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Zeugen der Zeit

 

 

Wir hatten die Aufgabe, die Vergangenheit zu verändern. "Ihr seid die Zeit. Seid ihr gut, sind auch die Zeiten gut" hatte Aurelius Augustinus einst gesagt. Er hatte sicherlich nie geahnt, dass die Menschheit einmal die Möglichkeit hatte, die Zeit zu besiegen, zu beeinflussen und nach eigenem Gutdünken zu verändern, nach dem Pippi-Langstrumpf-Motto: „Ich schaffe mir meine eigene Welt, so wie sie mir gefällt.“

 

Zeitreisen zu unternehmen ist sehr gefährlich, weil jeder Eingriff in die Vergangenheit automatisch Einfluss auf die Gegenwart hat. Aber wir, die sich „Zeugen der Zeit“ nannten, sollten genau dieses tun. Man hatte uns dafür in einer Kapsel untergebracht, die die jeweiligen Parallelwelten speichern sollten. Diese wurde auf einer Basis auf dem Mond platziert. Sechzig Jahre nach der ersten Mondlandung, im Jahre 2029, begann der Bau und wurde ein Jahr später abgeschlossen.

 

Da waren wir nun: Michael Seegers aus Deutschland, Maria Rodriguez-Sanchoz aus Mexiko, Wladimir Potevkow aus Russland und ich, Olaf Hanson aus Schweden. Wir galten als die Besten der Besten im Bereich Physik, Philosophie, Geschichte und Ethik. Jeder war in seinem Wissensgebiet eine Koryphäe.

 

Michael, der Physiker, war der Leiter des Projekts. Ihm oblag es, das allererste Experiment zu starten. Würdevoll sprach er: „Ich habe mir lange überlegt, was wir verändern wollen: das Attentat in Sarajevo von 1914, das den ersten Weltkrieg auslöste, die Machtübernahme der Nazis im Jahre 1933 oder gar der Beginn der Ölkrise im Jahre 1973. Das erschien mir alles zu komplex. Oder es wäre zu schwierig, weil man den eigentlichen Auslöser nicht kennt. Schließlich habe ich mich dafür entschieden, dass wir die Ermordung von John F. Kennedy verhindern. Immerhin war er es, der die Amerikaner dazu brachte, Geld in das Apollo-Programm zu stecken und die erste Mondlandung möglich machte. Ihm verdanken wir es, dass wir hier sind.“ Das klang logisch, ohne die Mondraketen gäbe es auch diese Kapsel nicht. Alle blickten in diesem Moment aus dem Fenster. Dann direkt daneben war er, der erste Fußabdruck, den je ein Mensch auf dem Erdtrabanten hinterlassen hatte. Da es hier keine Verwitterung gab, waren Armstrongs Spuren immer noch sichtbar.

 

„Eine hervorragende Wahl, Michael“, sagte Wladimir, der Geschichtsforscher und fuhr fort: „Auch wenn wir Russen gerne die Ehre gehabt hätten, die Ersten auf dem Mond gewesen zu sein. Aber das haben nun einmal die Amerikaner geschafft. Kennedy war ein ehrenhafter Mann, ihm war es dank seiner besonnenen Haltung zu verdanken, dass die Kuba-Krise 1962 nicht zu einem dritten Weltkrieg führte.“

 

Maria, die Philosophin, ergriff das Wort: „Wohl wahr. Unsere Welt sähe sicherlich anders aus, wenn das damals schief gegangen wäre. Wahrscheinlich gäbe es uns nicht mehr, und der vierte Weltkrieg wäre mit Pfeil und Bogen ausgetragen worden.“

 

Jetzt war es Zeit für mich, etwas zu sagen: „Liebe Kollegen. Ich als Ethik-Experte unterstütze den Vorschlag von Michael ebenfalls. Wenn wir unsere Aufgabe richtig erfüllen wollen, dann nach humanistischen und ethischen Grundsätze. Was gäbe es da wohl Besseres, als das Leben von John F. Kennedy zu verlängern? Natürlich gibt es da noch andere Großen, die viel zu früh verstarben, wie zum Beispiel Martin Luther King. Aber das können wir ja auch noch später angehen.“

 

„Dann sind wir uns ja einig, meine lieben Kollegen. Ich habe auch schon einen Plan. Wir werden verhindern, dass Kennedy getroffen wird, die Schüsse vom 22. November 1963 werden aber trotzdem fallen, Lee Harvey Oswald können wir nicht ausschalten“, erklärte Michael.

