Dienstag, der 15.04.2014
Bernd Hansen war zufrieden. Dieses Jahr würde, im Gegensatz zum letzten, ein prachtvolles Spargeljahr werden. Der Winter war mild und mit der Ernte konnte schon viel früher begonnen werden. Schon letzte Woche waren die Rumänen und die Polen auf seinem Spargelhof in der Nähe von Burgdorf bei Hannover eingetroffen. Morgen sollte es losgehen. Der Bauer freute sich schon auf die Umsätze, die er erzielen würde.
Montag, der 21.04.2014
Hansen rieb sich die Hände, obwohl sich heute Morgen drei Arbeiter krank gemeldet hatten, denn wie erwartet, war die Ernte grandios ausgefallen. Dem gemeinen Kunden war der Preis zwar noch zu hoch, aber die Restaurants in Hannover und Umgebung waren schon gute Abnehmer seiner Ware. Auch sein alter Freund Norbert Drechsler aus Burgwedel, der dort ein gutbürgerliches Lokal betrieb, hatte ihm am Wochenende etliche Kilos des weißen Goldes abgenommen. Dort war eine Firmenfeier eines dort ansässigen Groß-Unternehmens. Sein Spargel war exzellent, davon war Hansen überzeugt. Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, denn das Telefon klingelte. „Moin, hier ist Nobby, sach mal, kann dett sein, dass etwas mit deinem Zeuch nich in Ordnung isch? Mich hamn heute schon drei Typen angerufen, die gestern uff der Feier warn. Sie hatte alle nen Flotten.“ Auch wenn Bernd seinen Kumpel schon viele Jahre kannte, amüsierte er sich immer noch über Norberts Slang und seine Ausdrucksweise, die einen Gastronom nicht unbedingt angemessen war. Aber er galt als Original und war allgemein sehr beliebt. „Nein, Nobby, mache dir da keine Sorgen, das muss andere Gründe haben, vielleicht war ja etwas mit der Soße, da muss man auch vorsichtig sein. Darum esse ich Spargel auch nur mit zerlassener Butter!“, antwortete Bernd beschwichtigend.
„Nee, nee, daran lag das nich, bestimmt nich. Ich meld mich denn nochmal. Bis die Tage!“
Bernd legte leicht verwirrt auf, nachdem das Gespräch beendet war. Sollte da ein Zusammenhang mit der Erkrankung seiner Arbeiter bestehen? Sie litten auch unter Brechdurchfall. Übernächste Woche sollten überall im Stadtgebiet von Hannover kleine Verkaufsstände aufgebaut werden. Ärger konnte er jetzt bestimmt nicht gebrauchen.
Freitag, der 25.04.2014
Nachdem nun dreiviertel von Hansens Arbeitern erkrankt waren und zudem zahlreiche seiner Gastro-Kunden sich bei ihm gemeldet hatten und von kranken Gästen berichteten, war der Bauer höchst beunruhigt. Seine Existenz stand auf dem Spiel. Dummerweise hatte auch die Presse von der Sache Wind bekommen. Das bekannte Boulevard-Blatt mit den vier Buchstaben hatte sogar schon einen Namen gefunden, sie nannten es „die Burgdorfer Krankheit“. Heute war ein Bild von Hansen auf Seite Eins mit dem fetten Titel: „Dieser Bauer ist der Verursacher“. Bernd wagte es schon nicht, mehr ans Telefon zu gehen, da er nur noch beschimpft wurde.
Montag, der 28.04.2014
Ein Reporter eines Privatfernsehsenders hatte aufgedeckt, dass es sich bei der „Burgdorfer Krankheit“ um eine EHEC-Epidemie handelte, allerdings eine höchst gefährliche Mutation. Siebzehn Tote gab es bislang zu beklagen, darunter waren zahlreiche Arbeiter von Hansen. Es hatte sich herausgestellt, dass der Spargel mit aufbereiteten Rinderfäkalien gedünkt worden war. Hier rächte sich das Ökologie-Bewusstsein des Landwirts. Es war weit schlimmer, als vor drei Jahren der Skandal mit den verseuchten Sprossen, denn Spargel wird ja meistens nicht roh verzehrt, sondern gekocht. Für morgen war eine Pressekonferenz des niedersächsischen Innenministeriums angesetzt worden.
