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Todsünden

 

 

Das Telefon klingelte. Hauptkommissar Günter Brandes schreckte aus seinem Sekundenschlaf hoch, er war kurzzeitig eingenickt. Pflichtgemäß meldete er sich: „Kripo Bremen, Hauptkommissar Brandes. Was kann ich für Sie tun?“

„Mein Name ist Neumann. Ich bin Leiter eines Altenheimes in Vegesack. Wir haben hier einen Todesfall.“

„Das soll in Altenheimen öfters vorkommen.“

„Sicherlich, aber in diesem Fall ist es kein natürlicher Tod, würde ich sagen.“

„Sind Sie sicher?“

„Ja, weil, niemand auf natürliche Weise mit einer Salatgurke im Mund stirbt, einer ganzen wohlgemerkt.“

„Das ist in der Tat ungewöhnlich. Wo genau ist das Heim?“

„Wissen Sie, wo das Schulschiff Deutschland anliegt?“

„Klar, das kenne ich.“

„Nur ein paar Meter davon, das Heim heißt ´Endstation Sehnsucht`, kein Scherz.“

„Sehr makaber.“

„Na, ja, die Leute hier nehmen es mit Humor. Wir haben hier ausschließlich ehemalige Künstler, also Bildhauer, Maler, Autoren und so weiter.“

„Gut, ich bin in einer halben Stunde bei Ihnen“, sagte Brandes und legte auf. Was war das für ein bescheuerter Fall. Er informierte seine Kollegen und fuhr alleine zu der genannten Adresse.

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Das Altersheim entpuppte sich als eine sehr noble Seniorenresidenz, das hatte Brandes so nicht erwartet. Am Eingang empfing ihm ein Mann in einem grauen Kittel, offensichtlich der Hausmeister. Dieser führte den Kommissar in das Büro von Marcel Neumann, der ihn freundlich begrüßte: „Herzlich willkommen, auch wenn der Anlass kein schöner ist. Das ist das erste Mal seit fünf Jahren, dass wir die Polizei im Hause haben. Hier passiert normalerweise nie etwas. Unsere Residenz ist sehr gepflegt, wie sie vielleicht bemerkt haben. Wir wählen unsere Gäste, wie wir sie nennen, sorgsam aus, dafür ist es auch etwas teurer. Nicht jeder kann sich das leisten.“

„Ich dachte immer, Künstler nagen am Hungertuch“, entgegnete Brandes.

„Größtenteils ist das wohl auch so. Aber die Damen und Herren, die hier wohnen, haben ausreichend Rücklagen gebildet und sind reich, die meisten waren einst berühmt. Der Name des Heimes kommt auch nicht von ungefähr. Der Stifter war ein bekannter Schauspieler. In seinem Testament hat er gewisse Spielregeln festgelegt, an denen wir uns zu halten haben. So findet jeden Abend Darbietungen statt: Vorlesungen, Theater, Schnellzeichnen und so weiter. Jeder der Bewohner ist abwechselnd dran, alle vierzehn Tage einmal.“

„Daraus schließe ich, dass auch nur so viele Leute hier wohnen…“

„Richtig. Das ist eine weitere Regel. Aber kommen Sie bitte mit, Sie sind ja nicht gekommen, um sich hier Ihren möglichen Ruhesitz anzusehen. Wie ich schon am Telefon gesagt habe, wir haben hier leider einen Todesfall. Es geht um Herrn Feldmann, ein ehemaliger Opernsänger. Sein Zimmer ist oben im zweiten Stock. Folgen Sie mir.“

 

Sie gingen die Marmor-Wendeltreppe hinauf, die sich elegant von der riesigen Eingangshalle nach oben wand. Alles war hier vom Feinsten: Wertvolle Teppiche, kostbare Gemälde, an nichts wurde gespart. Nicht ein Staubkorn war zu entdecken, alles glänzte. Ich möchte nicht wissen, was das hier kostet, dachte der Kommissar.

