In einem Land, das wir Schottland nennen, lebte einst ein Drachen. Er war das schönste Exemplar seiner Art, und darauf war er so stolz, dass er den Kontakt mit seinen Artgenossen mied. Seine Schuppen waren goldfarben und glänzten im Sonnenlicht, die Augen waren purpur, die Krallen silbrig und sein Schwanz war mit Perlmutt bedeckt. Er wurde Issen genannt, was fürwahr ein seltsamer Name war, selbst für einen Drachen.
An einem Sommertag vor vielen hundert Jahren räkelte sich Issen mal wieder am Ufer des tiefen Sees, an dem er so gerne verweilte. In dem Gewässer, das sehr tief und daher auch ziemlich kalt war, lebten viele Fische, die Issen gerne fraß. Andere Drachen verspeisten Ritter und Jungfrauen, das kam Issen nicht in dem Sinn. Als er noch ein ganz kleiner Drachen war, hatte sich Issen in ein hübsches, blondes Mädchen aus dem hohen Norden verliebt und ihm geschworen, nie wieder Menschenfleisch anzurühren. Daran hatte er sich bis heute gehalten, auch wenn das Mädchen längst zu einer alten Frau geworden und gestorben war.
Eine Stimme ertönte und riss Issen aus seinen Gedanken. Ein alter Mann mit einem langen, weißem Bart war erschienen. Er trug ein lila Gewand und einen spitzen Hut. Issen erkannte ihn sofort, es war Merlin, der mächtige Zauberer, den jeder im Lande verehrte. Dieser sprach mit tiefer Stimme: „Issen, du bist ein schöner Drachen, aber du bist auch stolz!“
„Vielen Dank, Merlin. Das freut mich“, antwortete Issen und lächelte, was er immer tat, wenn man ihm ein Kompliment gemacht hatte.
„Ich meinte das nicht nur zu deinem Vorteil, Issen. Stolz und Eitelkeit sind schwere Sünden. Daher hat der Rat der Drachen beschlossen, dass du drei Aufgaben zu erfüllen hast. Wenn du auch nur von diesen drei Prüfungen nicht bestehst, muss ich dich leider verwandeln, in etwas Hässliches, was dir sicherlich nicht gefallen wird.“
Issen schaute ein wenig grimmig und sagte dann: „Merlin, ich werde dieses mit Leichtigkeit vollbringen. Was ist meine Belohnung, wenn ich es schaffe?“
„Dann, Issen, wirst du auf Ewigkeit in deiner Schönheit verweilen. Ein jeder wird dich lieben und ehren und du wirst für immer leben, bis an das Ende der Zeit.“
„Nun, dann, so sei es“, sprach Issen voller Zuversicht.
Es stieg gelblicher Rauch auf, nur einen Augenblick später waren Merlin und Issen am Ufer des Sees verschwunden und fanden sich in einem riesigen Thronsaal wieder. Alles glitzerte und glänzte, die Wände waren über und über mit Gold bedeckt. In jeder Ecke des Raumes befanden sich Truhen, die vollgefüllt mit Diamanten, Perlen und Geschmeide waren. Merlin sprach zu Issen: „Nun, Issen, deine Aufgabe ist es nun, dass du mir das Schönste bringst, was du in diesem Saale erblickst.“ Der Drachen nickte und eilte unverzüglich zu der Wand an seiner Rechten. Dort hing ein riesiger Spiegel mit einem goldenen Rahmen, der mit Rubinen besetzt war. Voller Eitelkeit und Stolz starrte der Drachen auf sein Spiegelbild und wollte schon zugreifen, als ihm in dem Sinn kam, dass dieses wohl nicht zu seinem Besten sei. Stattdessen ging er ein paar Schritte zu der nahegelegenen Truhe und griff dort ein juwelenbesetztes Schwert heraus, das mannshoch war. Issen übergab die Waffe an den Zauberer und sagte: „Nun, Merlin, ich denke, dass dieses hier im Raume das Schönste ist.“
„Issen, du hast die erste der drei Prüfungen bestanden, lass uns nun zur nächsten schreiten.“
Wieder wurden die beiden von Rauch umhüllt, der diesmal jedoch rötlich war. Sie erschienen in einem Saal, dort saßen an einer langen Tafel zwei dutzend Ritter. Zwei Plätze waren frei. Merlin erklärte: „Es ist jetzt deine Aufgabe, mein lieber Issen, unsere Nationalspeise zu küren. Nimm Platz und schau, was dir aufgetischt wird.“ Der Drachen tat, wie ihm geraten wurde, und setzte sich auf den Stuhl ganz am Ende des Tisches, der extra für ihn auf Drachengröße angepasst worden war. Das erste Gericht wurde aufgetischt.
Die Köche brachten etwas auf dem Tisch, das „Black Pudding“ genannt wurde. Gelegentlich aß Issen gerne Süßes, so verschmähte er Honig keineswegs, doch hier wurde er enttäuscht, denn es war keineswegs eine Süßspeise, sondern eine Art Blutwurst, in der außer Blut auch noch Hafergrütze, Mehl, Zwiebeln und Schweinefett verarbeitet wurde. Der Drachen nahm einen Bissen und verzog das Gesicht, das war keineswegs sein Favorit. Den Anderen schien es jedoch zu munden, auch Merlin langte kräftig zu.
