Der alte Herr schreckte auf. Es hatte geläutet. Wer konnte das so spät abends noch sein? Doktor Thomsen war nun schon 80 Jahre alt, aber noch recht rüstig, auch wenn manches nicht mehr so wollte wie früher. Griesgrämig schleppte er sich zur Tür, er mochte es gar nicht, wenn man ihn spät abends störte.
Allerdings öffnete er nicht, sondern betätigte die Freisprechanlage. „Ja, wer ist da?“, krächzte er. „Guten Abend, Doktor. Entschuldigen Sie die späte Störung. Es ist ein Notfall“, antwortete jemand. „Junger Mann, ich praktiziere schon seit Jahren nicht mehr. Suchen Sie sich einen anderen Arzt!“, rief der Doktor höflich aber bestimmt. Die Stimme entgegnete: „Es muss aber sein, es ist sehr dringend. Ich muss Sie persönlich sprechen, Doktor Thomsen.“
Widerwillig drückte der alte Mann auf dem Knopf. Die Gartenpforte öffnete sich und der ehemalige Arzt schloss seine Haustür auf. Vor ihm stand ein kleinwüchsiger Mann mit Stummelärmchen. „Sie wissen nicht wer ich bin?“, sprach dieser. „Natürlich nicht. Und was soll das überhaupt? Warum stören Sie mich?“
„Ich spüre Ihre Verachtung, Doktor Thomsen. So wie ich sie von vielen gespürt habe. Aber ich habe Ihnen zu verdanken, dass ich das bin, was ich jetzt bin. Ich weiß, was Sie getan haben.“
„Das verstehe ich nicht.“
„Nun, dann werde ich Ihnen eine Geschichte erzählen. Es war im Frühjahr 1961. Meine Mutter war mit mir schwanger und hatte erhebliche Schlafstörungen und kam zu Ihnen. Sie empfahlen ihr ein Mittel, das aus der Schweiz kam. `Das hat sich ganz hervorragend bewährt, Frau Neumann, es ist sehr gut verträglich´, sagten Sie zu ihr. Meine Mutter folgte ihrem Rat und folglich war ich, als ich sieben Monate später zur Welt kam, normal entwickelt, bis auf diese verdammten Stummelärmchen, die diesem verfluchten Medikament zu verdanken waren.“ Der alte Mann schüttelte den Kopf und entgegnete: „Nun, das ist alles sehr bedauerlich. Aber wir konnten es nicht besser wissen. Damals...“ Weiter kam er nicht. Ein Messer flog aus der Küche direkt auf ihm zu und durchbohrte seine Kehle. Zufrieden grinste der Täter. Er hatte sein Werk vollbracht.
Er war kaum ein Jahr alt, als er das erste Mal seine besonderen Fähigkeiten entdeckte. Tobias wollte ihn haben: seinen Nuckel. Aber seine Mutter hatte ihn ihm weggenommen, er lag weit entfernt von seinem Bettchen auf dem Küchentisch. Er sehnte sich nach dem Nuckel und konnte ihn nicht haben. Das war gemein. In ihm stieg der Wunsch, ihn wieder zu bekommen. Plötzlich schwebte er wie von Geisterhand getrieben zu seinem Mund. Er war glücklich. Seine telekinetische Begabung blieb allerdings geheim. Niemand, aber auch niemand, wusste davon, nicht einmal seine Eltern. Dazu verfügte er über eine überragende Intelligenz, doch dass wog bei Weitem nicht die Probleme auf, die er durch die Behinderung hatte.
Voller Wut hatte Tobias Neumann in den 60ern den Prozess gegen die Herstellerfirma des Medikamentes verfolgt. Dieser begann am 27. Mai 1968 und endete am 18. Dezember 1970 wegen geringfügiger Schuld der Angeklagten und mangelndem öffentlichen Interesse. Was für ein Hohn! Auch wenn Tobias seinerzeit noch ein Kind war, wusste er genau, dass das falsch war, selbst wenn 100 Millionen Deutsche Mark in die Stiftung als Entschädigung flossen. Das war lächerlich.
Jahrzehntelang hatte sich sein Hass aufgestaut, nun wollte er sich an allen rächen, denen er seinen Zustand zu verdanken hatte. Dazu hatte sich Tobias sich im Laufe der Jahre eine Liste mit den schuldigen Leuten gemacht.
