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Die Reise nach Tunesien

 

 

 

Nach einigen Jahren der Arbeitslosigkeit hatte Sandra endlich wieder einen Job gefunden. In der kleinen Anwaltskanzlei gefiel es ihr sehr gut, der Chef, ein gutaussehender, junger Mann aus Tunesien war sehr charmant und zuvorkommend und umgarnte Sandra von Anfang an. Schon nach wenigen Wochen wurde sie von Harun in ein teures französisches Lokal eingeladen.

 

Es war ein wunderschöner Abend, bei dem reichlich Wein floss. „Allah sieht nicht alles“, sagte Harun und ergänzte: „Vor allem nicht, wenn es dunkel ist.“ Sandra lächelte und fragte: „Du bist also kein strenggläubiger Moslem?“

„Nicht wirklich, aber gewisse Regeln halte ich schon ein. Ich esse zum Beispiel kein Schweinefleisch, wie du siehst und ich faste auch, wenn Ramadan ist.“

„Dürft Ihr denn wirklich einen Monat nichts essen und trinken? Das könnte ich nicht durchhalten!“

„Nur, wenn es hell ist gilt das Fastengebot, und für Kranke, Kinder und Schwangere gelten auch Ausnahmen. Wenn man einen weißen nicht mehr von einen schwarzen Faden unterscheiden kann, dürfen wir essen und trinken. Das schönste am Ramadan ist aber das Fastenbrechen am Ende des Ramadans. Dann wird groß aufgetischt, Freunde und Verwandte treffen sich und feiern. In acht Wochen ist es übrigens so weit. Ich lade dich dazu ein. Dann kannst du meine Familie kennen lernen.“

 

Sandra freute sich sehr und wollte wissen: „Leben alle deine Verwandten hier in Deutschland?“ Harun schüttelte den Kopf und antwortete: „Nur meine Eltern, meine beiden Brüder mit ihren Kindern und ein Onkel. Alle anderen sind noch in meiner Heimat, die meisten leben in Bizerte, das liegt am Meer. Es ist wunderschön dort. Aber das sagt wohl fast jeder von seiner Heimat, es sei denn, er kommt aus Gelsenkirchen.“ Dieser Bemerkung gefiel Sandra, als Dortmunderin hatte sie nicht viel für „Herne-West“ übrig, auch wenn sie an Fußball kaum interessiert war. Aber diese Feindschaft zwischen diesen beiden Städten war uralt und wurde von Generation zu Generation weitergegeben.

 

Sandra wurde freundlich in Haruns Familie aufgenommen, sie waren alle sehr tolerant. Das Essen beim Fastenbrechen war köstlich und die Stimmung großartig. Die Frage von Onkel Zine „Wann heiratet Ihr?“, bereitete ihr Freude, auch wenn sie betonte, dass sie keinesfalls zum Islam konvertieren wollte. Es gab keinen Widerspruch und Haruns Mutter Selin sagte: „Möge Euch Allah viele Kinder schenken. Im Koran steht, dass ein Mann nur so viele Kinder zeugen soll, wie er auch ernähren kann. Das dürfte bei meinem Harun kein Problem sein.“ Alles lachte, denn er war ein sehr erfolgreicher Anwalt. Als Familienrechtler hatte er immer viel zu tun, er kannte sich hier sehr gut aus und wusste in den verschiedenen Scheidungsregelungen der arabischen Staaten Bescheid. Haruns Bruder Kerim, ein gutverdienender Kaufmann ergänzte: „Das dürfte für die meisten hier gelten, nicht wahr, Issam?“ Alles lachte, denn Issam, der weitere Bruder lief rot an. Er war der Einzige, dem es nicht so gut ging. Als Modedesigner scheiterte er gnadenlos und versuchte seit Jahren, wieder Fuß zu fassen.

 

Die Hochzeit war Anfang Dezember und wurde im traditionellen arabischen Stil gefeiert. Die angemietete Sporthalle wurde in einem Palast aus dem Orient verwandelt, alles glitzerte und glänzte. Sandra war überglücklich, bis eine Bemerkung von Issam die Stimmung kippen ließ. Er sagte: „Eine wäre jetzt sicherlich auch gerne dabei gewesen“, worauf ihm Harun einen bösen Blick zuwarf und etwas auf Arabisch sagte, was Sandra nicht verstand, die meisten anderen aber schon. Issam sprang auf und rief laut: „Ich kann soviel über Esra reden, wie ich will. Das kannst du mir nicht verbieten, Harun!“ Sandra war bestürzt, diesen Namen hatte ihr Mann noch nie zuvor erwähnt. Gab es da eine andere Frau in seinem Leben?

