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Die Rückkehr in die Heimat

 

Dreißig Jahre lebe ich nun schon auf St. Lucia, eine kleine Insel in der nördlichen Karibik. Ich hatte mich als junger Mann dorthin zurückgezogen, weil ich das hektische Großstadtleben hasste. Stattdessen suchte ich Ruhe und Entspannung. Ich wollte in den Tag hinein leben, Obst und Gemüse anbauen, und das, was ich davon nicht selber aß, verkaufen, um Dinge zu erwerben, die ich eben so brauchte: Nähgarn, Kleidung, Kerzen oder gelegentlich Fisch.

 

In meiner kleinen Hütte mitten im Regenwald lebte ich glücklich und fern jeder Gefahr. Nur die alljährlichen Hurrikans machten mir und meiner Behausung zu schaffen. Aber das wurde alles schnell wieder repariert. Einmal in der Woche kamen die Touristen von den Kreuzfahrtschiffen in ihren Jeeps vorbei. Ich galt als „Sehenswürdigkeit“, der schrullige Kerl aus Deutschland, der sich zurückgezogen hat. Die Guides brachten mir dann auch meine Post, im Laufe der vielen Jahre wurde das immer weniger. Meine Mutter schrieb mir aber noch regelmäßig, bis vor vier Monaten ein Brief des Amtsgerichtes eintraf. Ich erfuhr, dass Mutti einen Schlaganfall hatte und sie einen Betreuer zugewiesen bekam.

 

Herr Wallmann, der Betreuer, sorgte dafür, dass meine Mutter in ein Pflegeheim kam, und löste ihre Wohnung auf. Mein Vater war gestorben, als ich noch ein Kind war, weitere Verwandtschaft gab es nicht. Wenn ich meine Mutter noch einmal sehen wollte, bevor sie starb, musste ich nach Deutschland zurückkehren, natürlich nicht für immer. Allerdings war das leichter gesagt, als getan, denn mein Pass war seit vielen Jahren abgelaufen. Im Regenwald scherte das niemanden, aber für den Flug benötigte ich schon gültige Ausweispapiere. Und da war noch ein Problem: Mit Ananas oder Bananen würde ich sicherlich nicht zahlen können.

 

„Du guckst so traurig, Elias. Was ist denn?“, stellte Barbara, die Fremdenführerin, bei ihrer allwöchentlichen Stippvisite fest. „Ach, Babsi, es ist alles so schrecklich“, antwortete ich. Ich erzählte ihr die ganze Geschichte. Danach standen ihr die Tränen in den Augen. „Ich werde dir helfen, ganz bestimmt“, sagte Barbara und drückte mich. Das hatte sie in den vielen Jahren, in denen wir uns kannten, noch nie getan.

 

„Schau, was ich hier habe!“, rief sie vier Wochen später aus. Sie drückte mir einen Pass und ein Flugticket in die Hand. Schon in vier Tagen wäre ich wieder in Hannover, meiner Heimatstadt. Aber war das noch meine Heimat? Eigentlich war sie doch hier, im echten Dschungel, wo die Papageien krächzten und die Frösche quakten. Stattdessen musste ich mich in den Großstadtdschungel begeben. Ich spürte Angst. „Barbara, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Wie soll ich das jemals wieder gut machen?“, fragte ich. Es fiel mir schwer, zu sprechen. „Das musst du gar nicht, mein Lieber, wirklich nicht“, antwortete sie.

 

Nun war es soweit, ich war auf dem Flug von La Romana, einem kleinen Flughafen in der Dominikanischen Republik, nach Düsseldorf. Mit meinen langen Haaren und meiner zerfetzten Kleidung war ich ein echter Hingucker für die übrigen Passagiere, natürlich nicht im positiven Sinn. Ich schämte mich. Schon allein die Blicke bei der Abfertigung waren mehr als peinlich, aber das hier war noch schlimmer.

 

Der Flug war daher mehr als unangenehm, ich war froh, als wir landeten. Nun musste ich aber noch umsteigen, in den Flieger nach Hannover. Zum Gepäckband musste ich nicht, eine kleine Tasche war mein ganzes Gepäck, mehr hatte ich nicht. Die musste ich nicht aufgeben.

