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Endlose Trauer

 

 

 

Nach diesem schrecklichen Vorfall vor einem halben Jahr war ich innerlich zerbrochen. Leonie, meine geliebte Tochter war gestorben und ich war Schuld daran. Na ja, nicht direkt, aber ursächlich schon. „Es gibt keine Zufälle, alles im Leben ist vorbestimmt.“ - dieses Motto hatte immer mein Leben bestimmt. Welch bittere Ironie, dass es auch auf den Menschen zutreffen sollte, den ich am meisten liebte.

 

Doktor Teichmann sollte mir helfen, meinen Kummer zu überwinden. Er war der beste Psychologe in der Stadt, normalerweise musste man fast ein Jahr warten, um ein Termin bei ihm zu bekommen. Durch besondere Beziehungen meinerseits gelang es mir, bevorzugt behandelt zu werden und schon eher von ihm empfangen zu werden.

 

„Herr Kramer, setzen Sie sich bitte!“, sprach Teichmann und lächelte dabei. Er war circa sechzig Jahre alt und hatte volles, leicht graues Haar. Eine Nickelbrille mit kreisrunden Gläsern, die halb herunter hing, ließ ihn sympathisch wirken. Nachdem ich Platz genommen hatte, fuhr der Doktor fort: „Man hat mir gesagt, dass Sie unter schweren Selbstvorwürfen leiden, Herr Kramer. Das ist nicht gut. Sie werden daran zerbrechen. Depressionen sind schlimm, man wird davon krank, auch körperlich. Ich werde versuchen, Ihnen zu helfen. Aber Sie müssen es auch wollen. Ansonsten funktioniert das nicht.“

„Ich will es, Herr Doktor. Sehen Sie, ich habe jetzt seit sechs Monaten kaum eine Nacht geschlafen – und auch tagsüber muss ich immer an dieses Unglück denken. Leonie ist immer bei mir – in meinen Gedanken. Sie war ja noch so jung, als sie sterben musste. Und ich trage die Verantwortung, ich hätte besser auf sie aufpassen müssen.“ Ich brach in Tränen aus. Immer noch konnte ich nicht darüber sprechen.

 

„Sind Sie schon einmal hypnotisiert worden, Herr Kramer? Viele meiner Kollegen halten das für Firlefanz, aber ich habe große Erfolge damit erzielt. Vielleicht fällt es Ihnen dann leichter darüber zu sprechen. Gewissermaßen ist dann Gestern für Sie ein neuer Tag. Das ist natürlich nur symbolisch gemeint. Wollen wir das versuchen?“ Ich zuckte mit den Schultern. Vor vielen Jahren hatte ich mir mal eine Show angesehen, wo die Leute hypnotisiert worden sind. Sie wurden auf die Bühne geholt und mussten lächerliche Dinge tun. Ein Mann gackerte wie ein Huhn, wenn man die Zahl Acht rief. Eine junge Frau begann sich auszuziehen, sobald der Moderator in die Hände klatschte. Meine Frau und ich waren gar nicht begeistert von diesem Unsinn und verließen die Veranstaltung in der Pause.

 

„Ich kann verstehen, dass Sie misstrauisch sind, Herr Kramer. Aber ich garantiere Ihnen, dass es Ihnen nicht schaden wird. Legen Sie sich auf das Sofa und entspannen Sie sich.“ Ich folgte seiner Anweisung, die Couch war wirklich bequem. Herr Teichmann holte ein silbernes Pendel aus seiner Jackentasche und hielt es vor meinen Augen. Bis dahin war es ähnlich wie in der Show. „Herr Kramer, Sie werden jetzt ganz müde. Vertreiben Sie alle böse Gedanken, die Sie belasten. Denken Sie an einen warmen Sommertag. Sie liegen auf einer Wiese. Die Vögel zwitschern, Schmetterlinge fliegen umher, die Blumen duften herrlich...“

 

Es klappte tatsächlich. Die Umgebung um mich herum verschwand, ich lag stattdessen auf der Wiese, die Wärme der Sonne spürte ich auf meiner Haut. „Liebling, möchtest Du noch etwas trinken?“ Es war die Stimme meiner Frau. Sie lächelte. Von der Ferne drang Kinderlachen zu mir. Ich erkannte die Stimme genau. „Leonie, da ist Leonie!“, rief ich aus. „Ja, natürlich ist da Leonie. Wo soll sie sonst sein?“, antwortete Dagmar. Wie auf Kommando stürmte meine geliebte Tochter zu mir. Blonde, lockige Haare – sie sah genau so aus, wie ich sie in Erinnerung hatte. „Papa, der Papa!“, rief sie aus. Sie fiel mir um den Hals.

