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Die große Reise

 

 

November 2012. Viele Bewohner der Erde waren der Hysterie verfallen. Sie glaubten den Untergangsprognosen und ängstigten sich. Gerade diejenigen unter ihnen, die eher schwach im Geiste waren, waren voller Panik. Und auch die Leichtgläubigen stürzten sich auf alles, was auch nur annähernd Rettung versprach.

 

Als mir in dieser Zeit einer jener gelb-grünen Zettel in die Hände fiel, las ich ihn neugierig durch. Ich glaubte nicht an diesem ganzen Humbug und konnte von mir sagen, dass ich relativ intelligent war und wusste, wie die Welt funktionierte. Auf diesen Zetteln wurde detailliert geschildert, dass unser Planet tatsächlich am 21.12.2012 untergehen würde. Aber es würde eine Rettung geben, aber nur für neuntausend von uns. Wir sollten uns in der Nacht vom 20. auf den 21.12.2012 an bestimmte kleine Orte begeben. Von dort wurden wir in kleinen Gruppen abgeholt – in Raumschiffen. Diese würden sich danach im Erdorbit sammeln und dann die große Reise antreten zu einem erdähnlichen Planeten, der etwa zwanzig Lichtjahre entfernt war, ein kosmischer Nachbar sozusagen. Das alles war in einfacher Sprache geschrieben und entbehrte aber jeder wissenschaftlichen Logik.

 

Dennoch machte mich das Ganze neugierig. In dem Zettel war eine Internetseite angegeben, wo man sich anmelden musste. Nicht jeder wurde genommen, das stand dort. Man durfte nicht jünger als fünfzehn und nicht älter als fünfunddreißig sein, musste gesund sein und möglichst sportlich. Intelligenz war auch gefragt, allerdings waren die Fragen, die beantwortet werden mussten, außerordentlich primitiv. Jeder Viertklässler hätte sie mit Leichtigkeit beantwortet. Einfachste mathematische Formeln waren zu lösen. Ich machte mir den Spaß, alles auszufüllen, und baute bei den Quizfragen absichtlich etliche Fehler ein. Mal sehen, was passieren würde. Das alles konnte nur ein riesengroßer Schwindel sein. Immerhin wurde kein Geld verlangt. Aber vermutlich stand ein riesengroßer Witzbold dahinter, und die Leute wurden alle verarscht.

 

Zu meiner großen Überraschung erhielt ich am 12.12.2012 eine E-Mail, in der mir mitgeteilt wurde, dass ich einer derjenigen war, die gerettet werden sollten. Ich sollte mich in der Nacht der bevorstehenden Apokalypse nach Bomlitz begeben, einem kleinen Ort in der Lüneburger Heide. Dort sagten sich Fuchs und Hase gute Nacht, ich kannte Bomlitz aus meiner Bundeswehrzeit. Ich wunderte mich, warum ich trotz meiner vielen falschen Antworten genommen wurde – das war schon eigenartig. Jetzt wollte ich den Spaß aber bis zum Ende mitmachen.

 

In Bomlitz angekommen, parkte ich mein Auto an der Landstraße und begab mich zu der beschriebenen Stelle. Es waren schon gut zwei dutzend Leute da, ich war folglich einer der letzten. In der Mail stand, dass die Gruppenstärke jeweils dreißig betrug. Die Gruppen trafen sich verteilt, an dreihundert Orten der Erde, fast jede Nation war vertreten. Die Leute sprachen aufgeregt miteinander in gespannter Erwartung dessen, was passieren würde. Kurz vor Mitternacht trudelten die letzten ein und gesellten sich zu uns. Sie waren alle jung und kräftig, allerdings wie von mir befürchtet, auch nicht besonders schlau. Das konnte man aus den Gesprächen schließen, die sie führten. Ich hielt mich bedeckt.