Nachdem die Teller abgeräumt wurden, wurde das zweite Gericht kredenzt. Eine braune Masse, die alles andere als appetitlich aussah, wurde aufgetischt. „Das nennt man Haggis. Es sind Schafsinnereien, genauer gesagt Herz, Leber, Lunge und Zunge. Dazu kommen Talg, Zwiebeln und Hafermehl – es ist köstlich, glaube mir“, erklärte der Zauberer und leckte sich die Lippen. Issen kostete und war davon angetan. Das schmeckte ihm tatsächlich.
Die dritte und letzte aller Speisen wurde gebracht. Diesmal war es wirklich etwas Süßes, in Form eines Drachen. Das Gericht ähnelte Issen verblüffend und bestand aus Kuchenteig, feingehackten Mandeln, Rosinen und im Inneren aus Sahne. Das fand Issen sehr, sehr lecker und er war entschlossen, diese Speise zu wählen. Doch wieder besann er sich seiner Aufgabe und erklärte, dass fortan Haggis das Nationalgericht sei.
„Du hast eine weise Entscheidung getroffen, Issen, und deine Eitelkeit erneut überwunden!“, sprach Merlin und machte mit seinem Arm eine kreisförmige Bewegung. Grüner Rauch erschien und ließ den Drachen und den Zauberer auch von diesem Ort verschwinden. Die letzte der drei Prüfungen stand an.
Im Hofe einer Burg war eine Bühne aufgebaut. Drei Barden traten an, um das schönste Lied des Landes zu ermitteln. Der erste war ein junger Mann mit langem, blonden Haar. Voller Inbrunst sang er:
By yon bonnie banks and by yon bonnie braes,
Where the sun shines bright on Loch Lomond.
Where me and my true love were ever wont to gae,
On the bonnie, bonnie banks of Loch Lomond.
Oh ye’ll take the high road and I’ll take the low road,
And I’ll be in Scotland afore ye;
But me and my true love will never meet again
On the bonnie, bonnie banks of Loch Lomond.
Alles applaudierte, doch nur einem war es opportun, den Sieger zu küren, nämlich Issen. Er war angetan von dem Lied, auch wenn hier ein anderer See als der seine besungen wurde. Jedoch wollte er noch abwarten, was die anderen Sänger zu bieten hatten.
Der zweite trat auf die Bühne, es war ein dicklicher Ritter, der in voller Montur auftrat. Er spielte auf einer Harfe und gab zu Gehör:
Alas, my love, you do me wrong,
To cast me off discourteously.
For I have loved you well and long,
Delighting in your company.
Greensleeves was all my joy
Greensleeves was my delight,
Greensleeves was my heart of gold,
And who but my lady greensleeves.
Tränen standen Issen in den Augen. Das zweite Lied war fast noch schöner als das erste, doch der Drachen wollte seine Entscheidung erst treffen, bis auch der letzte der drei Barden sein Werk vorgetragen hatte.
Zu seiner Überraschung trat zu guter Letzt kein Mann, sondern ein junges Mädchen auf. Es ähnelte jener Maid, die Issen vor vielen Jahrhunderten geliebt hatte. Ihr Lied war offensichtlich Issen gewidmet:
Issen, magic dragon lived by the sea
And frolicked in the autumn mist in a land called Honali
Little Mary Paper loved that nice dragon
and brought him strings and sealing wax and other old wagon
Oh, Issen, magic dragon lived by the sea
And frolicked in the autumn mist in a land called Honali
Issen, magic dragon lived by the sea
And frolicked in the autumn mist in a land called Honali
Das Ganze klang vortrefflich, auch wenn der Text etwas holprig war. „Daran muss sie aber noch arbeiten“, flüsterte ein Mann, der neben Issen stand, einer älteren Frau zu. Doch die Wahl des Drachen war gefallen. Er rief aus: „Die junge Maid soll die Siegerin sein!“
Nun stieg lilafarbener Rauch auf. Von einem Augenblick auf dem anderen standen Issen und Merlin wieder an dem Ufer des heimischen Sees des Drachen. Der Zauberer blickte grimmig und sagte: „Issen, du hast deine Eitelkeit nicht überwunden und die Prüfung daher nicht bestanden. Daher muss ich dich jetzt verzaubern.“ Es gab einen großen Knall – aus dem wunderschönen Drachen war eine hässliche grüne Seeschlange geworden.
„Von nun an sei dein Name Nessi und du wirst für immer in diesem dunklen See leben. Nur selten wirst du dich zeigen, aus Scham vor deiner Hässlichkeit!“, erklärte Merlin.
So geschah es. Nessi lebt noch heutzutage im Loch Ness und taucht nur selten auf. „Loch Lomond“ wurde das Lieblingslied fast aller Schotten und Haggis ihr liebstes Gericht. Das mächtige Schwert blieb jedoch verschwunden. Wer es findet, möge sich zum Loch Ness begeben und damit dreimal kräftig auf die Fläche des Wassers schlagen. Dann wird Nessi erscheinen und sich wieder in einen wunderschönen Drachen verwandeln.
Tag der Veröffentlichung: 11.05.2014
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