Cover

Die Schnitzeljagd

 

Ich hatte ein neues Hobby gefunden: Geocaching, die moderne Art der Schnitzeljagd! Diese elektronische Schatzsuche ohne Zettel erfreut sich zunehmender Beliebtheit, es gibt etliche Varianten davon. Nach einiger Zeit des Ausprobierens hatte ich festgestellt, dass mir eine Art am meisten Spaß machte, und zwar „Mystery-Cache“, bei der man Rätsel lösen musste, um mit der Suche beginnen zu können.

 

Ich wählte mit meinem Smartphone die App aus, um das Spiel zu starten. Das Logo erschien und ich bestätigte, dass ich beginnen wollte. Danach sah ich ein Roulette. Die Kugel rollte in den virtuellen Kessel und blieb auf „35“ stehen. Es ploppte und ein Kasten verkündete folgende Botschaft: „Die schöne, weiße Stadt auf der großen Insel in der Ostsee erreicht man über einen Damm!“ Wie viele Ostseeinseln kannte ich? So viele sind es nicht, und die größte davon ist Rügen. Ja, und da gab es den Rügendamm, der die Insel über dem Wasser mit dem Festland verbindet.

 

Weiße Stadt? Ein Arbeitskollege hatte vor drei Jahren Urlaub auf Rügen gemacht, fiel mir ein. Ich rief ihn an: „Hallo Robert, hier ist Steffen. Hast du kurz Zeit? Ich müsste ein Rätsel lösen.“ Robert wirkte verschlafen und leicht verärgert. Es war vielleicht doch keine gute Idee, ihn an einen Samstagmorgen um halb acht anzurufen. Missmutig antwortete er: „Wenn es denn sein muss. Worum geht es denn?“

„Du hat doch mal auf Rügen Urlaub gemacht. Gibt es da eine weiße Stadt?“

„Na, klar, da war doch sogar mein Hotel. Das kann nur Binz sein, es ist da wunderschön.“ Ich bedankte mich und legte auf. Eile war geboten, ich hatte nur begrenzt Zeit, das Geocache zu finden und von Bremen aus brauchte man schon etwas länger, um an das Ziel zu gelangen.

 

Nachdem ich meine Koffer gepackt und in mein Auto gestiegen war, programmierte ich mein Navi auf „Binz“. Sieben Stunden Fahrtzeit errechnete das Gerät, vorausgesetzt es gab keine Staus. Da die Hauptferienzeit noch nicht begonnen hatte, hoffte ich, dass mir das erspart blieb.

 

So war es dann auch glücklicherweise, ich kam zügig voran und erreichte Stralsund gegen halb zwei. Dort nahm ich einen kleinen Imbiss zu mir. Danach nutzte ich die vor ein paar Jahren neu erbaute Rügenbrücke, die parallel zum alten Rügendamm führt, um auf die Insel zu gelangen. Von Altefähr aus waren es noch etliche Kilometer bis nach Binz, das östlich lag. Die Landstraße verlief recht gradlinig und war, typisch für Mecklenburg-Vorpommern alleeenhaft angelegt. Die Bäume bildeten ein Dach, so dass man nichts vom Himmel sah. Ja, das war wirklich wunderschön hier.

 

Eine halbe Stunde später kam ich in Bergen, der Hauptstadt Rügens, an. Nun war mein Ziel nicht mehr weit. Aber war es das wirklich oder musste ich noch weiter suchen? Gespannt erwartete ich auf eine neue Meldung der App. Meine GPS-Daten wurden von dort erfasst und zur Zentrale weitergeleitet.

 

In Binz machte es tatsächlich „Plopp“ und mein Smartphone meldete in einer grellen Schrift: „Gratulation. Die erste Etappe ist erreicht. Begib Dich nun dreißig Jahre zurück und folge der alten Welle!“ Was war das jetzt wieder? Sollte ich etwa eine Zeitmaschine nehmen? Ich hatte keine Lust, in der ehemaligen DDR zu gelangen. Ratlos lief ich durch den Ort. Die Villen und die Hotels waren allesamt weiß angestrichen, das gefiel mir. Doch was bedeutete „alte Welle“? In der Wilhelmstraße entdeckte ich ein kleines Café. Ich ging hinein, um ein Stück Kuchen zu essen und Tee zu trinken. Vielleicht würde mir das ja auf die Sprünge helfen. Das Lokal war im Stile der 80er Jahre eingerichtet, entsprechende Musik lief, gerade hörte man „Thriller“ von Michael Jackson. Moment mal! Dreißig Jahre zurück? Das passte. Doch was war mit der alten Welle gemeint?

 

Ratlos stand ich vor dem Kuchentresen und wählte ein Stück Himbeertorte, als es erneut ploppte. Nur eine Zahl war zu sehen, und zwar „3607“. Eigenartig. Da konnte ich nun gar nichts mit anfangen. Eine blonde Frau, die Ende vierzig sein mochte, half mir ungewollt weiter. Sie begab sich zur Musikbox und tippte eine Zahl ein. „Kleine Taschenlampe“ von Markus ertönte. Aha!

 

Die alte Welle war also die neue Welle von damals, die neue Deutsche Welle, um genau zu sein. Nachdem Markus sein Liedchen zu Ende geträllert hatte, ging ich zur Musikbox, warf fünfzig Cent hinein und tippte „3607“ in das Display. Ich hörte folgenden Song:

 

Ich geh mit dir, wohin du willst
Auch bis ans Ende dieser Welt
Am Meer, am Strand, wo Sonne scheint
Will ich mit dir alleine sein.

