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Geliebte Mauern

 

Der alte Mann seufzte. Heute war sein letzter Arbeitstag. Fünfundzwanzig Jahre lang hatte Walter Baumann fast jeden Tag alle halbe Stunde vom Turm der alten Kirche in das Kupferhorn geblasen. Er war der Turmbläser, eine ehrenwerte Arbeit, die jedoch schlecht bezahlt wurde. Von früh morgens um sieben Uhr bis Mitternacht war jedes Mal die schmale Wendeltreppe zu erklimmen. Man musste für diesen Job nicht nur sein Instrument beherrschen, man musste auch schwindelfrei sein und man musste die Einsamkeit ertragen können. Doch das machte Walter nichts aus, er genoss es, allein zu sein.

 

Im Winter war das nicht immer einfach, es war eisig kalt dort oben. Aber Walter liebte die dicken Mauern des Turmes, dort fühlte er sich sicher. Seit Jahrhunderten stand das Bauwerk schon, es war fünfundachtzig Meter hoch, wahrlich nicht viel heutzutage. Doch im Mittelalter und noch Jahrhunderte danach war das ein mächtiges Gebäude.

 

Nun war es soweit, es war Mitternacht. Walter blies das allerletzte Mal in sein Horn. Der Klang war wunderbar, wie immer. Er freute sich, dass er das Instrument behalten durfte, als Erinnerung sozusagen.

 

Traurig stieg Walter die 356 Stufen hinab. Er ging in seine kleine Wohnung, die im Erdgeschoss lag. Diese bot wenig Komfort, aber Walter hatte sie liebevoll eingerichtet. An den Wänden hingen viele Zeichnungen von dem Turm und auch von dem großen Brand von 1648, den sein damaliger Kollege zwar nicht vollends verhindern konnte, aber mit seinen warnenden Signale viele Bürger vor dem Tod und dem Verlust ihres Eigentums bewahrte.

 

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Am nächsten Morgen klingelte wie immer um kurz nach sechs der Wecker. Walter ging ins Bad, wusch sich, zog sich an und frühstückte eine Kleinigkeit. Kurz danach klopfte es. Walter wusste, wer das war: die junge Frau, die seine Nachfolgerin werden würde. So war es auch.

 

Als Walter die Tür öffnete, erblickte er sie: jung, hübsch, kräftig gebaut mit langen, blonden Haaren, die zu einem Zopf zusammen gebunden waren. „Guten Morgen, mein Name ist Barbara Meyer. Sie müssen Herr Baumann sein“, sagte die Frau und lächelte. Sie trug nur eine kleine Reisetasche und ihr Instrument bei sich. Walter machte eine einladende Bewegung, lächelte ebenfalls und erwiderte: „Ja, so ist es. Allzu viel Möglichkeiten gibt es hier ja nicht. Aber kommen Sie doch herein.“ Barbara folgte der Aufforderung und schloss die Tür.

 

Walter rückte einen der beiden Stühle für die junge Frau beiseite und setzte sich selbst auf den anderen. Barbara nahm Platz. „Nun ist es also soweit. Sie übernehmen meinen Job hinter diesen dicken Mauern. Es ist keine Arbeit, wie sie andere tun, es ist schon etwas Besonderes, aber das wissen Sie ja, sonst hätten Sie sich ja nicht dafür beworben. Ich war übrigens sehr überrascht, als ich hörte, dass eine Frau Türmer wird. Das gab es hier noch nie.“

„Es gibt immer ein erstes Mal. Außer mir hatten sich übrigens noch zwei andere Frauen beworben, und sieben Männer. Ich bin glücklich, dass ich es geworden bin. Das ist ein Traumjob für mich.“

„Wirklich? Man ist viel allein hier. Das ist nichts für jeden!“

„Gerade deswegen wollte ich Turmbläser werden. Ich bin gerne alleine. Und ich mag es, wenn ich in Sicherheit bin.“

„Mir geht es genau so. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich noch viele Jahre weiter gemacht. Aber wissen Sie, das Alter macht sich bemerkbar. Mir fiel es immer schwerer, die Treppen zu steigen und ich habe es im Rücken. Die zugige Luft da oben und die Kälte, das geht in die Knochen. Aber Sie sind noch jung und dynamisch. Sagen Sie, junge Frau, woher kommen Sie eigentlich und was hat Sie hierher verschlagen?“

 

Barbara erzählte, dass sie in Plön in Ostholstein geboren wurde und dann mit ihren Eltern nach Lübeck verzog. Sie studierte dann Musikgeschichte und Philosophie, fand aber danach keine Stelle, die ihr Spaß gemacht hätte. Bis sie diese Stellenanzeige las. „Wollen Sie in die Geschichte eingehen?“, stand dort in großen, dicken Buchstaben. Darunter waren eine alte Zeichnung der Kirche und ein ansprechender Text.

 

„Das war ein glücklicher Zufall oder eine Art göttliche Fügung. Ich wusste sofort, das ist das, was ich werden will. Die Bewerbung als Türmer habe ich in weniger als zehn Minuten geschrieben und sofort abgeschickt. Schon eine Woche später kam die Antwort der Stadt mit einer Einladung zu dem Vorstellungsgespräch. Das verlief wunderbar, ich habe alle überzeugt. Tja, und so bin ich jetzt hier“, erzählte die junge Frau und strahlte. Walter merkte, dass sie die Richtige war.

 

Es war jetzt kurz vor sieben, Zeit für das erste Signalblasen an diesem Tag. „Wissen Sie was, junge Frau. Sie haben vorhin gesagt, dass es immer ein erstes Mal gibt. Heute werden zum allerersten Mal zwei Turmbläser gleichzeitig zu hören sein, lassen Sie uns gemeinsam den Weckruf erklingen“, schlug Walter vor und ergänzte: „Danach erkläre ich Ihnen noch alles Weitere hier unten.“

„Das ist eine wunderbare Idee. Die Leute werden überrascht sein“, antwortete Barbara.

 

Sie stiegen gemeinsam die alten, ausgetretenen Stufen empor. Oben angekommen warf Barbara zunächst einen bewundernden Blick auf die kleine Stadt. Die Sonne war gerade aufgegangen, es war aber schon hell genug, um alles zu erkennen: in der Ferne das alte Schloss, die Stadtmauer, das wunderschöne Rathaus mit dem kupfernen Dach und die vielen alten Häuser, die noch aus dem Mittelalter stammten. Nur wenig war im Laufe der Jahrhunderte zerstört und ersetzt worden. Aber kein modernes Gebäude störte die Harmonie. Man hätte glauben können, man hätte eine Zeitreise gemacht, wären nicht die Antennen und die Autos gewesen.

 

Vier kleine Öffnungen gab es in der Mauer, für jede Himmelsrichtung eine. Walter ging zum westlichen Fenster, Barbara zum Östlichen. Sie setzen ihre beiden Hörner an und so ertönte zum allerersten und wahrscheinlich auch einzigen Mal ein Duett vom Turm der alten Kirche. Die wenigen Menschen, die das um diese frühe Uhrzeit schon wahrnahmen, blickten verwundert nach oben. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich dieses Ereignis und wurde zum Stadtgespräch für Wochen.

 

So geschah es, dass Walter Baumann glücklich und zufrieden in Pension gehen konnte, obwohl er seine geliebten Mauern verlassen musste. Er wusste, dass seine Nachfolgerin diese ebenso lieben würde, wie auch diesen ungewöhnlichen, aber wunderschönen Beruf, für den man aber geboren sein musste.

 

 

 

 

 

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Bildmaterialien: www.wikipedia.de
Tag der Veröffentlichung: 09.08.2014

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