 

„Ich möchte jetzt sofort wissen, was da los ist, Harun!“, forderte Sandra energisch. Ihre gute Laune war verflogen, sie war in großer Sorge. „Nun, gut, Sandra, Esra ist meine Schwester, aber wir möchten nicht über sie sprechen, jedenfalls nicht jetzt und nicht hier. Nicht an dem glücklichsten Tag meines Lebens!“

 

Erst am Ende der Feier, als alle gegangen waren, sollte Sandra die Geschichte über Esra erfahren. Sie war vor zwei Jahren in ihrem Heimatland verhaftet worden, und das nur, weil sie ihre Freundin auf offener Straße geküsst hatte. Seitdem saß sie in Bizerte in einem Gefängnis. „Mit dieser verdammten Lesbe wollen wir nichts mehr zu tun haben. Allah hat die Liebe nur zwischen einem Mann und einer Frau geschaffen. Alles andere ist unrein und ekelhaft!“, rief Harun laut. Sandra glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. Wo blieb die Toleranz, die dieser Mann bislang so propagiert hatte? Er fuhr fort: „In Tunesien ist Homosexualität illegal und wird hart bestraft und das zu Recht.“

„Warum hast du ihr nicht geholfen? Du bist Anwalt“.

„Aber für Familienrecht und nicht für Strafrecht. Außerdem will ich das nicht. Keiner von uns will das!“

 

Die Hochzeitsnacht verlief folglich ganz anders, als erhofft. Sandra war bitterböse auf ihren Mann und seine ganze Familie. Offenbar gab es da nur einen, der da anderer Meinung war: Issam. Sie nahm sich vor, am nächsten Tag mit ihrem Schwager ausführlich darüber zu reden. Das tat sie dann auch und erfuhr dabei ein weiteres Geheimnis. Issam war schwul, lebte aber seine Homosexualität nicht aus. Er war sogar verheiratet und hatte drei Kinder. „Ich bewundere Esra für ihren Mut. Sie hat sich immer offen dazu bekannt, Frauen zu lieben. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was das für uns bedeutet. Wenn meine Familie wüsste, wie es mir geht, würde sie mich auch verstoßen, da bin ich mir sicher“, sagte Issam mit traurigem Blick. Er sah Harun unheimlich ähnlich, fand Sandra. Die Statur, die Größe, das Gesicht, sie könnten fast Zwillinge sein. Das galt offenbar nur für das Äußere, nicht für die Ansichten.

 

„Du, Issam, ich habe eine Idee, wir beide fliegen zusammen nach Tunesien und befreien Esra. Du gibst dich als Harun aus und nimmst seinen Pass. Das wird klappen, da bin ich mir sicher!“, rief Sandra aufgeregt. Sie war sonst nicht so spontan, aber diese Sache bewegte sie sehr. „Wir können aber nicht so einfach in den Knast hinein spazieren und sie herausholen. Niemals wird das funktionieren“, erwiderte ihr Schwager und schüttelte mit dem Kopf. „Nur wir zwei sicherlich nicht, da gebe ich dir Recht. Aber ich habe einen ehemaligen Schulkameraden, der bei TELE 12 arbeitet. Markus schuldet mir sowieso noch einen Gefallen.“

 

Markus war von der Sache begeistert, er brauchte mal wieder einen Knaller für seine Sendung „Für Sie aufgedeckt“. Die Quoten waren seit Langem im Keller. Sensationsjournalismus kam allmählich aus der Mode. Es war an der Zeit, dass sich das wieder ändert. Zusammen mit Markus, dessen Kameramann Robert und ihrem Schwager machte sich Sandra drei Tage später auf den Weg nach Tunis. Sie flogen von Frankfurt aus in die Hauptstadt Tunesiens, von dort aus ging es mit der Eisenbahn bis nach Bizerte. Auf Issams Rat hin hatte sich Sandra ein Kopftuch umgebunden, es war immerhin recht schick: blau mit goldenen Sternchen. „Ich bin froh, keine Burka tragen zu müssen“, sagte Sandra leise, als sie in den Zug eingestiegen waren. Weit war der Weg nicht, schon in einer Stunde hätten sie die rund einhundert Kilometer lange Strecke geschafft. Der Zug war nur zur Hälfte gefüllt, er war moderner, als es Sandra erwartet hatte.

 

Kräftiger Regen fiel, es war nur zwölf Grad warm. Sandra fröstelte. Sie bereute es, am Flughafen ihren Pullover nicht aus dem Koffer genommen zu haben. Issam sah das und legte ihr seine Jacke um. „Jetzt haben wir auch Winter, die Temperatur ist völlig normal für Dezember. Aber wir sind ja bald da“, erklärte er. Markus und Robert schauten gelangweilt. Die Kamera war in einer Reisetasche versteckt, jetzt aber ausgeschaltet.

 

Am Bahnhof von Bizerte herrschte emsige Betriebsamkeit. „Lasst Euch nicht anbetteln“, riet Issam. „Ich war schon einmal in Kairo“, sagte Markus und ergänzte: „Das war wesentlich schlimmer als hier, man kam kaum vorwärts.“

„Ja, uns geht es wesentlich besser als den Ägyptern, wirtschaftlich gesehen. Außerdem ist Bizerte keine Touristenstadt, auch wenn unsere Stadt am Meer liegt. Die Leute zieht es eher nach Nabeul, Monastir und Mahdia, sowie zur Insel Djerba“, erklärte Issam. „Du solltest Fremdenführer werden“, sagte Sandra.

