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Als Vater zurückkehrte

 

 

 

Es war eine schwere Zeit für unsere Familie, damals nach dem Ereignis von vor über zwölf Jahren. Wir lebten damals in einem Dorf in der Nähe von Göttingen. Mein Vater betrieb dort eine Bäckerei, die uns zwar keinen Wohlstand brachte, aber ausreichend ernährte. Wir genossen in Adelebsen viel Ansehen, unsere Brötchen waren heiß begehrt.

 

Ich war erst fünfzehn Jahre alt. Es war an einem dunklen und feuchten Tag im November des Jahres 2001. Am Rand einer Scheune wurde die Leiche eines dreizehnjährigen Mädchens gefunden, sie wurde missbraucht und erdrosselt. Es handelte sich um Nadine, die beste Freundin meiner Schwester Melanie. Die Polizei ermittelte zunächst im näheren Umkreis von Nadines Familie und dem Freundeskreis.

 

Nach kurzer Zeit gestand mein Vater das Verbrechen, nachdem ein DNA-Gutachten vorlag, das mit 99,99%iger Sicherheit ihn als Täter überführte. Das war ein großer Schock für uns alle, niemand hätte ihm so etwas zugetraut. Unsere Familie wurde geschnitten, in der Schule begann ein Spießrutenlauf für Melanie und mich. Die Wand unseres Hauses wurde permanent mit Sprüchen wie „Hier wohnt ein Mörder und Kinderschänder“ beschmiert.

 

Daran änderte sich auch nichts, als Vater verurteilt wurde. Auf Grund seines Geständnisses bekam er aber nicht lebenslänglich, sondern nur 15 Jahre.

 

Die Bäckerei mussten wir schließen und zu einem Spottpreis verkaufen. Danach zogen wir nach Hamburg, wo uns niemand kannte. In der Anonymität der Großstadt fühlten wir uns als Landmenschen zwar gar nicht wohl, aber das war immer noch besser, als das, was wir in Adelebsen erleben mussten.

 

Seinen fünfundvierzigsten Geburtstag durfte Vater im Kreis seiner Familie feiern. Zum ersten Mal seit seiner Verhaftung und Verurteilung hat er freien Ausgang. Mutter und ich hatten ihn häufig im Gefängnis besucht, während Melanie sich stets weigerte, mitzukommen. Ich konnte ihr Verhalten gut verstehen, und auch, dass sie an ihrem achtzehnten Geburtstag bei uns auszog. Sie hat Vater nie verziehen.

 

„Bist du aufgeregt?“, wollte Mutter wissen, als wir im Taxi saßen, um Vater abzuholen. Ich nickte nur und sagte nichts. Gestern hatte ich wieder diesen furchtbaren Albtraum gehabt, der sich stets wiederholte. Ich sah die Leiche von Nadine vor mir und ich stand daneben, so als ob ich der Täter war, und nicht mein Vater. Mein Psychologe erklärte mir, dass das eine Art Verdrängungsmechanismus war. Wie auch immer, es war einfach schrecklich.

 

Nachdem wir zu Hause angekommen waren, sprach mein Vater zunächst wenig. Er freute sich zwar über sein Lieblingsessen, das Mutter gekocht hatte und die Geschenke, die er erhielt, aber er wirkte betrübt und niedergeschlagen. „Im Gefängnis geht es mir nicht gut. Alle wissen, was ich getan habe. Man nennt mich und meinesgleichen ´Sittiche`. Es ist weit schlimmer, als ich es erwartet hatte. Ich darf noch nicht einmal in unserer Fußballmannschaft mitspielen. Aber das könnte ich auf Grund meines Alters nun wohl ohnehin nicht mehr“, sagte Vater. Er wirkte in diesem Moment viel älter, als er war. Seine Haare waren ergraut, sein Gesicht war faltig.

