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An jenen Tagen

 

 

 

Das Jahr 1989 war in der deutschen Geschichte etwas ganz Besonderes. Noch im Winter und im Frühjahr konnte niemand ahnen, was im Sommer und im Herbst geschehen würde.

 

Ich habe bereits zwei Bücher bei Bookrix darüber veröffentlicht, nämlich „Denn der Schein trügt“ und „Briefe von drüben“. Während Ersteres frei erfunden ist, basiert das Zweite größtenteils auf Ereignisse, die ich selbst erlebt habe.

 

Ich fand also tatsächlich in der „Magascene“ eine nette Kleinanzeige unter „Kontakte“. Allerdings war es nicht nur eine nette Mutti aus der DDR, die in den Federkrieg treten wollte, sondern gleich zwei. Somit war einer meiner Freunde gefragt, natürlich nur einer, der gerade solo war. Da blieb nur Ronald.

 

Von uns beiden war eindeutig ich derjenige, der besser schreiben konnte, darum verfasste ich den ersten Brief an die Mädels, der an die Redaktion der Zeitschrift ging. Schon zwei Wochen später kam Antwort, der Umschlag war grau, wie damals „Drüben“ üblich. Für mich keine Überraschung, denn ich hatte ja Ostverwandtschaft, mein Kumpel hingegen nicht. Die beiden Frauen arbeiteten in einer LPG in einem kleinen Dorf bei Magdeburg, Ute war Floristin und Kerstin Traktoristin, korrekterweise „Agrotechniker-Mechanisator“, wie es in der DDR hieß.

 

Das beiliegende Foto ließ uns zwei Blondinen erblicken, wobei Kerstin eindeutig molliger war als ihre Freundin. Auf den ersten Blick nicht unsympathisch, fand ich.

 

Es folgten etliche Briefwechsel, wobei sowohl Ute als auch Ronald nur sehr selten schrieben, sodass schließlich nur noch Kerstin und ich übrig blieben. „Das wird doch sowieso nie etwas“, meinte Ronald noch im April. Er sollte sich irren.

 

Ich war schon immer Fan der DDR-Musik, insbesondere von Karat und City. Daher war dieses oft Thema in unseren Schreiben. Letztgenannte Gruppe hatte wenige Jahre zuvor die LP „Casablanca“ herausgebracht mit wirklich tollen und mutigen Texten. In „z.B. Susann“, einer Hymne über Berlin, heißt es: „Wir haben was von langen Haaren und viel von echten Jeans gewusst, da ging die erste große Liebe vom Frühling bis in den August.“ Eine versteckte Anspielung auf den Prager Frühling.

 

Politik spielte aber in den Briefwechseln zunächst keinerlei Rolle, bis im Mai die Wahlen in der DDR derart offensichtlich manipuliert worden sind, dass es zu heftigen Protesten der Bürger kam. Meine Brieffreundin fand erstmals Mut, über diese Dinge zu schreiben. Zunächst harmlose Dinge, wie die Tatsache, dass Gorbatschow in der UdSSR den Wodka verboten ließ. Doch dann erfuhr ich nach und nach, was sich in Magdeburg tat.

 

Später folgten auch Witze über Honecker, einige davon kannte ich schon. Dann überschlugen sich im Osten die Ereignisse. Ungarn öffnete die Grenze zu Österreich und viele DDR-Bürger nutzten ihren Urlaub zur Flucht. Daran dachte Kerstin aber nicht. „Wer weiß, was alles noch kommen wird“, schrieb sie. Aber wir planten einen Besuch von mir. Jedoch sollten noch einige Wochen vergehen, bis es dazu kommen sollte. Wir hatten uns auf das Wochenende vom 10. bis zum 12. November 1989 geeinigt. Ich musste mir ein Visum besorgen, denn die Stadt Hannover gehörte nicht – im Gegensatz zum Umland – zum sogenannten „kleinen Grenzverkehr“ der Besuche nach „Drüben“ erheblich erleichterte. Natürlich ahnten wir nicht, was für ein schicksalhaftes Datum wir uns da ausgesucht hatten.

 

Dann war der 09. November. Ich besuchte mit ein paar Freunden ein Konzert von Marius Müller-Westernhagen in Fallingbostel, also weit außerhalb. Sowohl auf der Hin- als auf der Rückfahrt hörten wir ausschließlich Kassetten mit seiner Musik und kein Radio. Deshalb war es eine große Überraschung für mich, als ich am nächsten Morgen die Zeitung aufschlug. „DDR öffnet die Grenzen zum Westen“ stand da. Ich fiel fast vom Glauben ab. Das hatte ich nicht erwartet.