Komm, geh mit mir den Leuchtturm rauf.
Wir können die Welt von oben sehen.

 

Nena und ihr Leuchtturm. Die mochte ich nun gar nicht. Gut erinnerte ich mich an einen Auftritt von ihr in der ZDF-Hitparade, wo sie ihren Text vergaß, trotzdem gewann und am Ende von den Leuten im Studio ausgebuht wurde. War es damals dieses Lied? Keine Ahnung! Das war auch egal, ich hatte ein weiteres Rätsel gelöst.

 

Rügen hatte doch bestimmt einen berühmten Leuchtturm, dachte ich und sprach die Blondine an, die mittlerweile genüsslich ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte futterte. „Entschuldigung, kennen Sie sich hier aus? Ich meine nicht hier im Café, sondern auf dieser Insel.“

„Ich komme auch nicht von hier, ich bin Touristin.“

„Nun, denn wissen Sie vielleicht trotzdem, ob es hier auf Rügen einen berühmten Leuchtturm gibt.“

„Natürlich. Auf Inseln dürften Leuchttürme nicht selten sein. Aber die ganz berühmten hier stehen auf Kap Arkona.“

„Ach, es sind mehrere?“

„Drei, so weit ich weiß. Ich wollte mir das unbedingt ansehen, das ist ein Muss, wenn man auf Rügen Urlaub macht.“

„Ich mache hier keine Ferien.“

„Sondern?“

 

In kurzen Worten erklärte ich der Frau mein Hobby und das Rätsel. Sie zeigte Interesse und bot sich an, mitzukommen. Allerdings sagte sie mir, dass man Kap Arkona nicht mit dem Auto erreichen konnte. Man musste bis Putgarten fahren, von dort ging es entweder mit der Pferdekutsche, mit der Kap-Arkona-Bahn, mit dem Fahrrad oder zu Fuß weiter. Die Kap-Arkona-Bahn fuhr nicht auf Schienen, sondern auf Rädern auf der Straße. In Putgarten angekommen entschieden wir uns spontan für die Kutsche. Mit der Blondine, die übrigens Ramona hieß, und mit der ich mich mittlerweile duzte, ging es also in einem gemütlichen Tempo ans Endziel. Ramona entpuppte sich als ausgesprochener Nena-Fan und ich war froh, nicht über die Frau gelästert zu haben, bevor Ramona das erwähnte.

 

Wir kamen dort an. Zwei der Türme standen dicht beieinander, der dritte ein wenig davon entfernt. Der kleinste und älteste war viereckig, und hatte drei Etagen und an der Spitze eine runde Kuppel. Der größere daneben war rund, wie es ich für einen Leuchtturm gehört und war aus hellen Ziegelsteinen gebaut. Seine Kuppel war rot. Der, der ganz hinten stand, war noch größer und bestand aus rötlichen Ziegeln mit einer gläsernen Kuppel.

 

„Und welcher ist jetzt der Richtige?“, wollte Ramona wissen. „Das werden wir hoffentlich gleich erfahren. Laut meinem GPS-Empfänger sind wir hier genau richtig, aber er zeigt nur den ungefähren, und nicht den genauen Standort des Caches an, sonst wäre das ja zu leicht.“ Es ploppte abermals bei meiner App: „Wähle den größten der Leuchttürme.“

 

Wir gingen zum hintersten Turm und kauften zwei Eintrittskarten. Eile war geboten, ich hatte nur noch zehn Minuten Zeit, um den „Schatz“ zu finden. Das war in der Regel nichts Wertvolles oder Geld, sondern nur ein symbolischer Tauschgegenstand. Man musste sich in einem Logbuch eintragen, als Beweis dafür, dass man da war.

 

Nachdem wir die enge Wendeltreppe erklommen hatten, kamen wir oben erschöpft an. „Komisch, dass hier kein Leuchtfeuer ist“, stellte Ramona fest und ich entgegnete: „Das ist vielleicht gerade kaputt und in Reparatur. Irgendwo muss hier ein loser Stein sein und dahinter ist denn das Cache. Schnell, in zwei Minuten läuft die Zeit ab.“

 

Verzweifelt suchten wir alles ab. Da meldete sich das App mit einem Signal, dass eine Niederlage bedeutete. Im Display stand: „Game over. Du bekommst nichts gepeilt.“ Ein junger Mann hatte mir über die Schulter geschaut und lachte. Er kannte sich offensichtlich aus und ich erfuhr zu meinem Entsetzen, dass dieser Turm gar kein Leuchtturm, sondern ein Peilturm wahr. Er leuchtete also nicht, sondern sendete nur Seefunkfeuer.

 

So ein Mist! Ich hätte doch besser recherchieren sollen, aber das konnte ja auch keiner ahnen. Das Spiel hatte ich verloren und den Schatz nicht entdeckt, aber eine Liebe gefunden. Ein Jahr später heirateten Ramona und ich. Davon hätte ich kaum zu träumen gewagt. Nena wurde auf der Hochzeit zwar gespielt, aber „Leuchtturm“ hatte ich aus gutem Grund verboten. Wie heißt es da noch am Schluss:

 

Ich glaub, wir sind schon ziemlich weit.
Ich kann den Leuchtturm nicht mehr sehen.

 

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 22.06.2014

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /