Mit allem hatte Andreas gerechnet, als er mit Lisa die Weihnachtsgeschenke austauschte, aber nicht, dass sie ihm einen Katzenkalender schenkte. Katzen! Die hatten ihm noch nie etwas bedeutet. Doch er ließ sich nichts anmerken, lächelte gequält und brachte sogar noch ein „Das ist wirklich toll, Lisa!“, hervor. Sie strahlte ihn mit ihren grünen Augen an, warf ihr feuerrotes Haar nach hinten und sagte: „Das ist ganz besonderer Kalender, Andreas. Du wirst das schon bald feststellen, sehr bald sogar.“
Er hatte Lisa vier Monate zuvor in einer Diskothek kennen gelernt und war sogleich von ihr fasziniert. Ihre atemberaubende Schönheit hatte ihn umgehauen und er hatte sich unverzüglich in sie verliebt, was zum Glück auf Gegenseitigkeit beruhte.
Um Lisa nicht zu verärgern, hängte er den Kalender in seinem Arbeitszimmer auf, direkt über seinem Computer, so dass sein Blick täglich darauf fiel. Der Kalender enthielt jeden Tag Gedichte, Fotos und Kunstdrucke – immer zum Thema Katzen. Das war alles ganz nett, aber haute Andreas nicht wirklich um.
Es war der 29. Februar 2012. An diesem Tag fand er in dem Kalender ein Gedicht von Algernon Charles Swinburne. Es gefiel ihm:
Mein edler Freund, ich bitte sehr:
Komm doch her,
Sitz neben mir und schau mich dann
Mit deinen lieben Augen an,
Mit Augen voller Glanz und Gold;
Dein Blick, er ist so treu und hold.
Kaum hatte Andreas das gelesen, als es an der Tür klingelte. Er öffnete und war mehr als überrascht. Lisa stand vor ihm und strahlte. Sie sagte: „Heute ist der Tag gekommen, mein Kater!“ Kater, so nannte sie ihn immer. Lisa ging schnurstracks in das Arbeitszimmer, deutete auf den Kalender und machte eine kreisförmige Handbewegung. Die Wand verschwand, stattdessen erschien ein silbriges Sternenmeer. Das Funkeln war derart intensiv, dass Andreas sich die Hand vor die Augen halten musste. „Das ist ein Portal in eine andere Welt“, erklärte Lisa. Sie ergänzte: „Es ist ein Katerlisator, das Tor für den Kater und für die Lisa. Du musst keine Angst haben, Andreas. Komm, wir durchschreiten es!“
Das Erste, was Andreas danach erblickte, war der Eiffelturm. Diese Überraschung war nichts gegen die, die gleich danach folgte, als er Lisa ansah. Sie hatte sich in eine Katze verwandelt mit rotem Fell und grünen Augen. Und noch überraschter war Andreas, als er feststellte, dass er auch eine kätzische Gestalt hatte, er war jetzt ein prächtiger, pechschwarzer Siamkater. „Wie hast du das gemacht, Lisa? Und was zum Teufel machen wir in Paris?“, fragte er verwirrt. „Das ist doch unwichtig, wie das geschehen ist. Und Paris ist doch die Stadt der Liebe, mein Kater! Komm, ich zeige dir einen wunderschönen Ort.“
Lisa lief zur nahegelegenen Metro-Station, Andreas folgte ihr. Noch nie in seinem Leben war er so schnell gelaufen. Ein Katzenkörper ist perfekt, stellte er fest. Die beiden sausten durch die Tunnel und kamen an der Rolltreppe an. „Wir nehmen den Handlauf“, entschied Lisa. Unten an der Abfahrtsebene rasten sie an den Menschen vorbei und näherten sich dem Tunnel. „Keine Angst, Kater“, rief Lisa und entschwand in der Röhre. Andreas zögerte zunächst, lief ihr aber denn doch hinterher. Wenige Meter danach sah er eine winzige Öffnung in der Wand, Lisa stoppte davor. „Los, da müssen wir durch“, erklärte sie und zwängte sich durch das Loch.
Was Andreas dahinter sah, war völlig unerwartet. Hunderte von Katzen räkelten sich in flauschigen Decken oder kletterten auf Kratzbäumen. „Ein Katzenparadies“, entfuhr es ihm spontan und Lisa erwiderte: „Wir nennen es die Katerkomben. Ein Ort, an dem Katzen sich wohl fühlen. Kein Mensch hat diese Räumlichkeiten je zuvor betreten. Du bist eine Ausnahme, aber auch nur, weil ich dich verwandelt habe. Das ist eine große Ehre für dich, mein Kater.“ Ein Kartäuser-Kater näherte sich und hob zur Begrüßung die Pfote. Er sprach: „Lisa, ich freue mich, dich zu sehen und auch dich, Mensch, heiße ich willkommen. Wir Katzen leben hier bislang glücklich und in Frieden. Niemand bedrohte uns und es gab genug Nahrung für alle. Mein Name ist übrigens Bartholomäus.“
Lisa ergriff wieder das Wort: „Du fragst dich bestimmt, warum ich dich hier her gebracht habe und unser Geheimnis verraten habe, nicht wahr, Kater? Nun, leider ist unsere Welt bedroht, und wieder einmal ist der Mensch schuld. Die Katerkomben erstrecken sich über Hunderte von Kilometern im Pariser Stadtgebiet. Im Laufe der Jahrhunderte ist das ständig erweitert worden, aber wir mussten auch immer wieder Teile davon aufgeben, wenn eine neue Metro-Linie gebaut wurde oder Abwasserkanäle entstanden. Durch diese Kanäle sind in letzter Zeit Hunderte von Ratten in unser Reich eingedrungen. Einige junge Kätzchen haben diese gefressen und sind elendig gestorben. Ratten mögen zwar köstlich sein, übertragen aber Krankheiten. Jede erfahrene Katze weiß das. Die Rattenplage hat nun aber leider derart zugenommen, dass wir nicht mehr dagegen ankommen. Der Grund dafür ist, dass die Menschen ständig ihre Nahrungsreste durch die Toilette entsorgen. Du aber, Kater, hast die Macht uns zu helfen!“
„Und was soll ich tun, Lisa? Ich bin kein Rattenfänger und flöten kann ich auch nicht“, antwortete der leicht verwirrte Andreas. „Aber singen kannst du“, entgegnete Lisa. „Na und? Das können doch auch Kater!“ „Aber nicht hier. Erinnere dich, was ich dir am Anfang gesagt habe. Dieses ist eine andere Welt. Oder kennst du Katzen, die Tunnel graben und Höhlen einrichten? Das wiederum geht nur hier bei uns. Nur können wir leider nicht singen. Du musst es uns beibringen!“
So begann Andreas zu singen, es war eine Katerstrophe. Aufmerksam hörten alle Katzen zu und fielen in den Gesang ein. In Windeseile verbreitete sich dieser im ganzen Höhlensystem. Für die Ratten war das eine Qual. Sie flohen aus den Katerkomben zurück in ihre Abwasserkanäle und wurden nie wieder gesehen. Der Gesang der Katzen erfreut aber noch heute alle Metro-Fahrgäste.
Bildmaterialien: www.frankreich-trip.com
Tag der Veröffentlichung: 09.03.2014
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