Sandra hatte sich wahnsinnig auf Weihnachten gefreut und dazu alles liebevoll hergerichtet, sowie den Baum geschmückt. Was würde er ihr wohl schenken? Sie war gespannt. Heimlich hoffte sie, dass es der Brillantring sein würde, den sie in dem Versandhauskatalog gesehen hatte. Das war ein Traum jeder Frau!
Sandra und Leonard feierten traditionell erst am 25. Dezember Weihnachten, da er das als Engländer so kannte. „Dafür essen wir deutsch“, sagte er stets. Glück für Sandra, denn Lamm in Pfefferminz-Soße verabscheute sie. Es gab aber nicht Gans oder Ente, sondern Leber Berliner Art mit Kartoffelbrei, das mochte Leonard am liebsten, gefolgt von Sauerbraten und Gulasch.
Nun war es so weit. Am Morgen des ersten Weihnachtstages erwachte Sandra gut gelaunt und voll freudiger Erwartung. Leonard schlief noch und schnarchte, wie so oft. Im Laufe der vielen Jahre ihrer Ehe hatte sie sich daran gewöhnt und oft darüber gescherzt. Ihr Spruch „Du bist daran Schuld, dass in London so wenig Bäume sind“ kam bei ihm gut an. Engländer haben eben Humor.
Sandra schlich sich auf Zehenspitzen in das Wohnzimmer. Am Kamin hingen zwei Socken. Der Blaue war der für Leonard, der Rote war ihrer. Voller Neugier tastete sie ihr Geschenk ab. Sie fühlte etwas Hartes, etwas Längliches. Das war sicherlich kein Brillantring! Oder sollte er merkwürdig verpackt sein? Unwillkürlich musste Sandra an den Mr. Bean – Sketch denken, bei dem sich seine Freundin auch einen Ring wünschte und stattdessen einen Haken für ein Bild in dem Kästchen vorfand. So taktlos konnte Leonard doch nicht sein! Oder doch?
„Na, ist da jemand neugierig?“, kam eine Stimme von hinten. Sie gehörte Leonard, der zwischenzeitlich erwacht war. „Äh, nein, nein“, stotterte Sandra und lief rot an. „Erst frühstücken wir, dann ist Bescherung!“, sagte er mit gespielter Empörung. Das Breakfast war – wie immer bei den beiden – typisch englisch: gebackene Bohnen, Bacon and Eggs, Würstchen, Toast mit Orangenmarmelade und Porridge. Bis auf diesen abscheulichen Haferschleim mochte Sandra das alles sehr gern. Ihrer Meinung nach eignete sich das Zeug eher als Tapetenkleister und kam diesem optisch auch sehr nahe.
„Nun dann, schreiten wir zur Tat“, sprach Leonard und hakte seine Frau unter. Gemeinsam gingen sie in die Wohnstube. Das Feuer im Kamin flackerte und gab dem Raum eine feierliche Atmosphäre. „Du zuerst“, sagte Sandra und lächelte gequält. Ihr Mann folgte ihrer Aufforderung und fand ein I-Phone in einer Manchester City - Hülle vor. Er war seit jeher ein Fan dieser Mannschaft. „Wow, das ist ja großartig, liebe Sandra, da freue ich mich wirklich“, rief er begeistert. „Ja, und das Fan-App ist vorinstalliert mit allen wichtigen Infos über dein Team“, erklärte sie. Ihr war hundeelend. Nun hatte sie so viel Geld für sein Geschenk ausgegeben und sich solch eine Mühe gemacht, ihn zu beglücken.
„Na, willst du nicht nachsehen, was in deinem Socken ist? Es wird dir gefallen“, sagte er. Mit klopfenden Herzen kam Sandra seiner Bitte nach. Es konnte nur eine Enttäuschung sein. Sie griff hinein – und holte einen lilafarbenen Kerzenständer hervor. Einen Kerzenständer! Was konnte es für ein „schöneres“ Geschenk für eine Frau geben. Damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet, diese „Überraschung“ war ihm gelungen. Voller Sarkasmus fiel sie ihm um den Hals und küsste ihn leidenschaftlich. Innerlich kochte sie jedoch vor Wut. Aber sie ließ sich nichts anmerken. Am liebsten hätte sie ihm dieses scheußliche Ding auf dem Kopf gehauen.
Drei Stunden später. Sandra bereitete das Essen zu. Das Püree würzte sie mit Muskatnuss, als ihr eine Idee kam. Neulich in dieser Kochsendung hatte jemand gesagt, dass eine ganze Muskatnuss reichen würde, um einen erwachsenen Menschen zu töten. Das war ein teuflischer Plan, allerdings hatte er einen Haken. In solchen Mengen erzeugt Muskat Brechreiz. Um den unangenehmen Geschmack zu übertünchen, mischte sie eine ganze Chilischote der höchsten Schärfeskala in den Brei.
„Schatz, ich befürchte, mir ist der Kartoffelbrei misslungen! Probiere mal bitte“, rief sie. Leonard saß nebenan im Arbeitszimmer an seinem PC. Er unterbrach sein Solitär-Spiel und trottete folgsam in die Küche. Nach dem Kosten sagte er: „Nein, Liebling. Das ist genau richtig, wirklich köstlich. Das erinnert mich an ein Gericht aus Indien. Aber dir wird das nicht schmecken.“ Das war eine gute Begründung für Sandra, nichts von dem Püree zu essen, denn im Gegensatz zu ihrem Mann aß sie nicht gerne scharf.
Leonard langte tüchtig zu und verputzte fast den ganzen Brei alleine, der eigentlich für zwei gedacht war. Außerdem aß er noch die Hälfte der Leberscheibe von Sandras Teller, die sie ihm bereitwillig überließ. „Das war wirklich ein köstliches Essen, meine Schöne. Ich habe übrigens noch eine Überraschung für dich, aber du musst dich noch gedulden. Haben wir eigentlich noch etwas von dem Korn, den uns dein Vater geschenkt hat? Mir ist irgendwie übel, ich glaube, ich habe mich überfressen.“ Ihm stand der Schweiß auf der Stirn. Sandra holte die leicht angestaubte Flasche mit dem Schnaps hervor. „Der ist aber nicht kalt“, gab sie zu Bedenken. „Egal“, rief er aus und goss sich ein ganzes Wasserglas ein. Er kippte es in einem Zug hinunter. „Jetzt geht es mir besser“, lallte er. Normalerweise trank er nur selten Alkohol, daher wirkte dieser sehr schnell bei ihm. Leonard ergänzte: „So, jetzt rauche ich eine“. Die Übelkeit war Euphorie gewichen, er fühlte sich großartig.
„Schau mal, da ist eine weiße Taube“, rief Leonard aus, als er rauchend auf dem Balkon stand. Außer ihm sah keiner diese. Er beugte sich über die Brüstung und stürzte kopfüber hinunter, unglücklicherweise direkt auf die lanzenartigen Stäbe des Gartenzauns. Leonard war unverzüglich tot. Vor Schreck stieß Sandra gegen den Couchtisch, so hatte sie das nicht geplant. Der darauf befindliche Kerzenständer fiel zu Boden und zerbrach in tausend Stücke. Ein Ring purzelte Sandra vor die Füße, es war genau der, den sie sich gewünscht hatte. Das war also Leonards Überraschung, er hatte den Ring in den Kerzenständer einfügen lassen. Ja, jetzt wusste es Sandra endgültig: Engländer haben Humor. Doch manchmal bekommt es ihnen schlecht.
Bildmaterialien: www.uni-leipzig.de
Tag der Veröffentlichung: 09.02.2014
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