 

Sie verließen den Bahnhof. Dieser sah wunderschön aus, eine weiße Fassade im Stile eines orientalischen Palastes, links war ein schlanker Turm. Doch dafür hatten die vier keinen Blick übrig, es galt so schnell wie möglich in das Gefängnis zu gelangen, in dem Esra untergebracht war. Auch dort gab sich Issam als sein Bruder aus, obwohl das eigentlich nicht nötig gewesen wäre. Nur er durfte in den Besucherraum, die anderen mussten davor warten. Esra war von dem Besuch überrascht und zugleich beängstigt, nie hätte sie erwartet, dass Harun kommen würde. Umso beruhigter war sie dann, als sie stattdessen Issam erblickte. Am liebsten wäre sie ihm um den Hals gefallen, doch das war natürlich nicht gestattet.

 

Sie unterhielten sich auf Deutsch, Issam berichtete von Haruns Hochzeit, den Vorfällen danach und dem Trick mit dem Pass. Esra schüttelte ein paar Mal heftig den Kopf und runzelte die Stirn. Sie sah sehr mitgenommen aus und schilderte, wie es ihr in den letzten zwei Jahren ergangen war. Die Polizisten hatten sie bei der Vernehmung mehrfach verprügelt und auch im Gefängnis musste sie schwer leiden. „Am schlimmsten ist es jedoch, dass ich Melanie nicht sehen kann“, sagte Esra mit traurigem Blick. Diese hatte man nach der Verhaftung sehr schnell wieder freilassen müssen. Als deutsche Staatsbürgerin konnte sie nicht länger festgehalten werden. Esra jedoch hatte einen tunesischen Pass und da sie den Richter während der Verhandlung wüst beschimpfte die Höchststrafe von drei Jahre erhalten. „Auch wenn ich nur noch ein Jahr hier absitzen muss, ich halte das nicht länger aus“, rief Esra, diesmal aus voller Absicht auf Arabisch. Der Wärter, der bislang teilnahmslos zugehört hatte, weil er kein einziges Wort verstand, unterbrach das Gespräch daraufhin sofort.

 

Issam kehrte zu den Anderen zurück. Markus wollte sofort alles wissen, was geschehen war und Issam zog das Mikrofon aus seiner Jacke, das er dort sorgsam versteckt hatte. Im Hotel hörten sie sich den Mitschnitt an. Markus war begeistert und sagte: „Das geht heute Abend noch auf Sendung.“

 

In Deutschland erregte der Beitrag große Aufmerksamkeit, auch wenn man von Esra nur etwas hörte und nichts sah. Auch beeindruckten die heimlichen Filmaufnahmen von dem Gefängnis. Schon tags darauf stürzte sich die Boulevardpresse auf die Geschichte. Harun tobte vor Wut, als er davon erfuhr und intervenierte unverzüglich die tunesische Polizei.

 

Beim Verhör erklärte Issam, dass das mit dem Pass ein Versehen sei und dass er nichts Verbotenes getan hätte. Man warf ihm jedoch vor, dass er die Nacht mit einer Frau, mit der er nicht verheiratet war, in einem Zimmer verbracht hätte. Auch das war strafbar nach islamischem Recht. Jedoch sah man vorerst davon ab, ihn zu verhaften.

 

In den nächsten drei Tagen ging TELE 12 täglich zur Prime-Time mit „Für Sie aufgedeckt“ auf Sendung und berichtete ausführlich von dem Fall, ausgeschmückt mit Schilderungen aus anderen Ländern, in denen auf Homosexualität sogar die Todesstrafe stand. Die Einschaltquoten stiegen enorm.

 

Das deutsche Außenministerium konnte hier nichts tun, denn Esra war Tunesierin, aber die mittlerweile erzielte internationale Aufmerksamkeit führte tatsächlich dazu, dass Esra am 14. Dezember überraschend entlassen wurde.

 

Esra veröffentlichte nach der Rückkehr in Deutschland ein Buch, in dem sie ihre Erlebnisse schilderte. Es wurde ein großer Erfolg. Noch viel schöner war für Esra aber das Wiedersehen mit ihrer Freundin Melanie, mit der sie vier Monate später eine Lebenspartnerschaft eintragen ließ. Bei der Feier erschien kein einziger Verwandter von ihr, außer Issam natürlich. Dieser outete sich, trennte sich von seiner Frau und fand mit Bernd einen treuen Partner.

 

Sandra wurde von Harun geschieden, verlor ihren Arbeitsplatz in der Kanzlei und fand bei TELE 12 einen neuen Job.

 

 

Impressum

Bildmaterialien: www.akpool.de
Tag der Veröffentlichung: 07.05.2014

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