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Heute zeige ich Dir das Meer

 

 

Alexander war gutgelaunt aus dem Bus gestiegen, der ihm vom Eldorado Flughafen der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá zum zentralen Omnibusbahnhof gebracht hatte. Das TransMilenio-System war modern, denn die Busse hatten eigene Fahrbahnen. Entsprechend schnell war er in der Innenstadt. Von dort waren es nur noch ein paar Schritte bis zu seinem billigen Hotel. Für so etwas gab Alexander nie viel Geld aus, ebenso wenig wie für Essen.

 

Für ihn musste Urlaub immer ein Abenteuer sein, faul am Strand zu liegen war ihm zu wider. Alexander scheute auch die Gefahr nicht, er liebte es, in Krisengebiete zu reisen. Ägypten, Afghanistan, Sri Lanka, Iran… er war schon fast überall. Südamerika war jedoch noch ein weißer Fleck in seiner persönlichen Landkarte. Aber das sollte sich dieses Jahr ändern.

 

Kaum war Alexander ausgestiegen, als er auch schon von einer Horde Kinder umringt wurde. Zwar sah er nicht wie ein typischer Tourist aus, da er sich stets den jeweiligen Landessitten anpasste, aber mit seinen strohblonden Haaren fiel er dennoch auf. Die Kleinen zupften ihn am Ärmel und hielten die Hand auf. So etwas kannte er. Er wusste aber auch, wie er zu reagieren hatte. Auf keinen Fall durfte man einen von ihnen eine größere Münze oder einen Schein in die Hand drücken, weil noch mindestens dreizehn andere auch etwas wollten oder sie sich gar darum prügelten. Ignorieren war ebenso unmöglich, weil er die enttäuschten Blicke meiden wollte.

 

Sein großer Vorteil war Alexanders Sprachtalent. Er konnte neun Sprachen fließend und sechs weitere gut bis sehr gut. Mit Spanisch war das gar kein Problem, auch wenn man in Kolumbien einige andere Bezeichnungen hatte. Doch darüber hatte er sich – wie immer – informiert.

 

Alexander hob die Hand, lächelte und sang ein kolumbianisches Kinderlied. Alle Jungen und Mädchen verstummten und hörten aufmerksam zu, danach setzen sie in den Gesang ein. So etwas hatten sie noch nie erlebt. Sie waren es gewohnt, beschimpft oder bespuckt zu werden. Dieser Mann war anders. Am Ende des Liedes kam ein kleines Mädchen mit lockigen, schwarzen Haar auf ihn zu. „Wo kommst du her?“, wollte sie wissen. „Ich komme von ganz weit weg, jenseits des Meeres“, antwortete Alexander. „Ich war noch nie am Meer. Ist es da schön?“

„Wunderschön. Wartet. Ich zeige Euch Fotos.“ Alexander holte einen Stapel leicht vergilbter Aufnahmen aus seinem Rucksack und zeigte sie herum. „Das habe ich schon mal im Fernsehen gesehen!“, rief ein Junge stolz. Er war wahrscheinlich der älteste von ihnen. „Ich auch, ich auch!“, krähten fast alle. Nur das kleine Mädchen guckte traurig. Mit Tränen in Augen erzählte sie, dass sie auf der Straße lebte. Ihre Eltern starben vor vier Jahren, als sie von Soldaten erschossen wurden.

 

Maria - so hieß sie - hatte alles mit ansehen müssen. Sie hatte sich hinter einem Vorhang versteckt, als die „bösen Männer“ die Wohnung stürmten. Alexander nickte. Er wusste, dass die Regierungstruppen massenhaft unschuldige Zivilisten töteten und nicht einmal dafür belangt wurden. „Hast du etwas zu essen für mich?“, fragte Maria. Sie hatte offensichtlich wirklich Hunger. Alexander griff in seinen Rucksack und holte ein Butterbrot hervor. Sie nahm es und aß es mit Heißhunger auf. Maria lächelte. „Morgen zeige ich Dir das Meer“, flüsterte Alexander ihr ins Ohr.

 

Er ging in sein Hotel und checkte ein. Das Zimmer kostete pro Nacht 50.000 kolumbianische Pesos einschließlich Umsatzsteuer, das waren umgerechnet circa 20 Euro. Für hiesige Verhältnisse ein hoher Preis, trotz der schäbigen Ausstattung. Die Bettwäsche und die Matratze waren fleckig und rochen nach den Leuten, die zuvor dort geschlafen hatten. Das war Alexander egal. Er hatte schon schlimmere Übernachtungsplätze gehabt.

