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Willi, der Geheimagent

 

 

Willi war ein Original. Ihn kannte fast jeder in Neustadt und alle lachten über ihn. Das lag aber nicht an seinem Äußeren, denn er war ein äußerst attraktiver Mann: hochgewachsen und schlank mit blondem, lockigen Haar. Aber sein Verhalten war ziemlich merkwürdig und auch die Art, wie er sich kleidete. Willi trug stets einen cremefarbenen Umhang, eine karierte Mütze und rote Wildlederschuhe, außerdem führte er immer ein altmodisches Walky-Talky mit sich, in das er unentwegt mit vorgehaltener Hand hinein sprach. „Ich bin ein Geheimagent“, sagte er jedem, egal, ob dieser das wissen wollte, oder nicht. Wenn er ein bedauernswertes Opfer gefunden hatte, das ihn nicht kannte und den Fehler machte, ihn länger zuzuhören, erzählte er diesem seine ganze Lebensgeschichte. Willi berichtete von seiner jahrelangen Ausbildung in den U. S. A., zunächst bei der CIA, später dann bei der NSA. Angeblich hätte man danach eine falsche Identität besorgt und nach Deutschland geschickt, um Politiker und Industrielle zu überwachen. Wenn jemand ihn denn darauf ansprach, dass seine englischen Sprachkenntnisse doch reichlich dürftig waren, war Willi zunächst leicht verwirrt, um danach irgendetwas von einer angeblichen Gehirnwäsche zu berichten.

 

Eines Tages saß er, wie so oft, auf der Parkbank vor dem Rathaus und hatte seine Röntgenbrille auf, die wohl keine solche war, sondern offenbar einem „Yps“ - Heft entstammte. Willi starrte auf das Rathaus, als ob er einen Auftrag ausführte. Jeder, der vorbeikam, amüsierte sich über diese kuriose Situation, Willi merkte davon jedoch nichts.

 

Patrick, ein junger Bursche, der sich immer besonders heftig über Willi lustig machte, kam vorbei. „Na, Willi, mal wieder in geheimer Mission?“, fragte Patrick und grinste. „Hallo, Patrick“, antwortete Willi freundlich und ergänzte: „Ja, ich habe heute Nacht eine wichtige Nachricht erhalten, stell dir vor: unser Bürgermeister Meyer ist ein Spion für die Russen. Hättest du das gedacht? Er war doch immer so freundlich. Schau, was ich hier habe.“ Willi hob etwas hoch, was wie ein ganz normaler Kugelschreiber aussah. Das war es wohl auch, doch Willi sagte: „Das ist ein hochmodernes Abhörgerät. Damit kann ich alles aufzeichnen, was der Meyer in seinem Büro sagt. Die Beweise funke ich danach hiermit unverzüglich nach Crypto City, und zwar hiermit!“ Der Möchtegern-Geheimagent holte eine Dose Schuhcreme hervor. Patrick musste sich sehr zusammenreißen, um nicht lauthals loszulachen, so komisch war das. Stattdessen sagte er: „Na, Willi, denn noch viel Erfolg, du wirst das schon noch schaffen, den Meyer zur Strecke zu bringen. Willi, du bist unser Held!“ Dieser bedankte sich artig und wandte sich wieder seiner geheimen Observation zu.

 

Zwei Tage später. Willi hatte einen neuen Auftrag erhalten, wie er behauptete, über ein spezielles Faxgerät, das in seinem linken Schuh versteckt war. Er sollte den hiesigen Pfarrer Lohmann überführen, der in Wirklichkeit zur gleichen geheimen Bande gehörte, wie der Bürgermeister, das erzählte er jedenfalls Patrick. Dieser spielte Willi großes Interesse an dem brisanten Fall vor und fragte ihn lakonisch: „Sag, du hast doch bestimmt auch gefährliche Waffen dabei, so wie diese Kugelschreiber, mit denen man schießen kann, oder?“

„Ja, klar, aber die Nummer mit den Kulis ist schon längst überholt, dafür habe ich das hier“, antwortete Willi. Er zeigte ihm einen Deo-Roller. „Hier ist Sprengstoff drin“, erklärte er und fuhr fort: „Damit könnte ich den halben Ort in die Luft sprengen. Es ist etwas ganz Neues, exklusiv für die NSA entwickelt. Nur die allerbesten Geheimagenten, so wie ich, haben das.“

„Das muss eine große Ehre für dich sein, Willi.“

 

In diesem Moment verließ Lohmann seine Wohnung und Willi setzte sein Fernglas auf. Wie er behauptete, konnte dieses Gerät Röntgenstrahlen aussenden und den Gegner auf Waffen überprüfen. „Hmm, wie es aussieht, ist er sauber“, sagte der Geheimagent mit einem Stirnrunzeln. „Vielleicht hat er etwas Neues, was Ihr noch nicht kennt“, mutmaßte Patrick und tippte Willi auf die Schultern. „Gute Idee, wir werden hinter ihm hergehen, aber wir müssen uns tarnen“, erwiderte dieser. Er zog zwei gewöhnliche Plastiktüten aus seiner Manteltasche und befahl Patrick: „Die musst du dir über den Kopf ziehen, wir werden damit unsichtbar! Danach können wir Lohmann gefahrlos folgen.“ Nachdem die beiden einige Zeit hinterhergegangen waren, verkündete Willi, dass es Zeit für eine Pause sei.

