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Natürlich natürlich

Als fleischfressende Pflanzen oder Karnivoren werden Pflanzen bezeichnet, die Insekten oder sogar kleine Amphibien und Säugetiere fangen und verdauen. Emil Strattner war ein leidenschaftlicher Sammler dieser Geschöpfe, um die er sich mit Inbrunst kümmerte.

 

Im Laufe der vielen Jahre hatte sich Emil eine bedeutende Sammlung der verschiedensten Gattungen zugelegt. In seinem Wintergarten waren diese sorgsam nach den jeweiligen Fallentypen sortiert. Es gab Pflanzen mit Klebefallen, Klappfallen, Reusenfallen und sogar mit Saugfallen. Für Letztere hatte sich Emil einen kleinen Teich angelegt, da dieses Prinzip nur unter Wasser funktioniert.

 

Unmengen von Insekten musste Emil beschaffen, damit seine Lieblinge nicht verhungerten. Ansonsten waren diese relativ genügsam und bedurften nicht viel Pflege, nur musste stets ausreichend Licht und Wasser vorhanden sein.

 

Dieses Hobby war das einzige, welches Emil pflegte. Er hatte auch kaum Freunde und wenig Kontakt zu seinen Kollegen. Bis auf einen Halbbruder, der in Gera wohnte, waren alle seine Verwandten verstorben. Mit Martin, seinem Bruder, telefonierte er jedoch höchst selten, zuletzt nur noch an hohen Feiertagen und an den jeweiligen Geburtstagen.

 

Es war ein wunderschöner Spätsommertag, als es unerwartet an der Haustür klingelte. Es war kurz vor der Dämmerung. Verwundert schüttelte Emil den Kopf. „Wer mag das wohl sein?“, sprach er zu sich. Er erwartete keine Lieferung, und ein nervtötender Tag, an dem diese unverschämten Gören um Süßigkeiten bettelten, war auch nicht. Emil setzte seine grüne Gießkanne ab, mit der er gerade seine Dionaea musciula (der gemeinen Venusfliegenfalle) versorgt hatte und ging gemächlichen Schrittes zur Tür. Als er diese öffnete, erblickte er eine wunderhübsche Frau mit langen, lockigen, blonden Haar. Sie mochte Mitte dreißig sein. „Guten Tag, Herr Strattner, mein Name ist Dagmar Hollmann, ich bin Ihre neue Nachbarin. Ich wollte mich nur kurz vorstellen.“ Entzückt entgegnete Emil: „Das ist aber sehr nett von Ihnen. Wissen Sie, ich bekomme ja kaum Besuch. Darf ich Sie auf eine Tasse Tee einladen?“

„Aber gerne doch. Ich liebe Tee, allerdings nicht diese aromatisierten Sorten. Für mich muss alles natürlich sein.“

„Da stimme ich voll und ganz zu. Die Natur ist vollkommen, man muss sie nicht verfremden.“

 

Dagmar sah sich gründlich in dem Haus um, nachdem sie eingetreten war. Es wenig gemütlich und eher spartanisch eingerichtet, kaum ein Bild zierte die Wände. Auch Nippes war nicht zu finden, die Einrichtung war typisch für einen Junggesellen, stellte sie fest. „Setzen Sie sich doch, ich bereite dann gleich unseren Tee zu“, sagte Emil mit einer einladenden Handbewegung. Das Sofa und die dazugehörigen Sessel waren mindestens zwanzig Jahre alt, schätzte Dagmar. Wofür mag dieser Typ nur sein Geld ausgeben, dachte sie. Ein Blick auf den Tisch brachte Aufklärung. Dort lagen Dutzende von Fachmagazinen und Chroniken über Pflanzen. Es waren jedoch keinerlei gewöhnliche Blütenpflanzen.

 

Emil bemerkte, dass seine neue Nachbarin in den Heften blätterte und sprach: „Ja, das ist nun einmal meine Leidenschaft, Frau Hollmann. Ich sammle Karnivoren oder auch Insektivoren genannt. Fleischfressende Pflanzen also. Wenn Sie mögen, zeige ich Ihnen nachher mein Gewächshaus. Möchten Sie ein wenig Gebäck zu dem Tee? Ich habe diese schottischen Butterkekse, die hat mir mein Kollege mitgebracht. Wissen Sie, ich reise so gut wie nie. Dafür fehlt mir einfach die Zeit. Außerdem muss ich mich doch um meine Lieblinge kümmern.“ Dagmar leckte sich über ihre kirschroten Lippen und lächelte. „Sehr gerne, Herr Strattner. Diese Kekse sind köstlich, ich esse sie sehr gerne. Haben Sie sonst noch eine Leidenschaft außer Ihren Pflanzen?“

 

Emil lief rot an. Er hatte wenig Erfahrungen mit Frauen, das war seinem Hobby geschuldet. Wann immer er mal eine Bekanntschaft mit dem anderen Geschlecht gemacht hatte, war diese Beziehung schon nach kurzer Zeit gescheitert, spätestens dann, wenn die Damen merkten, dass er extrem schüchtern war. Heimlich hoffte er, dass es diesmal anders lief.