 

Unentwegt musste Alexander an Maria denken. Das immer die Kinder die Leidtragenden sind! Was musste dieses kleine Mädchen nicht alles durchlitten haben. Er bewunderte ihre Tapferkeit. An Schlaf war nicht zu denken, trotz des Jet-Lags. Alexander beschloss, in die nächste Bar zu gehen. Jetzt brauchte er dringend einen Drink – oder mehrere.

 

Das Lokal war winzig, der Barkeeper sah gelangweilt aus. Alexander setzte sich und bestellte sich einen Whisky ohne Eis. Eine junge, attraktive Frau mit langen, schwarzen Haaren näherte sich. „Darf ich mich zu Ihnen setzen?“, fragte sie in Englisch mit spanischem Akzent. Alexander antwortete auf Spanisch: „Selbstverständlich. Darf ich Ihnen einen Drink spendieren?“ Sie setzte sich, lächelte und sagte: „Das ist sehr freundlich, ich hätte gerne einen Prosecco.“ Der Barmann brachte das Gewünschte. Er guckte immer noch mürrisch. „Ich heiße übrigens Perdita. Und Sie?“

„Ich bin Alexander, meine Freunde nennen mich Alex.“

„Auf dein Wohl, Alex. Ich darf doch du sagen?“ Sie stießen miteinander an und flirteten. Er war froh, etwas Abwechslung gefunden zu haben.

 

Perdita holte einen kleinen Spiegel aus ihrer Handtasche und zog ihren Lippenstift nach. „Du bist schön genug, Perdita“, sagte Alexander und ergänzte: „Aber weißt du eigentlich, dass es hier Kinder gibt, die kein Dach über den Kopf haben und nicht wissen, wie sie etwas zu essen bekommen? Sie betteln auf der Straße!“ Unterdessen war er ziemlich angetrunken. „Natürlich weiß ich das, mir ging es als Kind ähnlich“, antwortete Perdita. Leise ergänzte sie, ohne dass es der Barkeeper hörte: „Darum kämpfen wir ja.“ Die beiden beschlossen, auf Alexanders Zimmer zu gehen, um reden zu können, weil laut Perdita „die Wände oft Ohren haben“.

 

Wanzen gab es zwar auch im Hotel, aber nur die sechsbeinigen. Perdita erzählte ihre Geschichte. Auch ihre Eltern wurden von den Regierungstruppen getötet. Allerdings war sie erheblich älter als Maria, als das geschah. Sie schloss sich den linksgerichteten Guerilla-Truppen an, um Widerstand zu leisten. Innig und mit Wut geißelte sie die Gegner an und verschwieg, dass auch ihre Leute schwere Menschenverletzungen gegen Afro-Kolumbianer und andere Gruppen begangen hatten. Als politisch aufgeklärter Mensch wusste Alexander von all diesen Geschehnissen, schwieg aber mit Bedacht.

 

Als er ihr von Maria und ihrer Sehnsucht nach dem Meer berichtete, sagte Perdita: „Lass uns zu dritt dahin fahren. So fällt es nicht auf, ich könnte sagen, dass sie meine Tochter sei. Wenn du mit deinen blonden Haaren mit einem kleinen kolumbianischen Mädchen durch die Gegend fahren würdest, könnte das falsch ausgelegt werden.“

 

Am nächsten Morgen gingen sie zu dem Platz, an dem Alexander und Maria sich kennen gelernt hatten. Sie stürmte gleich auf ihn zu, als sie ihn sah. „Heute zeige ich Dir das Meer, Maria“, verkündete Alexander. Die Kleine strahlte über das ganze Gesicht.

 

Mit Perditas klapprigen, alten Geländewagen fuhren sie in Richtung Pazifik-Küste. Die Straßen waren nur kurzzeitig asphaltiert, insbesondere nicht, als sie den Regenwald durchquerten. Nach gut zwei Stunden Fahrt stoppte der Wagen unvermittelt. Perdita holte ihr Walky-Talky hervor und sprach ein paar Worte, die Alexander nicht verstand. Ein fragender, ängstlicher Blick von Maria. „Was ist los? Warum halten wir?“, wollte Alexander wissen. „Das wirst du gleich sehen“, antwortete die junge Frau.

 

Wenige Minuten später stürmten fünf mit Maschinengewehren bewaffnete Männer heran. Sie trugen olivfarbene Kampfanzüge. Maria schrie. Mit Gewalt zogen die Leute sie aus dem Auto. Auch Alexander wurde herausgezerrt und binnen Sekunden gefesselt. Sie wurden in den Urwald verschleppt. Nach gut halbstündigem Fußmarsch kamen sie an einem Lager an. Dort warteten ein Dutzend Männer und Frauen, offensichtlich auch Kämpfer.

