Sachen ein und ging langsam zur Schule. Sein Herz raste, er war unendlich wütend. Vor dem Schulgebäude fing ihn Alexander ab und sagte: „Ein Ton von dir zu einem Lehrer und es setzt Klassenkloppe!“ Leon nickte nur. Er zitterte am ganzen Leib. Das, was er befürchtet hatte, war in weit schlimmerer Form eingetreten. Dabei hatte er sich auf das neue Schuljahr gefreut, neue Fächer sollten hinzukommen: Chemie und Physik, das würde ihm bestimmt Spaß machen. Zu Hause hatte Leon mit seinen Baukästen schon zahlreiche Experimente gemacht und mit großem Interesse verfolgte er die entsprechenden Fernsehsendungen. Leon träumte davon, einmal ein großer Forscher zu werden. Er würde tolle Erfindungen und Entdeckungen machen und vielleicht irgendwann den Nobelpreis gewinnen.
Das Läuten der Schulglocke riss Leon aus seinen Gedanken. Er ging zum Schwarzen Brett, an dem die Listen für das neue Schuljahr aushingen. Aha, er musste in Raum 323, das war hinten im Neubautrakt.
Im neuen Klassenraum setzte sich Leon bewusst ganz nach hinten, weit weg von Natalia, Maximilian und Alexander, die alle vorne Platz nahmen. Gespannt warteten alle Schüler auf den neuen Klassenlehrer. Herr Graf, der nette Englischlehrer, war nach dem letzten Schuljahr in Pension gegangen.
Eine junge, blonde Frau betrat das Klassenzimmer, sie stellte sich als Frau Hausmann vor. „Ihr seid meine erste Klasse als Klassenlehrerin. Ich möchte, dass wir gut miteinander auskommen. Wann immer Ihr Probleme habt, könnt Ihr mir das sagen. Meine Fächer sind Deutsch und Geschichte. Und nun Euer Stundenplan…“
Leon freute sich darüber, eine verständnisvolle Lehrerin bekommen zu haben. Aber er musste auch an die Alexanders Drohung von vorhin denken. Dieser hatte sich eben auch noch zu ihm umgedreht und die Faust geballt.
Zwei Wochen später. Der Unterricht bei Frau Hausmann machte allen Kindern viel Spaß. In beiden Fächern brachte sie den Stoff locker aber auch spannend herüber. Das war insbesondere in Geschichte ein großer Unterschied zu ihrer direkten Vorgängerin, Frau Möller, die immer nur die Jahreszahlen abgefragt hatte. Wen interessierte schon, wann genau die punischen Kriege waren?
An diesem Tag hatte sich Leon im Sportunterricht leicht verletzt, als ihn ein anderer Junge beim Fußball gefoult hatte. Daraufhin hatte Leon sofort geflennt, was ihm nicht nur Hohn und Spott seiner Mitschüler einbrachte. Zu allem Überfluss hatte Herr Bartels, der Sportlehrer auch noch bemerkt: „Na, stell dich nicht so an und weine nicht wie ein Mädchen!“. Das war zu viel für Leon. Er rannte vom Platz in Richtung Umkleideraum. Trotz der Aufforderung von Herrn Bartels, zurückzukommen, folgte er nicht. „Du bekommst einen Tadel!“,drohte der Lehrer noch.
Der „blaue“ Brief traf vier Tage später bei Leons Eltern ein. Es war Samstag. Leon hatte tagelang davor gezittert und sich in der Schule nicht konzentrieren können. Das hatte Frau Hausmann wohl bemerkt und ihn nach dem Unterricht darauf angesprochen. Auf die Frage: „Ist alles in Ordnung, Leon?“, hatte er jedoch nur: „Ja, ja“ geantwortet und dann schnell den Klassenraum verlassen. Frau Hausmann wusste natürlich von dem Tadel, dann zum Einen war das im Klassenbuch vermerkt und zum Zweiten musste sie ihn als Klassenlehrerin ja unterschreiben. Sie wollte jedoch, dass Leon ihr die Geschichte mit eigenen Worten erzählt.
Leons Eltern reagierten besonnen auf den Brief. Von seiner Mutter hatte Leon sich das auch erhofft, bei seinem Vater war er sich dagegen nicht so sicher. Es wurde beschlossen, dass seine Mutter am Montag in der Schule anrufen sollte, um einen Gesprächstermin mit Frau Hausmann zu vereinbaren.
So geschah es auch. Drei Tage später fand das Gespräch statt. Sabine war angetan von der jungen Frau. Ihr Sohn hatte nicht zu viel versprochen, die Frau war eine hervorragende Pädagogin. „Ihr Sohn ist hochintelligent, aber sehr sensibel, Frau Waldmann. Ich habe aber auch den Eindruck, dass er Probleme mit den anderen Schülern hat. Kann das sein?“, fragte Frau Hausmann. Sabine antwortete: „Völlig richtig. Seit er in dieser Klasse ist, wird er nur schikaniert. Leon traut sich kaum noch, in die Schule zu gehen, vor lauter Angst.“
„Hmm, ich hätte da vielleicht eine Idee.“
Eine Woche später. Im Deutschunterricht stand die erste Klassenarbeit in diesem Schuljahr an, es war ein Aufsatz. „Das heutige Thema lautet ´Angst`. Ihr habt die freie Wahl der Umsetzung“, erklärte Frau Hausmann und gab die Hefte aus. Leon strahlte, das war sein Thema. Er legte los wie die Feuerwehr und erzählte seine eigene Geschichte, veränderte aber Namen und Orte, damit sich niemand erkannte. Endlich konnte er von seinen aufgestauten Ängsten erzählen, ohne Repressalien befürchten zu müssen.
Das gelang ihm gut, sehr gut sogar und wurde mit einer Eins benotet. Leon durfte seine Geschichte vor der ganzen Klasse vorlesen und erhielt dafür viel Applaus. Nun hatte er seine Ängste überwunden.
Bildmaterialien: www.familie-und-tipps.de
Tag der Veröffentlichung: 17.09.2014
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