 

Ich machte sehr früh Feierabend und fuhr mit meinem Golf in Richtung Osten auf der A 2. Schon nach wenigen Metern sah ich auf der Gegenseite endlose Staus – mittendrin Tausende von bunten Trabbis. Eine wahre Invasion! Hingegen kam ich auf meiner Seite flott voran und erreichte den Grenzübergang Helmstedt/Marienborn viel früher als geplant. Die Kontrollen fielen bei Weitem nicht so heftig aus, wie mir Freunde und Verwandte zuvor berichtet hatten, die Grenzpolizisten hatten wohl auch keine Lust mehr. Die Beamtin, die in dem Büro saß, wo man sein Westgeld in DDR-Währung wechseln musste, machte sogar noch einige Scherze. Klar, sie wäre jetzt auch viel lieber woanders gewesen.

 

Kerstin hatte sich mit mir an einem Rasthof kurz vor Magdeburg verabredet, sie wurde von einem ihrer Kollegen (natürlich mit einem Trabbi) hergebracht. Ich fiel ihr in die Arme, sie sah glücklich aus und hatte Tränen in den Augen. „Sind die alle vor dir auf der Flucht?“, scherzte sie. Denselben Witz hatte mein Kollege Thomas am Vormittag auch schon gemacht. Es war ja auch wirklich eine kuriose Situation! In der Gaststätte lernte ich dann eine Spezialität aus der DDR, nämlich „Würzfleisch“, eine Art Wurst mit kleingehackten Zwiebeln, die in kleinen Porzellanschälchen serviert wurde. Es schmeckte – ehrlich gesagt – ziemlich gewöhnungsbedürftig, was ich mir wohl auch anmerken ließ, zum Amüsement meiner Brieffreundin.

 

Wir fuhren in ihre „2-Raum-Wohnung“, die sie zusammen mit ihren beiden kleinen Söhnen bewohnte. Eigentlich war ja ein geruhsamer Abend von uns geplant, daraus wurde jedoch nichts. Zum Einem kam unentwegt Besuch und zum Anderen lief (aus aktuellem Anlass) ununterbrochen der Fernseher. Dieser war mit einem Spannungsausgleichungsgerät gekoppelt, denn damals gab es starke Stromspannungen im Netz, wie mir Kerstin erklärte. Es war allerdings auch nicht zu übersehen, denn das Licht flackerte stark. Abwechselnd sahen wir Ost- und Westfernsehen. Die Bilder glichen denen, ich selber einige Stunden zuvor sah. Doch es gab auch Filmberichte über grenznahe Großstädte, wie z.B. Braunschweig. Besonders amüsierten sich alle Anwesenden über die Meldung, dass dort die Bananen ausverkauft waren. „Siehst du, Ihr kriegt das auch nicht geregelt“, stellte Kerstin fest. Alle lachten.

 

Alkohol floss reichlich, ich hatte auch einiges mitgebracht. Das DDR-Bier schmeckte nicht schlecht, aber „Goldkrone“ (eine Mischung aus Weinbrand und Korn) mochte ich gar nicht.

 

Entsprechend schwer war der Kopf am nächsten Tag. Wir fuhren mit meinem Golf nach Magdeburg, die Stadt war fast wie ausgestorben. Lediglich vor den Sparkassen und dem Intershop (dort wurden Westwaren verkauft, natürlich konnte man die nur mit DM bezahlen) sah man endlose Menschenschlangen. Mir fiel auf, dass die Straßen viele Schlaglöcher hatten. „Fahr nicht auf die Straßenbahnschienen“, warnte mich Kerstin. Sie erklärte mir, dass die im Osten üblichen schweren Triebwagen aus der CSSR das Gleisbett zerstörten. Das wusste ich allerdings schon, da ich drei Jahre zuvor in Ostberlin war.

 

Wir kauften im Intershop ein, für mich sah es aus, wie ein winziger, schäbiger Kaufmannsladen aus den Sechzigern, für meine Brieffreundin war es wie ein Paradies. Unsere Supermärkte und Kaufhäuser kannte sie ja noch nicht.

 

Am Abend war ursprünglich der Besuch einer Diskothek geplant. Gerne hätte ich diese mal von innen gesehen, doch sie hatte überraschenderweise geschlossen, und dass, obwohl Kerstin vorher Karten reserviert hatte. Dass so etwas nötig war, hatte ich auch nicht gewusst.

 

Am Sonntag nach dem Mittagessen meldete ich mich ordnungsgemäß bei der Volkspolizei ab, das wurde sorgsam im Visum vermerkt.

 

Ich verabschiedete mich von Kerstin und den Kindern und fuhr heimwärts, wobei ich prompt die Autobahnauffahrt verpasste und mich verfuhr, was auch der schlechten Beschilderung geschuldet war.

 

Auf der Autobahn dann das gleiche Bild wie auf der Hinfahrt, nur das diesmal die vielen Trabbis alle Richtung Osten fuhren.

 

„Ihr Deutschen müsstet jetzt das glücklichste Volk der Welt sein“, titelte am Montag danach eine britische Zeitung. Wohl war.

 

Nach der Wende erhielten Kerstin und ich den Briefkontakt noch einige Zeit aufrecht, doch irgendwann schlief das ein.

 

Dieses besondere Wochenende werde ich nie in meinem Leben vergessen.


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Impressum

Tag der Veröffentlichung: 02.10.2013

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