 

23.59 Uhr. Am Horizont tauchte tatsächlich ein Raumschiff auf, wenn hier jemand diesen Scherz durchspielte, dann wirklich bis zum Schluss. Derjenige hatte das Ganze meisterhaft initiiert. Die Menge schrie auf und jubelte. „Unsere Rettung, unsere Rettung“, rief eine junge rothaarige Frau begeistert. Die anderen stimmten in den Chor mit ein. Ich hielt mich zurück. Wie lange würde dieser Schabernack noch andauern?

 

Das kreisrunde Raumschiff steuerte auf uns zu und blieb hoch über uns stehen. Es war in rot-gelbem Licht getaucht, und nicht besonders groß. Nun, für dreißig Leute würde es reichen, dachte ich schelmisch. Ein Summen ertönte, der Boden des UFOs öffnete sich. Ein Lichtkegel erfasste uns. Jetzt wird sich gleich der Spaß aufklären, waren meine weiteren Gedanken. Das Summen wurde lauter.

 

Zu meiner großen Verwunderung befanden wir uns Sekunden später tatsächlich im Innern des Schiffes. Der Boden schloss sich. Es waren dreißig Sitze an Bord, alles perfekt organisiert. Ein jeder von uns setzte sich. Sollte das tatsächlich ein Weltraumschiff von Außerirdischen sein und ich mich geirrt haben? Ich war verblüfft und fasziniert zugleich.

 

Das Schiff stieg mit einer ungeheuren Geschwindigkeit in das All empor, uns machte die Beschleunigung aber nichts aus. Nach kurzer Fahrt konnten wir durch die Fenster hunderte Schwesterschiffe erkennen, die gemeinsam dem Ziel entgegenstrebten. Es war ein riesiges UFO, das in der Umlaufbahn des Mars geparkt war. Das große Schiff öffnete eine Luke und nahm die kleinen Transportschiffe auf, eines nach den anderen.

 

Wir wurden ohnmächtig. Als ich wieder erwachte, fand ich mich in einer kleinen, aber sehr schönen Kabine wieder. Alles war in angenehmen Pastelltönen gehalten. An einigen Stellen des Zimmers standen kleine, merkwürdige Pflanzen, sie ähnelten Kakteen, jedoch nur sehr entfernt. Angenehme Musik ertönte. Ich hatte Durst. Kaum hatte ich das gedacht, öffnete sich eine kleine Klappe an der Wand. Dort fand sich ein Becher mit frischem, klarem Wasser.

 

Eine Stimme ertönte. Sie klang weich und angenehm: „Willkommen Erdlinge. Ihr seid auf einer großen Reise, das wisst ihr ja schon. Euer Ziel ist unsere Heimat, ein Planet der nach Eurer Rechnung zwanzig Lichtjahre entfernt ist. Ihr nennt ihn Gliese 581 c. Er befindet sich im Sternbild Waage und ähnelt ziemlich Eurem Planeten. Wir haben natürlich einen anderen Namen dafür, aber den könntet ihr nicht aussprechen. Unsere Welt wird Euch vertraut vorkommen, die Vegetation und das Klima sind ähnlich, auch wenn unsere Meere wesentlich kleiner sind. Wenn Ihr Euch wundert, dass Ihr unsere Sprache versteht: wir haben Euch allen einen Chip eingepflanzt, der das ermöglicht. Damit könnt Ihr Euch auch untereinander verständigen, denn Ihr sprecht ja viele Sprachen.“

 

Ich war von den Socken. Das war gar kein Fake, das war echt. Ich kannte diesen Planeten, er umkreiste seine zwergenhafte Sonne in rasender Geschwindigkeit, ein Jahr dauerte nur dreizehn Erdentage. Sein Klima war tatsächlich erdähnlich: etwa Minus drei bis vierzig Grad plus. Allerdings vermuteten unsere Wissenschaftler, dass er eine Seite hatte, die stets der Sonne zugewandt war, auf der anderen war dementsprechend ewige Nacht. Gliese 581 c war einer der ersten „Super-Erden“, die unsere Forscher entdeckt hatten. Auch die beiden Nachbarplaneten Gliese 581 b und d versprachen Leben, so wie wir es kannten. Wilhelm Gliese war der Namensgeber dieser Welt, wie auch Hunderte anderer, die in seinem Katalog aufgeführt waren.