Das Zimmer des Opfers lag am Ende des Flures auf der rechten Seite, die Tür aus Eichenholz war verschlossen. „Unsere Reinigungskraft hat Herrn Feldmann heute Morgen gefunden, wir hatten uns schon gewundert, dass er nicht zum Frühstück erschienen ist, da war er sonst immer einer der ersten“, sagte Neumann, als er aufschloss. Warum das so war, wurde Brandes blitzschnell klar, als er eintrat. Der Verstorbene war – vorsichtig gesagt – nicht unterernährt, er wog mindestens drei Zentner, schätzte der Kommissar. Die Salatgurke steckte – wie der Leiter schon beschrieben hatte – im Mund des Mannes und lugte etwa zehn Zentimeter heraus, die Todesursache war offensichtlich. Sein Oberkörper war nicht bedeckt, mit schwarzer Farbe stand das Wort „Gula“ darauf. „Seltsam, seltsam. Was hat das nur zu bedeuten?“, murmelte Brandes. „Nun, zumindest, das Wort kann ich Ihnen erklären, Herr Kommissar. Kennen Sie das nicht?“

„Ehrlich gesagt, stehe ich da auf dem Schlauch. Latein hatte ich nie.“

„Nun, Gula ist eines der sieben Todsünden, auf Deutsch Völlerei.“

„Na, das passt ja.“

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Gerichtsmediziner Dietmar Loges war mit seiner Arbeit schnell fertig: Tod durch Ersticken, das war zu erwarten gewesen. Während der Obduktion hatte er inständig gehofft, dass ihm das Opfer nicht vom Seziertisch fiel. Alleine hätte er den Toten nicht wieder hinauf hieven können. An der Gurke fanden sich keinerlei fremde DNA-Spuren. Der Täter hatte ganze Arbeit geleistet. Loges berichtete Brandes davon und erklärte noch, dass ansonsten nichts Außergewöhnliches festzustellen sei: „Abgesehen vom Übergewicht war der Tote kerngesund, Günter. Der hätte noch sehr alt werden können.“

 

In der Bremer Presse fand der Fall recht wenig Beachtung, das bevorstehende Fußballderby gegen den Erzfeind aus Hamburg stand im Mittelpunkt des Interesses. „Den Pressefutzis war das offenbar nicht brutal genug“, mutmaßte Brandes, als er mit seinen Kollegen darüber sprach. Gerade wollte er die Liste der Tatverdächtigen durchgehen, als das Telefon klingelte. Die Nummer im Display erkannte der Kommissar sofort, er hatte ein brillantes Zahlengedächtnis. Es war die des Seniorenheimes.

 

„Guten Morgen, Herr Neumann. Hat sich noch etwas getan?“, fragte Brandes und grinste leicht. „Das kann man leider sagen. Hier gibt es schon wieder eine Leiche, diesmal ist es wesentlich schlimmer als bei Herrn Feldmann. Es ist mir äußerst unangenehm, darüber zu sprechen. Das müssen Sie selber sehen.“

 

Mit den beiden Kommissaren Seidlitz und Ottenstedt sowie dem Gerichtsmediziner fuhr Brandes erneut nach Vegesack. Dort wurden sie schon erwartet. „Oh, Sie sind heute zu viert“, sagte der Heimleiter und fuhr fort: „Es ist, wie gesagt, diesmal etwas peinlicher, die Tote ist Frau Lohmann, einst eine angesagte Autorin. Sie lebte schon seit zwölf Jahren bei uns.“ In ihrem Zimmer erblickten die Kriminalbeamten ein halbes Dutzend Bücherregale, die völlig überquollen. Die Bücher lagen zum Teil übereinander, einige verteilten sich auf dem Fußboden. „Frau Lohmann hat nicht nur geschrieben, sie hat auch sehr viel gelesen, wie sie sehen. Dort drüben liegt sie“, erklärte Neumann. Die Dame lag völlig entkleidet auf ihrem Bett mit einem Vibrator in der Hand. Auch ihr Oberkörper war mit Farbe beschmiert, das Wort lautete „Luxuria“. „Das heißt Wollust“, wusste Ottenstedt. Neumann nickte und ergänzte: „Todsünde Numero Zwei.“

„Das erinnert mich an einen Film, den ich einst sah“, stellte Seidlitz fest. „Stell dir vor, da gibt es auch einen Roman von, falls du dich erinnerst, dass so etwas existiert“, frotzelte Brandes. Die anderen Polizisten lachten.

 

Ein schriller Schrei ertönte. Unbemerkt hatte eine alte Frau den Raum betreten. Neumann stürzte auf sie zu und sprach mit beruhigender Stimme: „Frau Petersen, gehen Sie bitte in Ihr Zimmer zurück. Schwester Manuela wird sich gleich um Sie kümmern.“ Er führte sie sanft aber mit Nachdruck hinaus. Als er zurückkehrte, griff er zu seinem Handy und sagte: „Frau Müller, kommen sie bitte zu Frau Petersen und geben Sie ihr das Spezialmittel.“

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Der weitere Mord in dem Bremer Altersheim fand in den Medien großes Interesse, besonders die Privatfernsehsender stürzten sich darauf. Ein Mann, der mit einer Salatgurke erstickt wurde und eine Frau, die an einen vergifteten Vibrator starb – das hatte etwas. Auch die Block-Zeitung hatte tagelang kein anderes Thema, das war ein gefundenes Fressen. Die Angehörigen der verbliebenen Senioren forderten einen Ausbau der Polizeipräsenz in dem Heim – ein weiterer Mord durfte nicht geschehen.