 

Ich erwachte. „Es hat tatsächlich funktioniert, Herr Doktor. Ich habe meine kleine Leonie wieder gesehen. Nicht nur das, ich habe sie sogar gespürt. Das hätte ich nie für möglich gehalten. Wie haben Sie das gemacht?“

„Ich habe gar nichts gemacht. Oder sagen wir: nicht viel. Es hat geklappt, weil Sie es wollten. Für heute ist es aber genug. Gehen sie nach Hause. Reden Sie mit Ihrer Frau über das, was sie eben erlebt haben. Nächste Woche sehen wir uns wieder.“

 

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Eine Woche später. Diesmal ging ich voller Erwartungshaltung in die Praxis. „Wie geht es Ihnen, Herr Kramer? Sie sehen schon viel besser aus als letztes Mal.“

„Ich fühle mich wirklich besser. Natürlich denke ich noch immer an meine Kleine. Aber die negativen Gedanken sind weniger geworden.“

„Das freut mich zu hören. Sind Sie bereit für die nächste Rücksetzung?“

„Das bin ich. Kann ich mir den Tag aussuchen, an dem ich zurückkehren möchte?“

„Ja, das geht, woran dachten Sie dann?“

„An Leonies fünften Geburtstag. Das war drei Monaten vor ihrem Tod.“

 

Ich legte mich wieder auf das Sofa. Herr Teichmann holte das Pendel hervor. „Sie entspannen sich jetzt, Herr Kramer. Lassen Sie die negativen Erinnerungen verschwinden, vertreiben Sie sie. Heute ist der fünfte Geburtstag Ihrer Leonie. Sie hat alle ihre Freundinnen eingeladen, es ist ein großes Gejohle...“ Und wieder verschwand alles um mich herum. Ich war in meinem Haus und schaute durch das Verandafenster auf den Garten. Der Clown, den wir engagiert hatten, trieb seine Späße mit den Mädchen. Gerade hatte er aus einem Luftballon einen Dackel geformt und ihn meiner Tochter geschenkt. Sie war überglücklich. Dagmar kam von hinten auf mich zu und legte ihre Hand auf meine Schulter. „Schatz, das war eine wunderbare Idee von dir mit dem Clown. Schau, wie glücklich Leonie ist.“ Das war sie. Ich spürte es genau.

 

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Viele Sitzungen folgten. Teichmann versetzte mich immer wieder in die Vergangenheit. Es waren aber stets nur glückliche Abschnitte von Leonies Leben: ihr erstes Weihnachten, das sie bewusst erlebte, der Tag, an dem sie ihre Katze bekam, unser erster Urlaub, der uns nach Portugal führte. Aber der Doktor hatte mich darauf eingestellt, dass ich auch an jenem Tag zurückkehren musste, als das Unglück geschah.

 

„Sind Sie soweit, Herr Kramer? Es ist wichtig, dass Sie es selber wollen. Das wird heute nicht schön, das dürfte klar sein. Es muss aber sein. Sonst werden Sie Ihre Depressionen nie überwinden. Legen Sie sich auf die Couch, inzwischen kennen Sie es ja.“ Danach entschwebte ich zu jenen Tag, der der furchtbarste in meinem Leben war. Es war früher Morgen, als ich die Küche betrat. Da war der Abfall, den meine Tochter längst nach draußen bringen sollte. Gleich würde die Müllabfuhr kommen. „Leonie, komm bitte mal hierher!“, rief ich leicht wütend. Sie gehorchte. „Leonie, du bringst jetzt sofort den Müll nach draußen. Das solltest du schon vor einer Stunde machen. Beeil dich, sonst wird er nicht mehr mitgenommen.“, sagte ich hier. Sie nahm den Sack und lief nach draußen durch die Gartentür. Sekunden später hörte ich ihn – den dumpfen Aufschlag. Ich rannte auf die Straße. In dem Wendehammer erblickte ich das Müllauto und meine Tochter. Sie lag darunter – blutüberströmt.

 

Schweißgebadet und tränenüberströmt wachte ich auf. „Sie ist tot. Sie ist tot. Alles ist nur meine Schuld!“, rief ich aus. Ich erzählte wie üblich von meinen Erlebnissen während der Rücksetzung. „Auch wenn es noch so schlimm für Sie war, Herr Kramer. Sie trifft nicht wirklich eine Schuld an dem Unfall. Reden Sie sich das nicht ein. Leben Sie nicht länger in der Vergangenheit. Sie können das Schicksal nicht ändern. Was geschehen ist, ist geschehen.“ Ich nickte. Er hatte ja Recht.

 

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Acht Monate später ging es mir so gut, dass ich wieder ein einigermaßen normales Leben führen konnte. Meine Trauer war immer noch endlos, aber ich machte mir weniger Selbstvorwürfe. Leonie werden meine Frau und ich aber niemals vergessen, auch wenn wir übernächsten Monat ein Kind haben werden. Es wird ein Junge.

Impressum

Bildmaterialien: www.vebidoo.de
Tag der Veröffentlichung: 10.03.2013

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