 

Die Stimme fuhr fort: „Unsere Reise wird etwa sechs Wochen dauern, nach Eurer Zeitrechnung. Bis dahin versuchen wir es so angenehm wie möglich für Euch zu machen. Wir haben Eure Welt genau erforscht, und kennen Eure Vorlieben.“

 

Das war nicht übertrieben. Es gab wirklich alles an Bord. Das Essen war schmackhaft, wenn auch rein vegetarisch, was mich nicht störte. Zahlreiche Sportgeräte, Filmtheater, Bars, Ruheräume waren im Angebot – wunderschön. Alle waren begeistert. Die Gliesianer hatten sogar an Räume gedacht, in denen die Anhänger der vielen verschiedenen Religionen ihren Glauben huldigen konnten. Konflikte waren verpönt, alles war friedlich. Offenbar hatte man uns mit Sorgfalt ausgewählt. Das machte mich nachdenklich. Warum hatte man nur junge Menschen ausgewählt, die geistig nicht besonders aktiv waren? Dieses Vorurteil von mir bestätigte sich, als ich sah, welche Filme die anderen guckten. Primitive, anspruchslose Action-Streifen machten das Hauptangebot aus, wissenschaftliche Dokumentationen waren kaum zu finden. Das gleiche galt für die Bücher, die sie uns anboten. „Robinson Crueso“ und „Tarzan“ waren schon das Höchste der Gefühle.

 

Frustriert begab ich mich in eine der Bars und bestellte mir einen starken Cocktail am Automaten. Das bekamen die ganz gut hin, auch wenn die Früchte fremd und exotisch schmeckten. Aber Alkohol ist geschmacklich überall gleich – auf jeder Welt. Ich erblickte eine hübsche, junge Blondine und setzte mich zu ihr, nachdem sie es gestattet hatte. Sie hieß Sarah und war Amerikanerin. Sarah kam aus New York – und war anders als die anderen. Schnell stellte sich heraus, dass sie auf die gleiche Weise hier hineingeraten war wie ich. Aus Neugier hatte sie viele Fragen bei den Tests falsch beantwortet. „Die sind alle so dumm hier. Mit keinem kann über etwas Vernünftiges sprechen. Die halten Nietzsche und Schopenhauer für Football-Spieler“, stellte sie fest. „Um so schöner, dass wir zueinander gefunden haben, Sarah.“

„Das finde ich auch, Bernhard.“ Sie lächelte mich an.

 

Von nun an verbrachten wir fast die ganze Zeit zusammen – Tag und Nacht. Wir erzählten uns von unseren Heimatländern und unseren Vorlieben, unseren Ängsten und unseren Erwartungen von Gliese 581 c. Den grässlichen Verdacht, den wir beide hatten, behielten Sarah und ich für uns, vorerst.

 

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10.02.2013. Unsere Reise näherte sich dem Ende. Aus den Fenstern konnten wir Gliese 581 c erblicken, der Planet war wirklich sehr erdähnlich. Allerdings machte der Meeresanteil nur etwa ein Drittel aus, das hatten die Außerirdischen ja angekündigt. Alle waren in gespannter Erwartung, von Misstrauen war nicht viel spüren – außer bei Sarah und mir.

 

Nach der Landung erblickten wir das erste Mal die Bewohner dieses Planeten. Sie waren uns nicht unähnlich, allerdings waren sie viel kleiner und sie hatten größere Köpfe. Ihre Haut war silberfarben und schimmerte im Sonnenlicht.