Dienstag, der 29.04.2014
Minister Reimann war nervös. Gleich sollte er vor die Presse treten, das behagte ihm gar nicht, er hatte seinen Posten erst gut ein Jahr inne, so etwas Schlimmes hatte er noch nie erlebt. Mittlerweile gab es mehrere hundert Erkrankte. Nicht alle hatten von dem Spargel gegessen, viele hatten sich bei Freunden oder Verwandten angesteckt oder sogar gar keinen Kontakt zu den Opfern gehabt. Auch Hamburg, Bremen und Kiel meldeten in ihren Bundesländern zahlreiche Krankheitsfälle, vereinzelt gab es auch Vorfälle in Hessen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt. Reimann räusperte sich und sagte: „Meine Damen und Herren. Hiermit eröffne ich die Pressekonferenz. Ich werde zunächst einen kurzen Abriss der Sachlage liefern. Danach haben Sie die Gelegenheit, Fragen zu stellen. Ich bitte zunächst darum, von Zwischenrufen Abstand zu halten. Bestätigen kann ich, dass es sich bei der ´Burgdorfer Krankheit` tatsächlich um eine EHEC-Epidemie handelt. Dieses Bakterium ist höchst gefährlich, ich will das gar nicht herunterspielen. Bedenken Sie aber bitte, dass Bakterien schon immer existiert haben, es gab sie schon zu Zeiten der Dinosaurier. Es gibt gute und schlechte, sie sind sozusagen unter uns, aber auch in uns, sonst könnten wir nicht existieren. Unsere gesamte Darmflora ist voll davon. Ohne Bakterien gäbe es keinen Käse oder Joghurt. Aber diese hier sind leider äußerst bösartig, wie sich herausgestellt hat. Der verursachende Betrieb ist mittlerweile bekannt, so dass ich mich hier nicht zurückhalten muss. Wir haben unterdessen achtzehn bestätigte Todesfälle sowie knapp siebenhundert gemeldete Erkrankungen. Das ist schon heftig, ich würde lügen, wenn ich sagen würde, wir hätte die Lage im Griff.“ Unruhe im Saal. Reimann räusperte sich und fuhr fort: „Ferner kann ich nicht ausschließen, dass es im betroffenen Gebiet in naher Zukunft zu einer Quarantäne kommen wird oder dass sich die Epidemie zu einer Pandemie ausweitet, also eine Ausbreitung auf das ganze Land, dem Kontinent oder gar der ganzen Welt. Und leider muss ich sagen, dass es bislang kein Gegenmittel gibt. Es wird jedoch händeringend daran gearbeitet. Sie haben nun die Gelegenheit, Fragen zu stellen.“
Dazu kam es nicht, denn ein Mitarbeiter des Ministers stürmte auf ihn zu und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Reimann wurde blass und erklärte: „Meine Damen und Herren, ich muss die Pressekonferenz leider abbrechen. Ich habe gerade eine Nachricht erhalten. Sie werden unverzüglich informiert.“
Mittwoch, der 30.04.2014
Die Nachricht betraf etwas, was Reimann schon tags zuvor erfahren aber nicht für wahr gehalten hatte. In einem Labor in Mannheim hatte man eine sensationelle Entdeckung gemacht, jetzt hatte sich diese wohl bewahrheitet. Mittlerweile gab es auch weitere Krankheitsmeldungen, diesmal im Süden Deutschlands, die definitiv nicht auf den Burgdorfer Spargelhof zurückzuführen waren, sondern auf einen landwirtschaftlichen Betrieb, der Rettich anbaute. Dieser arbeitete ebenfalls ökologisch und hatte den gleichen Düngerlieferanten wie Hansen. Die USA gab an diesem Tag eine Reisewarnung für Deutschland heraus und Brasilien drohte mit einer Disqualifikation des deutschen Teams bei der Fußball-WM.