 

Allmählich machte Patrick die Sache wirklich Spaß. „Ich würde gerne dein Assistent werden“, sagte er. Willi runzelte erneut die Stirn und holte eine Zigarettenschachtel hervor. „Das ist ein spezielles Smartphone!“, erklärte er und tippte auf das Lama, das seltsamer den Kopf hob. Willi hielt die Schachtel auf Patrick und tat so, als ob er ein Foto machen würde. „Jetzt müssen wir etwa drei Stunden warten, bis dein Ausweis fertig ist. Danach bist du offizieller NSA-Agent, Patrick. Verdienen wirst du zunächst nichts, aber du bekommst eine große Belohnung, wenn wir den Auftrag erfolgreich abschließen.“ Patrick freute sich und das war nicht vorgetäuscht.

 

Drei Stunden später kam aus der Schachtel tatsächlich ein Agentenausweis heraus, er sah echt aus und erstaunlicherweise war wirklich Patricks Foto darauf. Dieser war sichtlich überrascht. Allmählich kamen ihm Zweifel, ob der Geheimagent nicht doch echt war. Noch viel überraschter war Patrick, als urplötzlich eine Mini-Drohne auftauchte und auf Willi zu schwebte. Sie war über und über mit blinkenden Lichter versehen. „Ist das nicht etwas auffällig?“, wollte Patrick wissen. Willi antwortete: „Nein, durchaus nicht, vergiss nicht, dass wir unsere Plastiktüten aufhaben, damit werden wir nicht nur unsichtbar, sondern können auch Dinge sehen, die andere nicht wahrnehmen können. Zum Beispiel diese Teleport-Zelle da drüben an der Straßenecke. Aber wenden wir uns erst einmal der Drohne zu. Sie kommt von Meyer, ich konnte ihn wegen der Lohmann-Observation ja nicht verfolgen.“ Die Drohne öffnete sich und ein kleiner Bildschirm erschien. In dem Film sah man Meyer, wie er an einer Tankstelle einen braunen Umschlag an zwei schwarzgekleidete Herren in einem roten Audi übergab. „Das ist ein Beweis für unsere Vermutung“, frohlockte Willi und fuhr fort: „Jetzt müssen wir nur noch den Lohmann dingfest machen.“

 

Der Pfarrer, der immer noch von den beiden Agenten verfolgt wurde, war derweil an einer Bankfiliale angekommen und ging zum Geldautomaten. Willi und Patrick – immer noch getarnt – standen direkt hinter ihm. „Jetzt können wir glücklich sein, das wir unsichtbar sind. Mit den Tüten auf dem Kopf könnte man uns für Bankräuber halten“, sagte Patrick laut zu Willi, der fürchterlich erschrak, denn sie waren zwar tatsächlich unsichtbar aber nicht unhörbar. Lohmann drehte sich um, sah aber nichts und wunderte sich. Als er gegangen war und sein Geld abgehoben hatte, schob Willi ein weißes Kärtchen in den Schlitz des Automaten. Ein kurzes Surren ertönte und die Karte kam wieder hervor. Willi erklärte mit gesenkter Stimme: „Ich habe mir eine Kopie gemacht, um…“

„… sein Konto zu plündern!“, unterbrach ihm Patrick. „Natürlich nicht, sondern um das Konto zu überwachen“, berichtigte ihn Willi. Die beiden gingen zum Kontoauszugsdrucker. Als dieser fertig war und der Geheimagent die Auszüge durchgeschaut hatte, pfiff er zufrieden und bildete mit dem Daumen und dem Zeigefinger der rechten Hand einen Kreis. „Ja, das war es“, sagte er.

 

So geschah es, dass Geheimagent Willi zwei russische Spione enttarnte und viel Geld und auch Ehre dafür erhielt. Da nun jedoch seine raffinierte Tarnung, die als Offensichtlichkeit daher kam, aufgeflogen war, musste er mittels der Teleport-Zelle an einen anderen Ort versetzt werden. Seien Sie daher vorsichtig, wenn in Ihrer Heimat ein komischer Typ auftaucht, der behauptet Agent zu sein. Er könnte echt sein! Seien Sie besonders vorsichtig, wenn Sie Ihrerseits für die Russen spionieren.

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Bildmaterialien: www.aw.de
Tag der Veröffentlichung: 10.04.2014

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