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Es bleibt Hoffnung

 

 


Hannover, 18. Oktober 2039

 

Liebe Martina,

 

ich würde Dich gerne mal wieder besuchen, aber ich habe nur noch zehn Kilometer in diesem Monat zur Verfügung, und wir haben ja erst den Achtzehnten. Seit vor fünf Jahren die Maut für Fußgänger eingeführt wurde, muss ich mir jeden Schritt überlegen, denn jeder von diesen zählt, wobei natürlich Hauptverkehrsfußwege deutlich teurer sind als die Nebenstraßen. Die monatliche Pauschale von 320 Euro ist fast verbraucht, jede Überschreitung wird drastisch geahndet, wie Du weißt.

 

Es lebt sich wirklich nicht mehr gut in Deutschland. Als kurzsichtiger habe ich durch die Sehhilfesteuer schon eine große Belastung und jetzt wollen sie auch noch eine Haarsteuer einführen – und das nicht nur für Körperbehaarung. Gut, ich könnte mir eine Glatze schneiden lassen, aber da Kahlköpfige nach dem Kopfbedeckungsgesetz von 2023 nicht ohne Hut, Kopftuch oder Mütze auf die Straße dürfen, würde mir das auch nicht viel nützen, denn deren Erwerb mehrt natürlich auch die Einnahmen des Staates.

 

Mein Nachbar Torsten Köhler hat mir gestern berichtet, dass sie ihm alle Sessel, Stühle und Sofas weg gepfändet haben, weil er die Sitzsteuer nicht pünktlich bezahlt hat. Er will jetzt nach Griechenland auswandern, denn dort hinkt man der Steuer- und Abgabeverordnung Resteuropas stark hinterher. Bekanntlich ist dieses Land ja das einzige europäische Land (neben der Schweiz und dem Vatikan), das nicht oder nicht mehr der EU angehört, nachdem Norwegen am 01.04.2029 ebenfalls beitrat.

 

Übrigens, meinen Nebenjob als Salatblattputzer in dem Fast Food-Restaurant um die Ecke habe ich leider verloren, weil durch das Imbissgesetz die Steuer auf „gewerblich produzierte Lebensmittel, die zum Sofortverzehr bestimmt sind“ um 300 % erhöht wurde. Kein Mensch kauft mehr ein Menü aus Hamburger, Pommes frites und Softdrink, wenn er dafür ein Viertel seines Monatsgehaltes bezahlen muss. Daher wird diese Filiale der Kette in Kürze endgültig geschlossen.

 

Bislang bin ich mit meiner Rente von 3.950 Euro monatlich einigermaßen gut über die Runden gekommen, auch wenn die Miete für meine 20 Quadratmeter-Wohnung circa zwei Drittel davon wegfrisst. Doch künftig werde ich mich wohl einschränken müssen und meine Haustiere (ein Goldhamster, eine Heuschrecke und eine Gruppe Silberfische) wegen der exorbitanten Futterkosten abschaffen. Bis auf Hamster Willy werde ich diese wohl durch die Toilette entsorgen, wenn ich die Gebühr für die Spülgebühr zusammen habe. Willy setze ich heimlich im Stadtpark aus, aber verrate mich bloß nicht!

 

Hast Du eigentlich Deinen Antrag auf Befreiung von der Gebissreinigungsgebühr durchbekommen? Das würde Dich doch schon recht ordentlich entlasten. Übrigens habe ich mir neulich mal wieder eine alte DVD aus dem Jahre 2013 angesehen, als die damalige Bundeskanzlerin versprach, dass „es mit ihr keine Steuererhöhung geben würde“. Was habe ich gelacht! In dem Bericht wurden einige ehemalige Parteien erwähnt. Kannst Du Dich noch an die FDP, an die CDU/CSU, die SPD oder an die Grünen erinnern? Niemand hätte vor fünfundzwanzig Jahren gedacht, dass diese alle nach und nach an der Fünf-Prozent-Klausel scheitern und sich bald danach selbst auflösen würden. Doch das was die machen, die heute regieren, findet ja bekanntlich auch nicht die Zustimmung der Bevölkerung, auch wenn die Wahlbeteiligung letzten Monat mit 12% so hoch wie seit langem nicht mehr war. Es bleibt Hoffnung, dass in einigen Jahren wieder Vernunft einzieht in unserem Lande, aber ich sehe da schwarz.

 

Ach, übrigens, die Brieftaube, die Du mir letztes Mal geschickt hast, hat sich leider in der Hochspannungsleitung verfangen, die das gegenüberliegende Regierungsgebäude mit Strom versorgt. Das bekam der Taube leider schlecht. Ich musste drei Monate sparen, bis ich das Geld für eine neue zusammen hatte. Was war das früher einfach, als wir uns noch Telefone oder Computer leisten konnten!

 

So, liebe Martina, ich muss jetzt Schluss machen, denn gleich endet im benachbarten Stadion das Endspiel um die deutsche Meisterschaft im Sackhüpfen. Ich werde dann die Bratwurstpappen einsammeln. Von der Pfandgebühr kann ich mir vielleicht mein Abendbrot leisten, der Bäcker Schulze hat Mohnbrötchen im Angebot, für nur 35 Euro das Stück.

 

Dein Bruder Thomas

 

 

 

Impressum

Bildmaterialien: www.grafikdesigner-tuttlingen.de
Tag der Veröffentlichung: 04.10.2013

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