 

„Bewohner der Erde, willkommen auf dieser Welt. Wir freuen uns, dass Ihr alle gut angekommen seid. Unser Planet wird Euch gefallen, es ist wunderschön hier. Ihr werdet bemerken, dass unsere Atmosphäre erheblich mehr Sauerstoff als Eure Erde hat. Das liegt daran, dass die Landmasse größer ist und es daher viel mehr Pflanzen gibt. Wir hätten Probleme Eure Luft zu atmen, zumal Ihr sie durch Eure Fabriken und Eure Fahrzeuge vergiftet. Das haben wir vor langer Zeit auch getan. Bei uns gibt es auch keine Kriege, keinen Hunger und keine Armut mehr. Dieses ist überstanden. Gestattet uns nun, Euch zu einem Festmahl einzuladen. Erwartet jedoch nicht, dass wir Euch Fleisch servieren. Das ist etwas, was wir seit Jahrhunderten unterlassen, wie Ihr vielleicht bereits an Bord des Raumschiffs bemerkt habt.“ Die Worte sprach der Gliesianer, der aus der Gruppe hervorgetreten war. Schade, ich hatte erwartet, dass sie durch Gedankenübertragung kommunizieren.

 

Wir wurden in mehrere Busse verbracht, die räderlos waren. Nachdem wir eingestiegen waren, erhoben sie sich einige Zentimeter vom Boden. Kein Fahrgeräusch war zu hören, nicht einmal ein Summen. Die Landschaft zog an uns vorbei, es war ein Paradies. Riesige Bäume säumten den Fahrweg, auf denen zahlreiche pelzige, affenähnliche Wesen saßen. Allerdings waren keine Vögel zu erblicken, offenbar war diese Welt doch nicht in jeder Beziehung wie die unsere. Sarah, die neben mir saß, flüsterte mir zu: „Liebling, ich bin immer noch misstrauisch. Wenn diese Wesen so einen wunderbaren Planeten haben, wozu haben sie uns dann hergeholt? Nur aus Mitleid über unsere angeblich zerstörte Erde wohl kaum. Daran glaube ich nicht. Das ist alles eine Finte.“ Ich nickte, sie sprach genau das aus, was ich dachte.

 

Nach gut zehn Minuten stoppten die Fahrzeuge vor einem prächtigen Bau. Der war schon imposant. Wir stiegen aus und gingen in das Gebäude. Man führte uns in einen Saal, in dem das Dinner serviert werden sollte. Es schmeckte vorzüglich, ich vermisste nichts. Auch gab es ein weinähnliches Getränk, das jedoch von gewöhnungsbedürftiger Farbe war. Lila mochte ich eigentlich gar nicht.

 

Derjenige, der uns begrüßt hatte, erhob sich und sprach: „Unsere Welt ähnelt der Eurigen, auch wenn Ihr in vielen Dingen noch lernen müsst. Wir verabscheuen Gewalt, viele Erdlinge leider nicht. Seit Jahrhunderten haben wir Euch beobachtet, Hass und Gewalt prägen Eure Gesellschaft, und Ihr mordet Tiere, um sie zu verspeisen. Kriege wurden bei Euch ausgefochten – oft aus religiösen Gründen. Auch wir glauben an einen Gott, der unsere Welt erschaffen hat. Aber unsere Religion verbietet Gewalt. Bei uns gilt nicht: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Das ist unrecht. Darum ist Eure Welt auch vernichtet worden, es war kein Asteroid, der einschlug, die Menschheit hat es selbst getan. Die Christen unter Euch sagen: Selig seien die, die schwach sind im Geiste. Darum wurdet Ihr auserwählt, der Zerstörung Eures Planeten zu entkommen und wurdet gerettet.“

 

Ich sah Sarah an. Augenscheinlich hatten wir uns geirrt. Diese Wesen hatten uns tatsächlich gerettet. Moralisch waren sie uns überlegen, wohl war. Die Menschheit hätte noch Jahrhunderte gebraucht, um sich diesem anzunähern. Aber vermutlich hätten wir es nie geschafft.

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Bildmaterialien: www.wikipedia.org
Tag der Veröffentlichung: 16.01.2013

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