Das Anwesen am Genfer See war beeindruckend, doch Tobias würdigte dem keinen Blick. Es galt, das nächste Opfer zu erledigen, Bernhard Nachtwey, der Sohn des Fabrikanten Helmut Nachtwey, der schon 1973 verstarb. Bernhard hatte bereits drei Jahre zuvor – nach Ende des Prozesses – die Firmenleitung übernommen. „Was wollen Sie von mir? Geld? Das ist doch alles längst erledigt!“, rief Herr Nachtwey empört, als er Tobias sah. „Ich bin es leid, mich immer wieder rechtfertigen zu müssen, außerdem war es mein Vater, der das Produkt damals auf dem Markt brachte. Wir haben sehr wohl Tierversuche durchgeführt, keine der Mäuse und Ratten zeigte Nebenwirkungen oder Missbildungen. Wir ahnten ja nichts“, ergänzte er. Schweiß stand ihm auf der Stirn. „Doch, Sie sind schuldig. Ich weiß, was Sie getan haben. Sie haben es noch am 24. November 1961, als Ihr Vater Urlaub hatte, abgelehnt, das verdammte Zeug vom Markt zu nehmen. Erst ein paar Tage später, als es in der Zeitung stand, reagierten Sie, viel zu spät, für mich und meine Leidensgenossen. Sie verdammtes Schwein, dafür sterben Sie!“, echauffierte sich Tobias und konzentrierte sich auf den Kronleuchter. Dieser begann zu wackeln, löste sich und erschlug Bernhard Nachtwey.
In Neuwied wohnte in einem schäbigen Mietshaus der nächste Todeskandidat. Robert Müller, einstmals Mitarbeiter des nordrhein-westfälischen Innenministeriums, hatte im Jahre 1957 als zuständiger Abteilungsleiter seine Genehmigung für die Freigabe des Medikamentes gegeben. Kurz danach war es in den westdeutschen Apotheken als Schlaf- und Beruhigungsmittel frei erhältlich. Robert fand den Tod durch Erwürgen, das Kabel der Stehlampe schlang sich um seinen Hals.
Viel Freude bereitete Tobias die Hinrichtung von Balthasar Sprengler, einem der beiden Erfinder des Präparates. „Nicht genug, dass Sie im dritten Reich KZ-Häftlinge als Versuchskaninchen missbrauchten, Sie mussten ja noch unbedingt noch viel mehr Menschen schädigen. Hat es Ihnen Spaß gemacht? Ich weiß, was Sie getan haben. Gleich werden Sie sehen, was mir Freude bereitet“, rief Tobias. Balthasar stürzte rücklings aus dem Fenster seiner Wohnung zu Tode.
Weiter ging die Reise nach Köln, wo der damalige Richter des Prozesses sein Leben beendete, indem Tobias eine Gasexplosion hervorrief.
In Frankfurt am Main wohnte einer dieser insgesamt zwanzig Anwälte, die die Firma damals verteidigt hatten. Arglos öffnete Walter Ansgar und erschrak. Er ahnte jedoch sofort den Zusammenhang, als er Tobias sah. Der Prozess hatte dem Anwalt des Öfteren schlaflose Nächte bereitet und immer wieder kreuzten Opfer bei ihm auf, um ihm zu beschimpfen. Das war er gewohnt. Dennoch ärgerte er sich maßlos, dass man ihn nicht in Ruhe ließ. Entsprechend äußerte er sich: „Warum könnt Ihr mich nicht endlich in Frieden lassen? Ich habe doch nur meine Pflicht getan, ich musste es tun. Außerdem wurdet Ihr angemessen entschädigt. Ich...“ Auch Walter Ansgar konnte seinen Satz nicht beenden. Wieder setzte Tobias seine übersinnlichen Fähigkeiten ein. Die Axt, die er erspäht hatte spaltete den Schädel des Advokaten binnen Sekunden.
„Ich habe doch nur meine Pflicht getan“, äffte Tobias den Anwalt nach und war zufrieden. Seine Arbeit war getan.
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Die Geschichte ist frei erfunden, basiert jedoch auf wahren Ereignissen. Orte und Personen wurden geändert, Tobias Neumann hat es aber nie gegeben.
Bildmaterialien: www.geo.de
Tag der Veröffentlichung: 30.03.2014
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