 

Anstatt direkt zu antworten, murmelte er in seiner Einfalt: „Ich muss mich um den Tee kümmern, ich bin gleich wieder da.“ Emil ging in die Küche und kam nach kurzer Zeit mit einem altmodischen Gedeck zurück. Die Kanne war riesig und mit blauen Ornamenten verziert. Er stellte diese zusammen mit den Tassen auf den Sofatisch und schob dabei die Magazine beiseite, sorgsam darauf bedacht, dass diese keinen Schaden nahmen.

 

Nach dem Genuss des Tees gingen die beiden in den Wintergarten. Dagmar war angetan von der Sammlung, auch wenn sie dieses Hobby schon recht spleenig fand. Ein eigenartiger Typ, dachte sie. „Das ist eine Drosera, auf Deutsch Sonnentau. Sie fängt ihre Beute dadurch, dass sie sie mit einem klebrigen Sekret anlockt. Die Insekten bleiben dann kleben und durch die Bewegung der Fangblätter werden diese dann verdaut. Der Sonnentau ist aber nicht selten in Deutschland. Ich habe jedoch auch Arten, die wesentlich exotischer sind.“

„Das ist alles sehr interessant, aber Menschen fressen diese Pflanzen doch wohl nicht, oder?“

„Nein, das gibt es nur in Filmen. Ich muss immer lachen, wenn ich so etwas sehe. Das ist völlig hanebüchen, abseits jeglicher wissenschaftlicher Grundlage.“

„Da bin ich ja beruhigt. Ich habe schon Angst bekommen. Aber so ein starker Mann wie du hätte mich doch beschützt, oder? Ich darf doch du sagen?“

 

Erneut lief Emil rot an und stotterte: „Ja, äääähhh, nanatürlich, Dagmar. Gerne.“ Um seine Schüchternheit zu verbergen, ging er zu seinem Teich und holte eine schlauchförmige Pflanze hervor, die er als Heliamphora vorstellte. Es folgte ein längerer Monolog über diese Gattung. Dagmar heuchelte Interesse. Ihre wahre Begierde war eine völlig andere.

 

Vier Wochen später. Emil und Dagmar sahen sich nun täglich, was Emils Hobby nicht sehr hilfreich war. Seit Jahren war Emil nicht im Theater oder im Kino gewesen, nun nahm er sich dafür Zeit, dann Dagmar wollte das so. Als Dagmar allerdings vorschlug, gemeinsam zu joggen, lehnte er das energisch ab.

 

Anfangs sträubte er sich auch dem Sexuellen, doch dann ergab er sich dem natürlichen Drang. Dagmar erwies sich dabei als Granate im Bett, wohingegen Emil eher einer Platzpatrone glich.

 

Trotz des eher spärlichen Talentes von Emil stellte Dagmar weitere sieben Wochen später fest, dass sie schwanger war. Nachdem sie es ihrem Freund offenbarte, war dieser zunächst begeistert. Das änderte sich allerdings schlagartig, als Dagmar mit dem Zetern begann, weil sie die Fliegen und die Mücken nervten, die dem Gewächshaus des Öfteren entkamen. Richtig wütend wurde Emil, nachdem er entdeckte, dass Dagmar heimlich seine Lieblingspflanze, eine Sarracenia psittacina (Papageien-Schlauchpflanze) herausgerissen und in der braunen Tonne entsorgt hatte. Das war eine Aufregung, wie sie Emil noch nie erlebt hatte. Sein energischer Protest entgegnete sie wenig freundlich mit den Worten: „Du musst dich entscheiden. Entweder dieses verdammte Grünzeug oder ich.“

Emil entschied sich. Er bestrich die schottischen Butterkekse mit Thallium, einem schnell wirkenden Gift, das relativ geschmacksneutral war. Dagmar starb binnen weniger Sekunden.

 

„Ja, meine Lieblinge, jetzt habe ich wieder ausreichend Zeit für Euch. Nie wieder werde ich Euch vernachlässigen“, sagte Emil, als er den Wintergarten betrat und streichelte liebevoll seine Drosophyllum lustianicum, einer Pflanze, die als einer der wenigen der Gattung der Karnivoren in Wüstengebieten gedieh. „Ausreichend Futter habt Ihr auch für die nächsten Monate – auch wenn diese Kost etwas ungewohnt ist.“ Er lächelte, als er an Dagmars Frage dachte, ob es auch menschenfressende Pflanzen gab.

 

 




 

 

 

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Bildmaterialien: www.echo-muenster.de
Tag der Veröffentlichung: 31.05.2013

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