 

In dem anderen Flugzeug saßen keine Touristen, nur Geschäftsleute. Diese waren noch intoleranter, was ich deutlich spürte. In Hannover angekommen suchte ich vergeblich nach dem Shuttle-Bus zum Hauptbahnhof. „So etwas gibt es schon lange nicht mehr, Sie müssen die S-Bahn nehmen!“, erklärte die junge Dame an der Information wenig freundlich. Wieder spürte ich Verachtung.

 

Nach langem Suchen entdeckte ich das moderne Transportmittel, das mich in zwanzig Minuten in die Innenstadt bringen sollte. Das war alles sehr verwirrend, nichts war mir vertraut. „Kann ich dir irgendwie helfen?“, fragte ein junges Mädchen mit blonden Haaren, das mir im Zug gegenüber saß. „Ich bin übrigens die Jenny“, ergänzte sie. „Ja, das können Sie wirklich“, sagte ich. Aus lauter Angst vermied ich es, zurück zu duzen. „Du kannst ruhig du sagen. Du bist nicht von hier, ne?“

„Eigentlich schon, aber ich war lange nicht hier.“

„Und wo warst du, im Urwald?“

 

Sie hatte den Nagel auf dem Kopf getroffen, ich erzählte ihr meine ganze Geschichte, soweit das in der kurzen Fahrtzeit möglich war. Jenny war sehr interessiert, das erste Mal seit Antritt der Reise spürte ich so etwas wie menschliche Wärme. Als ich fertig war, sagte das Mädchen: „Das erinnert mich an einen Roman, den ich neulich las. Er war von einem Aldous Huxley, glaube ich.“ Ich nickte. In all den Jahren im Regenwald hatte ich viele Bücher gelesen. „Schöne neue Welt“ war eines meiner Lieblingsbücher. Ja, es stimmte, ich war so wie „der Wilde“ in Huxleys Geschichte, Jenny hatte Recht.

 

„Und du weißt nicht, wie es bei uns aussieht, mit Computern und so?“, wollte sie wissen. Ich gab zu, dass ich wenig wusste. Natürlich war mir bekannt, dass in Deutschland die Mauer fiel und der Euro eingeführt wurde, aber wie es heutzutage in der modernen Welt war, konnte ich nur erahnen. Dreißig Jahre waren eine verdammt lange Zeit. „Jedenfalls fühle ich die Kälte in diesem Land“, antwortete ich. „Na klar, wenn man so lange Zeit in der Karibik war, friert man hier, Elias.“

„Das meine ich nicht. Ich meine die menschliche Kälte, die Verachtung, wenn mich ansieht. Das ist wirklich schlimm.“

„Meine Mutter hat mir immer beigebracht, dass man jeden Menschen achten soll, egal wie er aussieht. Na, ja, in Wirklichkeit ist sie gar nicht meine richtige Mutter, ich bin adoptiert worden.“

 

In diesem Moment fuhr der Zug in den Bahnhof ein, wir mussten aussteigen. „Weißt du schon, wo du heute Nacht pennst?“, wollte Jenny wissen. „Ich werde wohl einer meiner zahlreichen Visitenkarten nehmen und mir ein schönes Hotel suchen.“ Das Mädchen lachte. „Nein, ehrlich gesagt weiß ich es nicht, Jenny. Ich...“

„Du kannst bei mir schlafen. Bezahlen musst du nichts, es reicht, wenn du mir noch mehr erzählst, von deinem Leben im Regenwald und warum du ausgestiegen bist und alles hingeworfen hast.“

 

Wir fuhren mit der Straßenbahn nach Linden, dem Stadtteil, in dem Jenny wohnte. Unterwegs fielen mir die vielen Veränderungen auf, man hatte die alte Hauptpost abgerissen und durch ein riesiges Einkaufszentrum ersetzt. In der Limmerstraße war kein vertrautes Geschäft mehr vorhanden. An der Haltestelle Leinaustraße stiegen wir aus. Endlich sah ich etwas, das ich kannte. Das gute alte Apollo-Kino gab es noch, stellte ich fest. Gleich um die Ecke war Jennys Wohnung. Sie wohnte im zweiten Stock.