Samstag, der 03.05.2014
Die Anzahl der Toten war auf dreiunddreißig gestiegen, die der Erkrankten lag nunmehr im höheren vierstelligen Bereich. Erste Fälle traten in Österreich, der Schweiz und in Liechtenstein auf, auch diese Länder übernahmen den Namen für die Krankheit, auch wenn er eigentlich nicht mehr passte. Der in Hanau in Hessen ansässige Düngemittelhersteller musste seine Kundenliste herausgeben und der Betrieb wurde geschlossen.
Mittwoch, der 07.05.2014
Alle großen Fernsehsender Deutschlands übertrugen zur Prime-Time die erweiterte Pressekonferenz des Bundesinnenministeriums, das nunmehr zuständig war. Nach einem kurzen Abriss zum derzeitigen Stand bei den Opfern äußerte Bundesinnenminister Balthasar Mühlhaupt: „Meine Damen und Herren, es steht nun definitiv fest, dass die vom Mannheimer Labor Soritas gewonnene Erkenntnis korrekt ist. Danach ist die EHEC-Epidemie durch genmanipulierte Kolibakterien ausgelöst worden. Ja, und es handelt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um einen Terroranschlag. Wer dahinter steckt, wissen wir noch nicht. Ich kann jedoch bestätigen, dass der Inhaber der Hanauer Düngemittelfirma dringend tatverdächtig ist. Er befindet sich bereits in Untersuchungshaft, schweigt aber zum Tathergang. Wir werden jetzt in einem kurzen Film die geplanten Maßnahmen zum Schutze der Bevölkerung erörtern. Danach können Sie Fragen stellen.“
Freitag, der 09.05.2014
Vor gut dreißig Jahren, im September 1984, hatte in den USA eine radikale Gruppe einen Salmonellen-Anschlag in verschiedenen Restaurants der Stadt The Dalles verübt und dabei über siebenhundert Menschen vergiftet, das war das weltweit der erste Bioterror-Anschlag. In Deutschland hatte es so etwas bislang noch nicht gegeben, oder es war noch nicht als solches bemerkt worden. Panik breitete sich jetzt aus. Keiner wollte mehr Obst und Gemüse kaufen oder essen. Das hundertste Todesopfer war am frühen Morgen von einer Bremer Klinik gemeldet worden, die „Burgdorfer Krankheit“ hatte sich nun europaweit ausgebreitet, in mittlerweile siebenunddreißig Ländern. Die Fußball-WM wurde von der FIFA abgesagt, denn ohne europäische Teams war sie sinnlos.
Noch immer gab es kein Bekennerschreiben.
Mittwoch, der 28.05.2014
Aus der Epidemie war nunmehr eine Pandemie geworden, auf dem ganzen Planeten waren Menschen daran erkrankt, niemand zählte mehr diejenigen, die sich infiziert hatten, die Toten konnten nur noch geschätzt werden. Nur auf wenigen abgelegenen Inseln im Indischen Ozean und in den Polargebieten gab es keine Fälle.
Mittwoch, der 24.12.2014
Professor Haberkorn war zufrieden. Er hatte gerade über das Internet erfahren, dass die Millionengrenze der Todesopfer erreicht war. Bald würde er der einzige Mensch auf der Erde sein, bis auf die wenigen, die hier lebten, in der Forschungsstation in der Antarktis. Haberkorn ging stolz in sein Labor und betrachtete sein Werk, hier konnten ihm die Bakterien nichts anhaben, denn Kälte mochten sie nicht.
Bildmaterialien: www.frsw.de
Tag der Veröffentlichung: 03.05.2014
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