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Natascha

 

 

Es war kurz nach der Trennung von Sylvia, als ich beschloss, mir mal wieder richtig die Kante zu geben. Ich trinke seit Jahren nur noch selten Alkohol, aber jetzt musste es mal wieder sein. Vielleicht half das ja, meinen Kummer zu überwinden.

 

In Lübeck, meiner Heimatstadt, gibt es viele nette kleine Kneipen, die ich allerdings schon lange nicht mehr besucht hatte. Mir fiel das „Finnegan“ wieder ein, ein gemütliches Irish Pub mitten in der Altstadt. Hier hatte ich früher gerne mein GUINNESS getrunken. Ich betrat das Lokal und ging die alte Holztreppe hinunter in den Keller. Es hatte sich nichts verändert, seitdem ich zuletzt hier war. Das Gewölbe war von Rauch geschwängert, es war ziemlich voll. Am Tresen aus schwarzem Holz waren in der Mitte noch zwei Barhocker frei. Ich nahm Platz und bewunderte die zahlreichen Zapfhebel an der Theke, wo der Barkeeper emsig beschäftigt war, die Gläser zu füllen. Selbst die Gäste sahen aus wie früher. Ich bestellte mein Pint. Wenige Sekunden später tippte mir jemand auf die Schulter. Ich drehte mich um – und erstarrte. Das gab es doch gar nicht. Eine wunderschöne Frau lächelte mich an. Ich erkannte sie, es war Natascha, eine ehemalige Kollegin.

 

„Mensch, Natascha, das ist ja ein Wahnsinn, dich hier zu treffen. Wir haben uns ja ewig nicht mehr gesehen. Du siehst toll aus, fast so wie früher!“, rief ich begeistert. Das war nicht gelogen, es schien so, als ob sie kaum einen Tag älter geworden sei, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte, als sie am 16.07.2000 ihren letzten Arbeitstag bei uns hatte. Das war doch unmöglich! Fast dreizehn Jahre waren seitdem vergangen. „Ja, ich bin mal wieder in meiner alten Heimat. Lübeck hat sich nicht sehr verändert, und du auch kaum, Marius“, entgegnete sie. Letzteres war sehr geschmeichelt, mein Bauchumfang war deutlich gewachsen, wohingegen meine einstmals üppige Haarpracht eine eindeutig rückläufige Tendenz hatte.

 

Ich hatte Natascha niemals gestanden, dass ich sie liebte. Es passte einfach nicht damals. Fünf Jahre hatten wir in der Anwaltskanzlei unweit des Thomas-Mann-Hauses zusammengearbeitet, ich als Rechtsanwalt, sie als Sekretärin. Das alleine wäre kein Hindernisgrund gewesen, aber ich war damals mit Nicole verlobt und wollte nicht fremdgehen. Nachdem mich meine Verlobte verließ, hatte ich vergeblich versucht, Natascha ausfindig zu machen. Es gelang mir nicht.

 

Natascha setzte sich auf den freien Platz neben mir. Wie hübsch sie war! Lange blonde, lockige Haare, makellose Haut, leicht mollig – genau das mochte ich. Sie bestellte sich ein Cider, das hatte sie früher immer schon gerne getrunken. „Nun sag, was hast du die ganzen Jahre gemacht, nachdem du bei uns aufgehört hast?“, wollte ich wissen. „Ich war in den Staaten. Las Vegas, Dallas, San Francisco, Seattle... quer durchs Land. Am schönsten war es aber in New York. Das muss man mal mit eigenen Augen gesehen haben.“ Ich nickte und intonierte den bekannten Song von Udo Jürgens. Sie fing zu lachen an und hielt mir ihre Hand vor dem Mund. Dann sagte sie: „Hör auf, Marius! Singen konntest du noch nie. Aber dafür hast du ganz andere Qualitäten.“ Damit meinte sie bestimmt nicht meine Tätigkeit als Advokat, denn sie blickte mir direkt in die Augen, erwartungsvoll. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Welch eine Fügung des Schicksals. Zufällig war ich mal wieder in dieser Kneipe und traf dann auch noch eine Frau, die ich viele Jahre nicht gesehen hatte. Und dieses begehrenswerte zauberhafte Wesen war offensichtlich auch nicht abgeneigt, mit mir die Nacht zu verbringen.

 

Wir flirteten stundenlang und plauderten über Gott und die Welt. Kurz vor Mitternacht spürte ich ein dringendes menschliches Bedürfnis. Als ich von der Porzellanabteilung zurückkehrte, war der Hocker neben meinem Platz frei, keine Natascha war zu sehen. Das beunruhigte mich zunächst nicht, aber als nach sie nach zehn Minuten immer noch nicht wieder auftauchte, sprach ich den Barkeeper an: „Sag mal, die junge blonde Frau, die neben mir gesessen hat, wo ist die hin?“ Der Mann räusperte sich und antwortete: „Ich will dir ja nicht zu nahe treten, aber kann das sein, das du etwas überarbeitet bist? Du hast die ganze Zeit nur Selbstgespräche geführt. Du hast irgendetwas von einer Natascha gefaselt. Da war keine Frau neben dir.“

 

Ich war konsterniert. Was war das denn für eine Scheiße? War ich verrückt geworden? Ich bezahlte meine Rechnung und ging kopfschüttelnd nach Hause. Am nächsten Tag musste ich immer noch an Natascha denken. Dieses unheimliche Erlebnis konnte ich nicht für mich behalten. Ich sprach Bernd darauf an, meinem langjährigen Kollegen. Er hörte interessiert zu und sagte zunächst nichts. Denn sprach er: „Marius, du brauchst dringend Urlaub. Offenbar hat dich die Trennung von Sylvia doch zu sehr mitgenommen. Du kannst Natascha nicht getroffen haben. Das ist vollkommen unmöglich. Du weißt doch, was am 11. September 2001 geschah?“

 

„Na, sicherlich weiß ich das, das wird wohl niemand vergessen. Ich war damals im Urlaub auf Gran Canaria, als dieses schreckliche Attentat...“

„Eben. Du hattest Urlaub. Darum hast du von alldem nichts mitbekommen. Wir haben es dir nie erzählt, weil wir wussten, wie du zu ihr standest.“ Bernd öffnete die Schublade seines Schreibtisches und holte einen vergilbten Zeitungsartikel hervor. Es war eine Ausgabe der „Lübecker Nachrichten“ vom 18. September 2001. Ich erblickte ein Foto von Natascha. Daneben stand:

 

Junge Lübeckerin unter den Opfern des WTC-Anschlages

Die Identifizierung der Leichen hat gestern begonnen. Nunmehr steht fest, dass zumindest eine junge Deutsche unter den Opfern ist. Es handelt sich um die 25-jährige Natascha L. aus Lübeck – Schlutup. Sie...“

 

Weiter las ich nicht. Ich schluckte. Offenbar hatte ich einen Geist gesehen.

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Bildmaterialien: www.reise-service.reiner.de
Tag der Veröffentlichung: 17.09.2013

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