 

Und doch: es kam dazu. Diesmal traf es Herrn Cordes, ein seinerzeit bekannter Maler. Man fand ihn tot vor seiner Leinwand, sein Kopf steckte in einem Eimer, der mit Goldfarbe gefüllt war. Das war Avaritia – die Habgier.

 

„Was tut die Polizei – geht das so weiter?“, titelte die große Boulevardzeitung und druckte ein Foto von Hauptkommissar Brandes, der zermürbt aussah. So fühlte er sich auch, nachdem er gewaltigen Druck von seinem Chef bekommen hatte.

 

Dann geschah das vierte Verbrechen: Die frühere Schauspielerin Annemarie von Hohenstedt wurde im Müllcontainer des Heimes entdeckt. Sie symbolisierte Superbia, die Hochmut.

 

„Nun, das schränkt den Kreis der Tatverdächtigen ungemein ein“, stellte Brandes fest und fuhr fort: „Einer der alten Leute kann es wohl kaum gewesen sein. Denen fehlt die Kraft, jemanden in den Müll zu werfen.“

„Blieben nur der Heimleiter oder der Hausmeister“, antwortete Seidlitz. „Was ist mit den beiden Altenpflegerinnen? Die müssten das auch stemmen können“, konterte Ottenstedt. „Richtig, Horst. Gut bemerkt. Lasst uns noch einmal zum Heim fahren“, sagte Brandes und hob die Hände zum Aufbruch.

 

Vor der Residenz stand ein halbes Dutzend Übertragungswagen, eine Heerschar von Journalisten standen Spalier. Die Kommissare mussten sich durchkämpfen, um in das Haus hinein zu gelangen.

 

Neumann machte einen verwirrten und gestressten Eindruck, das Ganze schien ihm sehr mitgenommen zu haben, was nicht verwunderlich war. „Sie glauben gar nicht, was hier los ist. Pausenlos klingelt das Telefon, die Angehörigen lassen uns keine Ruhe“, berichtete er und ergänzte: „Ich bin noch nie so beschimpft worden.“

„Ira – der Zorn“, bemerkte Ottenstedt.

„Der Kollege ist sehr belesen“, stellte Brandes fest. „Manch andere haben nur ein einziges Buch zu Hause, und das hat sehr viele Personen, aber wenig Handlung.“ Seidlitz verzog das Gesicht, er wusste, das er damit gemeint war. In der Tat war in seiner Wohnung wenig Lesbares zu finden.

 

„Herr Neumann, Sie erwähnten kürzlich dieses Spezialmittel, als die alte Dame das Zimmer betrat. Was hat es damit auf sich?“, wollte Ottenstedt wissen. „Nun, das ist ein Beruhigungsmittel, es wirkt ganz ausgezeichnet. Ich selbst nehme es auch gelegentlich“, antwortete der Heimleiter. Er griff in die Schublade und holte eine silberne Tablettendose heraus. „Dürfen wir das mal untersuchen?“, fragte Brandes. Neumann nickte.

 

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„Das ist mehr als ein Beruhigungsmittel, Günter. Eine bewusstseinsverändernde Droge, die enthemmend wirkt. Einst von Amerikanern im Golfkrieg an die Soldaten verteilt, um sie in Kampfmaschinen zu verwandeln. Mittlerweile als Partydroge unter Jugendlichen sehr beliebt. Ich würde meinen alten Herrn niemals so etwas geben“, berichtete der Gerichtsmediziner, als er mit Analyse fertig war. „Damit könnte man zum Mörder werden.“

„Moment mal, der Neumann hat doch gesagt, dass er das Zeug auch nimmt“, stellte Brandes und fuhr sich durch das schüttere Haar. „Hat die Droge noch weitere Nebenwirkungen?“

„Ja, man vergisst danach, was man getan hat, während man berauscht war.“

„Das ist es. Das ist es. Wir haben unseren Täter“, rief Brandes begeistert.

Neumann war überführt, auch wenn er sich an nichts erinnern konnte. Die Mordserie war beendet.

 

 

 

Impressum

Bildmaterialien: www.sieben-todsuenden.com
Tag der Veröffentlichung: 24.12.2013

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