 

Ein etwa dreißigjähriger Mann mit einem langen Bart ging auf Perdita zu, umarmte sie und gab ihr einen Kuss. „Gut gemacht, meine Schöne“, sagte er. „Du weißt doch, dass du dich auf mich verlassen kannst, Pedro. Es war wieder leicht, aber ich denke, jetzt haben wir genug zusammen“, sprach sie. Was sie damit meinte, sollte Alexander kurz darauf erfahren. Er wurde in eine kleine Hütte verbracht. Dort waren bereits fünf weitere Gefangene, alles Touristen: ein Niederländer, ein Japaner, ein US-Bürger und ein französisches Ehepaar. Sie waren alle genervt, zumal sie sich kaum untereinander verständigen konnten. Doch Alexander konnte dank seines Sprachtalentes einiges in Erfahrung bringen. Gerard und Simone, die Franzosen, waren schon vor drei Wochen verschleppt worden, Johann, der Niederländer kurz danach. George, der Amerikaner folgte fünf Tage später. Hiroto aus Japan war erst seit acht Tagen da.

 

Nur wenig später mussten alle Gefangenen heraustreten. Pedro hielt eine lange Ansprache und wies auf den ruhmreichen Kampf seiner Genossen hin, dessen erklärtes Ziel es war, die Regierung zu stürzen. Dazu war fast jedes Mittel recht, selbst Kinder wurden nicht verschont. Nun ahnte Alexander, welches Schicksal Maria drohte. Eines Tages würde auch sie einen Kampfanzug tragen und Menschen erschießen. Der Prolog dauerte recht lange, da Alexander in vier Sprachen übersetzen musste.

 

Danach wurde eine Satelliten-Übertragungsanlage aufgestellt, an der eine Kamera angeschlossen wurde. Die Gekidnappten mussten sich davor aufstellen und Pedro wiederholte das gerade Gesagte in gekürzter Form. Es folgte eine Forderung im sechsstelligen Dollar-Bereich – für jeden einzelnen Gefangenen. Den jeweiligen Regierungen wurde zwei Wochen Zeit gegeben, das Geld zu beschaffen, ansonsten drohten Erschießungen.

 

Auf der ganzen Welt löste die Entführung Empörung aus, vermischt mit Forderungen, sich nicht erpressen zulassen. Auch bei den kolumbianischen Streitkräften, der die Bundespolizei angeschlossen war, diskutierte man das weitere Vorgehen. Rasch konnten sie den genauen Standort der Rebellen orten, es war nur noch eine Frage der Zeit, wann der Eingriff erfolgen sollte.

 

Ein Tag vor Ultimo. Fast alle der Entführten waren in Panik, insbesondere George. „Die werden uns alle töten!“, rief er immer wieder. Das beunruhigte die Anderen. Alexander versuchte, vermittelnd einzugreifen, was ihm nur bedingt gelang. Einerseits hegte er durchaus Sympathie für Perdita und ihre Genossen, andererseits missbilligte er ihre Methoden. Gewalt durch Gewalt zu bekämpfen war nicht legitim.

 

Mitternacht. An Schlaf war nicht zu denken. Alexander sah durch das kleine Fenster der Hütte. In der Ferne erblickte er ein paar Lichter, aber das konnte eine Täuschung sein. Wenige Minuten später brach die Hölle los, Regierungstruppen stürmten das Lager. Es ging ungeheuer schnell. Binnen Kurzem waren fast alle überwältigt. Die meisten von den Rebellen wurden erschossen, auch Perdita und Pedro.

 

Alle Gefangenen überlebten, zum Glück auch Maria. Sie hatte zum zweiten Mal in ihrem kurzen Leben ein furchtbares Massaker überlebt. „Ich möchte für immer bei dir bleiben, Alexander“, rief sie immer wieder. „Das wünsche ich mir auch, meine Kleine!“, hatte er geantwortet.

 

Das Wunder geschah. Maria durfte nach Deutschland ausreisen und Alexander adoptierte sie, auch wenn dazu Gesetzesänderungen notwendig waren. Die Welt wurde auf die politische Lage in Kolumbien aufmerksam, doch schon kurz danach vergaß man das wieder. Andere Ereignisse verdrängten dieses.

 

„Heute zeige ich Dir das Meer“, sagte Alexander zu Maria. Er ergänzte: „Diesmal passiert dir nichts, das kannst du mir glauben!“. In Cuxhaven war auch nicht damit zu rechnen.

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Tag der Veröffentlichung: 31.07.2013

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