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Sie manipulieren uns

 

 

Nachdem ich es das erste Mal bemerkte, war es ein riesiger Schock für mich: Wir wurden manipuliert, vermutlich schon seit vielen Jahren. Jeder in Quadriga, einer kleinen vorgelagerten Insel vor Costa Rica, war glücklich und verehrte unseren Staatspräsidenten Manolo. Niemanden machte es etwas aus, dass wir von der übrigen Welt isoliert lebten, das Internet in unserem Staat verboten war und wir nur unser eigenes Fernsehprogramm empfangen konnten. Wie konnte man auch etwas vermissen, wenn man nicht wusste, das es etwas anderes, Besseres gab?

 

Es war eigentlich nur ein Zufall, dass ich die Manipulation herausgefunden hatte. Durch einen schweren häuslichen Unfall lag ich mehrere Tage ohnmächtig und schwer verletzt in meiner Wohnung und nahm in dieser Zeit kein Wasser zu mir. Was eigentlich lebensbedrohlich und gefährlich war, war für mich letztendlich ein großes Glück. Als man mich fand und in ein Krankenhaus verbrachte, schwirrten seltsame Erinnerungen in meinem Kopf. Ich hielt es zunächst für eine Folge des Sturzes, aber diese Gedanken waren zu real. Da war mein Nachbar Rodriguez, der ein guter Freund für mich war. Eines Tages war er einfach verschwunden. In seinem Haus lebte fortan jemand anderes, und jeder dachte, dieser Mann wäre schon immer dort gewesen. Niemand wollte oder konnte sich an Rodriguez erinnern. Ich jedoch jetzt schon!

 

Unsere Regierung mischte Wirkstoffe in unser Trinkwasser, die unsere Erinnerungen beeinflussten. Negative Gedanken wurden verdrängt und durch das ersetzt, was der Staat möchte. So kommt es, dass wir ein glückliches Volk waren, aber das war nur ein Trugschluss. In Wirklichkeit lebten wir in einer menschenverachtenden Diktatur, die ihre Bewohner unterdrückte und die Feinde ausmerzte.

 

Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus vermied ich es, Wasser zu trinken oder Getränke, die daraus zubereitet waren. Das galt auch für das, welches man in Flaschen abgefüllt in Supermärkten kaufen konnte. Es blieb nur noch Saft als Alternative, um den Flüssigkeitsbedarf zu decken, aber auch nur selbstproduzierter. Glücklicherweise hatte ich einen kleinen Garten, in dem Orangenbäume und anderes wuchs.

 

Gab es dann außer mir niemanden, der diesen Schwindel bemerkt hatte? Genug ist genug, dieses Regime musste endlich gestürzt werden. Vorsichtige Fragen in meinem Umfeld verliefen jedoch alle negativ und als eines Tags mein Chef nicht mehr zur Arbeit erschien und ein anderer seinen Platz einnahm, bemerkte das keiner außer mir. Um nicht enttarnt zu werden, tat ich so, als ob nichts passiert sei.

 

Dann lernte ich Maria kennen. Sie fiel mir in einem Park auf, als sie auf einer Bank saß und etwas aus einer kleinen Flasche trank. „Darf ich zu Ihnen setzen?“, fragte ich und ergänzte: „Ein schöner Tag heute, nicht wahr?“. Ohne auf ihre Erlaubnis zu warten, nahm ich neben der jungen Dame Platz. Sie war wunderschön, gertenschlank und sie hatte schulterlanges, pechschwarzes Haar. Mutig flüsterte ich ins Ohr: „Ich trinke kein Wasser!“. Sie nickte kurz und antwortete so leise, dass es niemand außer mir keiner hörte: „Yo no bebo agua“. Das bedeutete das Gleiche auf Spanisch, jener Sprache, die in unserem Land, seit Jahrzehnten verboten war, ebenso jegliche Bücher, die darin geschrieben waren. Wir redeten alle in jener Kunstsprache, die sich unser Diktator damals bei seiner Machtergreifung erdacht hatte.

 

Maria war offensichtlich auch eine der wenigen, die die Wahrheit erkannt hatten. Sie führte mich in ein kleines Café in unserer Altstadt. Dort saßen wenige alte Männer herum, die Bier oder härtere Getränke tranken. Maria warf dem Wirt einen kurzen Blick zu, der daraufhin unauffällig auf einen Knopf drückte.