 

„Und wie hast du dir das gedacht, sollen wir Kennedy eine Bleiweste verpassen?“, wollte Maria wissen. „Nein, Maria, ich habe da eine andere Idee!“, war Michaels Antwort.

 

Er holte eine Plastiktüte hervor und schüttete sie auf dem Tisch aus. Eine Mischung aus spitzen Glasscherben und langen Nägeln verteilte sich darauf. „Das hier werden hinunterschicken, zielgenau vor dem Wagen des Präsidenten, kurz vor dem Anschlag“, sagte Michael und lächelte.

 

Wenige Minuten später war es soweit. Die Scherben und die Nägel wurden in die Vergangenheit nach Dallas geschickt. Schon kurz danach konnten wir die Aufzeichnung von damals, die sich verändert hatte, über den Monitor verfolgen. Die Schwarz-Weiß-Aufnahmen waren zunächst so, wie man sie kannte. Plötzlich stoppte das Präsidenten-Fahrzeug, der linke Vorderreifen war geplatzt. Da, ein Schuss, mehrere Schüsse. Doch sie trafen weder Kennedy noch seine Frau Jacqueline. Aber ein junger Mann, der in der Nähe stand, brach zusammen. Er war sofort tot.

 

Michael räusperte sich und sprach: „Na, ja, Bauernopfer gibt es immer. Die Hauptsache ist doch, dass Kennedy überlebt hat. Los, lasst uns nachschauen, was wir bewirkt haben.“ Wir konnten nachlesen, dass Kennedy acht Jahre lang US-Präsident war und er zwei erfolgreiche Amtszeiten hatte. Lyndon B. Johnson übernahm das Amt niemals. Der Vietnamkrieg wurde nicht erst 1975 sondern schon 1966 beendet, was vielen Menschen das Leben rettete. Der Krieg endete mit einem Unentschieden, und nicht, so wie wir es kannten mit einem Sieg des kommunistischen Nordens. Das hatte unmittelbare Auswirkungen auf die gesamte Weltgeschichte. Der Kommunismus in Osteuropa und der Sowjetunion brach nicht erst Ende der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts, sondern schon Mitte der Siebziger zusammen. Deutschland feierte nunmehr seine Wiedervereinigung bereits im Jahre 1977. Auch auf die Wirtschaft und den Umweltschutz hatte diese winzige Veränderung sehr positive Auswirkungen.

 

„Na, ich würde sagen, das war ein voller Erfolg. Lasst uns feiern!“, frohlockte Michael. Ich räusperte mich: „Ich will Eure Euphorie ja nicht bremsen. Aber schaut mal nach draußen!“, rief ich entsetzt. „Wieso? Ich sehe nichts!“, entgegnete Michael. „Das ist es gerade. NICHTS! Armstrongs Fußspuren sind verschwunden“, erklärte ich den Anderen.

 

Rasch sahen wir im Internet nach. Der Mann, der damals im Jahre 1963 statt Kennedy erschossen wurde, war Philipp Franklin, derjenige, der Ende der Sechziger Chefprogrammierer bei der NASA war. Durch seinen vorzeitigen Tod war das Apollo-Programm der Amerikaner ein einziges Desaster und wurde 1968 eingestellt. Niemand ist jemals auf den Mond gelandet, es gab danach weder die Spaceshuttles noch irgendwelche internationale Raumstationen.

 

„Scheiße, und wer holt uns jetzt hier ab?“, rief Michael voller Entsetzen. Wladimir entgegnete: „Darüber würde ich mir die geringsten Sorgen machen. Wisst Ihr, wer 2019 die Zeitmaschine erfand und unser Projekt erst möglich gemacht hat? Das war Gerald Franklin, der – so fürchte ich – niemals geboren wurde. Er war der Enkel von Philipp.“ So war es auch. Niemand hatte jemals die Zeitmaschine erfunden, wir konnten unseren Fehler also nicht mehr rückgängig machen. Und wir, die Zeugen der Zeit, waren die einzigen vier Menschen auf der Welt, die wussten, was dereinst geschah.

 

 

"Ihr seid die Zeit. Seid ihr gut, sind auch die Zeiten gut", welch eine bittere Ironie für uns. Wir waren gut, die Zeiten waren es nunmehr auch. Aber wir vier waren für immer dazu verdammt auf diesem verdammten Mond den Rest unseres Lebens zu verbringen, ohne eine Hoffnung auf eine Rettung. Die Bauernopfer waren wir.

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Bildmaterialien: www.wikipedia.de
Tag der Veröffentlichung: 20.07.2014

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