 

„Jakob, ich muss mit dir unbedingt sprechen – aber unter vier Augen“, erklärte mir mein Vater nach dem Essen und sagte – meiner Mutter zugewandt: „Renate, lass uns bitte einmal alleine.“ Sie gehorchte und verließ das Wohnzimmer. Vater ging zu unserer DVD-Sammlung und griff die Box von „Star Trek – das nächste Jahrhundert“ heraus. Nach kurzem Suchen nahm er eine bestimmte Disc heraus und legte sie in den Player. Es war eine zweiteilige Folge, die „Gefahr aus dem 19. Jahrhundert“ hieß und die ich schon oft gesehen hatte. Sie gefiel mir sehr gut, nicht zuletzt weil Whoopi Goldberg alias Guinan hier eine wichtige Rolle spielte.

 

Aber es war nicht Whoppi, auf die es Vater ankam, sondern jemand, der sich hier gewissermaßen selbst spielte, nämlich Samuel Langhorne Clemens alias Mark Twain, dem die Ehre zu Teil wurde, Picards Enterprise zu besuchen.

 

„Mark Twain und Jack London – das waren immer meine beiden Lieblingsautoren, wie du vielleicht weißt. Besonders schön ist es, dass sie in dieser Folge beide vorkommen. Twains bestes Buch ist meiner Meinung nicht Tom Sawyer, sondern Following the Equator. Ich kenne es in - und auswendig. Im Kapitel sechsundsechzig fällt der Satz Every one is a moon, and has a dark side which he never shows to anybody, also auf Deutsch Jeder ist ein Mond und hat eine dunkle Seite, die er niemandem zeigt. Nun, frage ich dich, mein Sohn: Wo ist deine dunkle Seite?“

 

Ich war verwirrt. Was wollte mir mein Vater damit sagen? Daher konnte ich nicht antworten. Stattdessen redete Vater weiter: „Jakob, ich muss dir jetzt etwas sagen, was wir beide verdrängt haben – seit damals im November 2001. Ich war es nicht, der Nadine missbrauchte und tötete. Aber es war jemand anderes aus unserer Familie ----- nämlich DU!“

 

Ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken. Blitzartig stürmten die Bilder von damals auf mich ein. Ich sah es wie in einem Film vor mir: Wie ich Nadine in der Scheune küsste, ihr den Pullover auszog und ihre Brust streichelte. Ich wollte mehr, doch sie setzte sich zu Wehr. Dann zog ich ihre Hose aus und drang in sie ein. Danach weinte Nadine und sagte, dass sie mich anzeigen wollte. Das konnte ich nicht zulassen. Ich schlug auf sie ein – mehrfach. Daraufhin würgte ich sie. Als sie aufhörte, sich zu bewegen, stand ich auf. Kalter Schweiß stand mir auf der Stirn. Ich rannte zu unserem Haus. Vater war gerade dabei den Sauerteig für den nächsten Tag vorzubereiten. Das war Glück für mich, denn so konnte ich ihm alles erzählen. Wir gingen zusammen zur Scheune und legten das tote Mädchen davor ab.

 

„DNA- Gutachten sind nicht immer perfekt, mein Sohn, selbst heutzutage nicht. Nahe Verwandte können als Täter nicht auseinander gehalten werden, sofern man nicht intensivere Tests durchführt. Darauf wurde damals verzichtet, weil niemand daran dachte, dass du der Täter sein könntest. So nahm ich die Schuld auf mich, um dich vor dem Gefängnis zu bewahren. Du warst seinerzeit schon strafmündig. Ich habe es niemals bereut, das falsche Geständnis abgelegt zu haben, aus Liebe zu dir, mein Sohn.“

 

Ich stand noch immer unter Schock. All die Albträume in den letzten Jahren – sie waren pure Realität. Es klopfte. Mutter betrat das Zimmer, Tränen standen ihr in den Augen. Sie sagte: „Ich habe alles mit angehört. Robert, ich kann verstehen, was du da auf dich genommen hast. Ihr müsst das aber unbedingt Melanie erklären.“

 

 

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Bildmaterialien: www.berliner-kurier.de
Tag der Veröffentlichung: 04.06.2014

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