 

Wir beide gingen nach hinten und täuschten vor, auf Toilette zu gehen. In Wirklichkeit betraten wir einen daneben befindlichen kleinen Raum, dessen Geheimtür sich durch den Knopfdruck geöffnet hatte. In dem Zimmer, das nur von Kerzenschein beleuchtet war, hingen Fotos von längst vergessenen Politikern unseres Staates, die vor dem Umsturz an der Regierung waren. Drei Männer saßen dort auf alten, klapprigen Stühlen. Sie stellten sich als José, Pedro und Ramón vor. Man erklärte mir, dass ihre Bewegung „Yo no bebo agua“, kurz YNBA hieß. Ich hatte also mit der Begrüßung Marias unbeabsichtigt voll ins Schwarze getroffen.

 

„Sie manipulieren uns nicht nur durch das Wasser, Manuel“, erklärte mir Pedro, der der Anführer war und fuhr fort: „Sondern auch das Licht. Im Wasser sind Wirkstoffe, die unsere Erinnerungen löschen, was du schon bemerkt hast. Durch den Strom senden sie das, was wir denken sollen. Da fast jeder in unserem Staat an der Wasser- und Elektrizitätsversorgung angeschlossen ist, ist das perfekt.“ Ich erinnerte mich an einen Propagandafilm, der neulich im Staatsfernsehen lief. Stolz berichtete man, dass selbst die kleinste Hütte im Regenwald an das Netz angeschlossen sei und lobte die Fortschrittlichkeit.

 

„Wir können aber etwas dagegen tun. Genug ist genug!“, sagte der kahlköpfige Ramón, der sich als Chemiker auswies. Er sagte, dass er bereits ein Gegenmittel gefunden hätte, das die Manipulation dämmen konnte. Es gab auch schon einen Plan. Sie wollten in das zentrale Wasserwerk eindringen, das die gesamte Insel versorgte. Maria und José sollten sich dabei als Journalisten ausgeben. Darüber hinaus hatte Pedro einen kleinen Sender gebaut, um das Staatsfernsehen zu hacken.

 

Mir wurde die Aufgabe zugeteilt, von all dem zu berichten, falls der Plan scheitern sollte und heimlich „YNBA“ überall hinzumalen, wo mir das möglich war. Ich war stolz darauf, mithelfen zu können, das Terrorregime zu stürzen.

 

Zu Hause angekommen schaltete ich den Fernseher an, Licht machte ich nicht, dann nun kannte ich ja die Gefahr. Staatspräsident Manolo hatte Geburtstag. Auf alle drei Kanälen lief das gleiche Programm: Lobgesänge auf sein Lebenswerk lösten sich mit Propaganda für die Einheitspartei ab. Dazwischen sangen kleine Kinder unsere Nationalhymne. Wie furchtbar! Früher war mir das nie negativ aufgefallen.

 

Das „YNBA“ hatte ich mit himmelblauer Farbe auf mindestens drei dutzend Häuserwänden aufgepinselt. Noch wusste kaum einer, was das bedeutete. Ich hoffte, dass sich das bald ändern sollte. Über ein Walky-Talky sollten uns Maria und José über ihre Tätigkeit informieren. Gespannt erwartete ich die Neuigkeiten. Es knarrte: „Yo no bebo agua“ hörte ich Maria sagen. Das war das Signal, das es gelungen war, das Gegenmittel in das Trinkwasser einzuspeisen.

 

Am nächsten Morgen erwachten alle Bürger Quadrigas ganz normal, bis sie sich wuschen, die Zähne putzten oder Kaffee tranken. Irgendetwas war anders. Sie schalteten gewohnheitsgemäß ihre Fernseher an, um die beliebte Nachrichtensendung „Guten Morgen, Quadriga“ anzusehen. Doch nach wenigen Minuten kippte das Bild, stattdessen sah man Pedro, der zunächst „Yo no bebo agua“ skandierte, um danach von alldem zu berichten, was unseren Bürgern, seit Langem versagt wurde. Die Leute stürmten auf die Straße, drangen in die Regierungsgebäude ein und vertrieben die Diktatoren mit Schimpf und Schande. Die friedliche Revolution hatte Erfolg, wie zuvor in Portugal und Ostdeutschland. Sie ging als „Wasserrevolution“ in die Geschichte ein.

 

Viele Jahre sind seitdem vergangen. Heutzutage leben wir in einem freien Land, in dem wieder Spanisch gesprochen werden darf. Unsere neue Nationalflagge zieren Wassertropfen auf blauem Grund mit der Inschrift „Yo bebo agua“, also „Ich trinke Wasser“. Diese Gefahr ist gebannt. Manolo und seiner Helfershelfer sitzen jetzt im Gefängnis – bei Wasser und Brot.

 

 

 

 

 

 

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Bildmaterialien: www.microsoft.com
Tag der Veröffentlichung: 12.07.2014

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