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Immer im Abseits

 

 

Dieter Wolters und Thomas Kaufmann standen immer im Abseits – seit frühester Jugend. Nicht etwa, weil sie schlechte Fußballer waren. Ganz im Gegenteil, Thomas war ein exzellenter Mittelstürmer und Dieter ein sehr begabter Außenverteidiger. Sie standen im Abseits wegen ihrer sexuellen Neigungen, dann beide waren homosexuell, allerdings waren sie kein Paar. „Du bist einfach nicht mein Typ, sorry, Thomas!“, sagte Dieter einmal und sein Freund nickte. Denn Freunde waren sie trotz alledem.

 

Im Eichsfeld, gelegen im südwestlichen Niedersachsen, wählten die Leute konservativ, entsprechend waren ihre Ansichten über „175er“, wie man damals in den 70ern sagte. Toleranz gab es nicht, so mussten Dieter und Thomas ihre Homosexualität verbergen, um nicht ausgegrenzt zu werden. Niemand in Bernshausen ahnte daher etwas davon. Der kleine Ort, der nicht einmal 600 Einwohner hatte, bot nicht viel an Einkaufs- und Freizeitmöglichkeiten, die Leute fuhren daher dazu ins benachbarte Seeburg, in das man Bernshausen 1973 eingemeindet hatte. Trotzdem legten die Bernshausener viel Wert darauf, keine Seeburger zu sein.

 

Im Jahre 1978 waren Dieter und Thomas jeweils sechzehn Jahre alt. Ihre fußballerischen Begabungen hatten sich bei Kickers Bernshausen, wo sie seinerzeit in der B-Jugend spielten, so gut entwickelt, dass erste Späher anderer Mannschaften auf sie aufmerksam wurden. Eines Tages, als beide im Derby gegen Seeburg überragend gespielt hatten und dank ihnen das Spiel haushoch gewonnen wurde, sprach sie ein älterer Mann an, der sich als Betreuer eines großen Göttinger Fußballvereines vorstellte. Er bot ihnen ein Probetraining bei „Blau-Weiß“ an mit der Option eines Wechsels zur nächsten Saison, dann in der A-Jugend.

 

Die ersten Herren von Blau-Weiß Göttingen spielte seinerzeit recht erfolgreich in der Regionalliga Nord, damals die dritthöchste Spielklasse, der Aufstieg in die 2. Liga lag greifbar nahe. Von daher war das Ganze sehr verlockend für Dieter und Thomas. Und mehr als schief gehen konnte das Probetraining ja nicht.

 

So kam es, dass die beiden Jungs ab der Saison 1979/1980 nach Göttingen wechselten und dort so erfolgreich waren, dass sie schon im Jahre 1981 als neunzehnjährige Jungtalente für die Regionalligamannschaft von Blau-Weiß Göttingen aufliefen. Rasch wurden sie zu Lieblingen der Fans, vor allem wegen ihrer aufgeschlossenen, unkomplizierten Art. Thomas wurde in der Saison 1981/1982 Torschützenkönig in der Liga und Göttingen wurde dank seiner Hilfe Meister. Im entscheidenden Aufstiegsspiel gegen Fortuna Lübeck gelangen ihm drei wunderschöne Tore und so wurde tatsächlich der Aufstieg in die 2. Bundesliga Nord geschafft.

 

Was für ein Jubel in Göttingen, und Thomas war der Held der Stunde! Inzwischen hatte er mit Wolfgang, einem Fotografen, seine große Liebe gefunden. Das durfte aber keiner wissen, darum galt Michaela als die Freundin von Thomas. Sie machte das Spiel bereitwillig mit. Auch Dieter hatte mit Bernd inzwischen einen festen Partner, allerdings stand er nicht so im Rampenlicht wie sein alter Spezi Thomas.

 

1984, Thomas war jetzt zweiundzwanzig. Die 1. Bundesliga wurde auf ihn aufmerksam, aus München, Hamburg und Bremen kamen ernsthafte Angebote. Seiner Karriere lagen keine Steine im Weg. Oder doch? Hätte jemand herausgefunden, wen Thomas Kaufmann tatsächlich liebte, hätte er den Vertrag bei dem Münchener Top-Verein gewiss nicht unterschreiben können.

 

Wir schreiben das Jahr 1986. Thomas hatte sein erstes Länderspiel gegen England absolviert. Auch wenn es nur ein Freundschaftsspiel war, überzeugte er dennoch, wurde aber für die WM in Mexiko leider nicht nominiert.

 

1988, das beste Jahr für Thomas bislang. Er war der überragende Torschützenkönig der Bundesliga und stand endlich auch im Kader für die Europameisterschaft in Deutschland. Mit Sechsundzwanzig war er zwar nicht mehr der Jüngste, aber er hatte einen Elan, der seines gleichen suchte. Zu Dieter hatte Thomas nur noch wenig Kontakt, dieser war Göttingen treu geblieben und hatte keine so tolle Karriere wie sein alter Freund gemacht. Eines Tages, kurz vor Beginn des Turniers, klingelte bei Thomas das Telefon. „Kaufmann“

„Hallo, Thomas. Erinnerst du dich noch an mich? Hier ist Dieter.“

„Aber klar doch, Mensch, Dieter. Lange nichts von dir gehört. Ich freue mich wirklich. Wie geht es dir so?“

„Wenn ich ehrlich bin: schlecht. Ich bin HIV-positiv.“

„Scheiße! Seit wann weißt du das?“

„Seit vier Wochen. Ich habe mich immer so müde und schlapp gefühlt und dann bin ich zum Arzt, der hat es dann bemerkt, aber AIDS ist noch nicht ausgebrochen, zum Glück.“

„Ja, ich kenne den Unterschied, viele vermischen das ja. Oh, Mann, das tut mir ja so leid. Kann ich irgendetwas für dich tun?“

„Wenn du bei der EM interviewt wirst, könntest du vielleicht meine Geschichte erzählen.“

 

Trotz der jahrelangen Freundschaft hatte Thomas große Bedenken, der Bitte seines Freundes zu folgen. Er stand am Zenit seiner Karriere und konnte es sich nicht leisten, in Verruf zu geraten. Nächtelang konnte er nicht schlafen. Nach langer Überlegung entschied er sich dafür, zu schweigen. Thomas spielte ein sehr gutes Turnier, konnte aber nicht verhindern, dass es im Halbfinale gegen die Niederlande in Hamburg eine 1:2 Niederlage gab.

 

Zwei Jahre später. Deutschland war inzwischen wieder vereint, die Weltmeisterschaft in Italien brachte unserem Land den erhofften dritten Titel nach 1954 und 1974. Das ganze Land war in Aufruhr, alle waren glücklich. Deutschland hatte im Finale gegen Argentinien mit 1:0 gewonnen. Im Hotel in Rom klingelte, als Thomas gerade das Zimmer betrat, das Telefon, es war Dieter.

 

„Zunächst einmal meinen herzlichen Glückwunsch zu Eurem Erfolg, ich habe mich sehr gefreut, vor allem für dich, Thomas. Ich bin glücklich, dass ich das noch erleben darf. Aber denkst du noch an meine Bitte?“

„Nun, äh, das ist alles ist nicht so einfach, ich...“

„Ich dachte mir, dass du dich nicht traust. Aber lass dir sagen, dass es bei mir schlimmer geworden ist. Ich habe nur noch gut ein Jahr.“

 

24. November 1991. Freddie Mercury, der legendäre Sänger von Queen war gestorben, zeitgleich mit Dieter. Mercury, ebenfalls homosexuell, hatte seine Neigung auch verheimlicht. Tags zuvor hatte er in einer vorbereiteten Erklärung die Öffentlichkeit darüber informiert. Nun wurden alle darauf aufmerksam, dass es AIDS gab. Das war das Signal für Thomas, sich zu outen. Er war das seinem alten Freund Dieter schuldig und er wollte niemals mehr im Abseits stehen, niemals mehr. In einem Interview mit dem ZDF erzählte er alles. Das berühmte Lied von Queen bekam nunmehr eine ganz andere Bedeutung.

 

We are the champions, my friends
And we'll keep on fighting till the end
We are the champions
We are the champions
No time for losers

'Cause we are the champions of the World

Impressum

Bildmaterialien: www.aktuell.evangelisch.de
Tag der Veröffentlichung: 19.07.2014

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