 

„Schön hast du es hier“, sagte ich. Das war mein Ernst, denn hier fehlte jeglicher Schnickschnack, stattdessen lagen Unmengen Bücher herum. Die Kleine hatte offenbar Sinn für das Wichtige im Leben. „Meine Freundinnen halten mich alle für bescheuert, die haben alle mehr Schuhe als Bücher. Das kann ich nicht verstehen. Ich gucke auch kaum Fernsehen, das hemmt die Fantasie. Hingegen wenn man liest...“

„... reist man im Kopf an alle Plätze dieser Welt“, ergänzte ich. „Ganz genau. Wir verstehen uns. Hast du Hunger? Ich bin aber Veganerin.“

„Das passt schon. Ich habe schon lange kein Fleisch mehr gegessen, Fisch aber schon.“

 

Jenny bereitete eine köstliche Reis-Gemüse-Pfanne zu. Es schmeckte großartig. Nach dem Essen setzen wir uns auf ihr Sofa. „Ich habe übrigens ein Foto von meiner richtigen Mutti. Es war keine anonyme Adoption, ich war zwei Jahre alt, als sie mich weggab. Ich habe mir immer gewünscht, sie mal kennen zu lernen. Aber das wird wohl nie geschehen, sie lebt irgendwo im Süden“, erzählte sie und kramte in einer Schublade herum.

 

Als ich die Fotografie sah, erstarrte ich und rief: „Barbara, das ist Barbara!“

„Ja, so heißt sie, aber woher weißt du das?“

„Das ist die Frau, der ich zu verdanken habe, dass ich hier bin. Sie lebt auf St. Lucia und arbeitet als Guide.“ Jenny wurde blass und fiel mir um den Hals. „Das ist der Hammer, das ist der Hammer!“, widerfuhr es ihr.

 

Ich musste ihr noch viel von Barbara erzählen, es wurde ein langer Abend. Niemals zuvor in meinem Leben hatte ich einen Menschen in so kurzer Zeit so glücklich gemacht. „Es gibt keine Zufälle im Leben, alles ist vorbestimmt“, so heißt es. Das ist wohl wahr.

 

Zwei Wochen blieb ich bei Jenny, ich besuchte meine Mutter jeden Tag, bis sie starb. Nach der Beerdigung sagte Jenny zu mir: „Du hast deine Mutti noch einmal gesehen, ich hatte dazu noch nie Gelegenheit, jedenfalls nicht bewusst. Weißt du was, ich begleite dich nach St. Lucia.“

 

Der Rückflug verlief wesentlich angenehmer, ich trug mittlerweile normale Kleidung und meine Haare waren geschnitten, so fiel ich nicht auf. Die anderen Männer in der Maschine dachten wohl, Jenny wäre meine Freundin und guckten neidisch. Na ja, in gewisser Weise stimmte es ja, aber nicht so, wie sie es vermuteten.

 

Ich war froh, wieder zurückgekehrt zu sein, hier im Regenwald war meine richtige Heimat. Am Tag, als die Touristen kamen, hielt sich Jenny in meiner Hütte versteckt und war mucksmäuschenstill. Barbara war überrascht, als sie mich sah und rief: „Wow, da hat sich jemand verändert.“ Darauf ging ich nicht ein. Stattdessen sagte ich: „Babsi, ich habe vor ein paar Wochen gesagt, dass ich nicht weiß, wie ich das alles wieder gut machen soll. Jetzt weiß ich es.“ Jenny trat aus der Hütte und ich rief: „Barbara, das ist deine Tochter.“

 

Sekunden des Schweigens, dann fielen sich die beiden Frauen um den Hals. Diesmal hatte ich gleich zwei Menschen glücklich gemacht.

 

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Tag der Veröffentlichung: 13.01.2014

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